Donnerstag, 4. April 2013

Das Wetter an Karfreitag - Predigt über Mt 27,33-54

Liebe Gemeinde,

reden wir über das Wetter.
Vielleicht ist der Karfreitag kein guter Tag dafür. An Karfreitag erwarten wir, wir Evangelischen sowieso, dass es in die Tiefe geht. Und wenn wir im Alltag über das Wetter reden, dann tun wir das ja meistens, um genau das zu vermeiden. „Ganz schön kalt geworden, was?“ sagen wir, wenn wir sonst nichts zu sagen haben, wenn die Gesprächsthemen ausgehen oder wir keine Lust auf ernsthafte Gespräche haben. Allerdings: So denken wir, so denkt der moderne Stadtmensch, der höchstens dann sorgenvoll in den Himmel guckt, wenn ein Regenschauer unsere Freizeitplanung bedroht.

Für die Menschen, die die Bibel geschrieben haben, war das anders, und das kreiden wir ihnen ja manchmal als Aberglauben an: In der gesamten Antike spielte das Wetter eine wichtige Rolle, weil sich in ihm, vor allem in Wetterumschwüngen, Gott selbst offenbart.
Es lohnt sich also, in der Bibel aufs Wetter zu gucken, vor allem dann, wenn es sich ändert. Wenn wir über das Wetter am ersten Karfreitag reden, so, wie es Matthäus in seinem Evangelium beschreibt, dann reden wir gleichzeitig über Gott, und dann erscheint vielleicht manches in der Szene von der Kreuzigung Jesu in einem anderen Licht.

Die Szene spielt auf dem Berg Golgatha, der Schädelstätte, dem Hinrichtungsort vor den Toren Jerusalems. Unter Beschimpfungen und Spott haben sie Jesus dorthin geführt und ihn gekreuzigt. Er hängt dort, am antiken Galgen, er lebt und atmet und leidet, denn der Tod am Kreuz ist ein langsamer. Und hier ändert sich das Wetter zum ersten Mal:

Und von der sechsten Stunde an war eine Finsternis über das ganze Land bis zu der neunten Stunde.

Zwischen zwölf Uhr mittags und drei Uhr nachmittags wird es dunkel, nicht allein über dem Berg, der für Jesus und für viele andere den Tod bedeutet, sondern über dem ganzen Land, vielleicht sogar über der ganzen Welt. Wir wissen nicht, was für eine Finsternis das ist – eine Sonnenfinsternis kann es nicht gewesen sein, denn: Das Pessachfest, das Jüdinnen und Juden auch in dieser Woche feiern, fällt immer auf einen Vollmond, und bei Vollmond kann es keine Sonnenfinsternis geben. Ob das den Menschen um Jesus herum bekannt war oder denen, den Matthäus sein Evangelium erzählt, wissen wir nicht. Vielleicht ahnt, wer auf Golgatha in den Himmel guckt, einfach nur, dass hier etwas geschieht, das so ungerecht und brutal ist, dass sogar die Sonne ihr Gesicht verschleiert, und vielleicht ahnt man auch, dass das Geschehen hier in seiner Bedeutung weit über ihren Ort und ihre Zeit hinausgeht.
Möglicherweise kommen einem Zeitzeugen auf dem Berg Golgatha anderes in den Sinn: Im nur wenig späteren Judentum wird erzählt: Wenn ein König aus Fleisch und Blut trauert, dann löscht er die Lampen aus, und wenn Gott trauert, dann werden Sonne und Mond schwarz und der Glanz der Sterne verlischt.
Gott trauert am Karfreitag. Diese Einsicht ist mir wichtig, liebe Gemeinde, denn sie hilft mir, hinzusehen und den Anblick auszuhalten: Gott bleibt nicht unberührt von dem Leiden, was in der Welt passiert. Und vielleicht liegt in diesem Dunkel am Nachmittag des ersten Karfreitags auch die Antwort auf die Frage Jesu, diese schmerzhafte, offene Frage, die sich vor ihm und nach ihm Menschen gestellt haben und auch heute noch stellen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Es gibt im Alten Testament eine kleine Spur, eine Andeutung, wenn Menschen fragen: Wo ist Gott?

Es gibt an einige wenige Stellen, da ist die Rede von einem „Dunkel, in dem Gott ist“, oder es heißt gleich ganz direkt: „Gott wohnt im Dunkeln“.
Gott wohnt im Dunkeln. Das ist erst einmal keine einseitig erfreuliche Nachricht: In diesem Satz spiegeln sich Erfahrungen, dass Gott manchmal verborgen bleibt, unsichtbar, ungreifbar, unheimlich. Das heißt aber auch: An den schwärzesten Tagen der Menschengeschichte, in dem Schatten, der sich über unsere Beziehungen legt, mit den finstersten Abgründen unserer eigenen Gefühle und Gedanken – bei all dem sind wir nicht allein, inmitten des Dunkels wohnt Gott, ist schon da, wenn wir ins Dunkel geraten.

Liebe Gemeinde, das löst nicht alle Fragen, es ist auch keine befriedigende Antwort, die man Außenstehenden entgegenhalten kann, wenn sie halb ironisch und halb triumphierend fragen, warum Gott dem Mann am Kreuz, dem Menschen in seinem Leid nicht hilft. Es ist, wie gesagt, nur eine Spur im Alten Testament, aber mir öffnet sie die Augen für vielleicht das Einzige, das den Karfreitag erträglich macht: Denn ob die Finsternis zwischen der sechsten und der neunten Stunde nun ein Zeichen von Gottes Trauer ist, oder von Gottes unbegreiflichem, aber verbürgtem Da-Sein ist: Auch der Karfreitag ist keine gottlose Zeit und der Schädelberg Golgatha ist kein Ort, an dem Gott die Menschen sich selbst überlässt.
Wir kennen die Geschichte, wir wissen, wie sie weitergeht: Jesus schreit und stirbt. Und die Welt bleibt nicht unberührt davon:

Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke, von oben an bis unten aus.

Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, ob sie den kleinen Ortswechsel bemerkt haben? Wie eine Kamera zoomt der Erzähler weg vom Hinrichtungsort außerhalb der Stadt hinein in ihre Mitte, ihr Zentrum, ihr Herz, dort, wo der Tempel steht. Die Orte, an denen der Tod zuhause ist, verlagert man ja oft an den Rand, verbannt sie aus dem öffentlichen Leben. Das ist bei Hinrichtungsstätten, war lange Zeit auch bei Friedhöfen so. Das hat sicherlich hygienische Gründe, aber ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass man sich den Tod vom Leib halten will. Bei uns liegen Friedhöfe in der Regel mitten in der Stadt, aber auch wir schaffen es zumindest streckenweise, den Tod aus dem täglichen Leben auszublenden: Zwischen 75 und 90% aller Menschen sterben in Deutschland in Institutionen, in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder Hospizen, Orte, die man verlassen, bei denen man die Tür hinter sich zu machen kann.
Dieser Blickwechsel am Karfreitag zeigt, dass das auf Dauer nicht geht. Was draußen vor der Stadt passiert, das betrifft auch das Stadtzentrum, und wenn außerhalb des eigenen Blickfeldes Menschen am Unrecht der Welt leiden, dann betrifft das auch die religiösen Institutionen. Der vielstimmige Schrei menschlichen Leidens durchdringt Tempel-, Kloster- und Kirchenmauern und stört die religiöse Andacht, auch unsere – Gott sei Dank.
Was passiert da genau im Tempel? Der Vorhang zerriss in zwei Stück von oben an bis unten aus, also einmal mitten durch.
Wer im Tempel steht und das sieht, erkennt vielleicht die Geste, die dahinter steckt: Es ist ein Zeichen der Trauer, noch heute schneiden sich im Judentum die engsten Angehörigen eines Verstorbenen einen Schlitz in ihre Kleidung, ein Symbol für den Riss, den das eigene Leben bekommt, wenn ein Mensch, der einem nahe steht, stirbt. Wenn der Vorhang im Tempel zerreißt, dann zerreißt Gott selbst seine Kleider. Wieder: Gott trauert.
Aber der zerrissene Vorhang im Tempel bedeutet noch etwas anderes. Denn der Vorhang hing ja nicht nur zur Dekoration herum, sondern hatte eine Funktion:

Im Jerusalemer Tempel diente der Vorhang dazu, den ganzen Rest des Gebäudes vom Allerheiligsten abzutrennen, von diesem kleinen, dunklen Raum, in dem die Bundeslade steht und wo man sagte: Hier ist Gott in ganz verdichteter und fast greifbarer Weise anwesend.
Wenn Gott an Karfreitag diesen Vorhang zerreißt, dann ereignet sich aufs Neue, was man vielleicht als den grundlegendsten Gedanken von Juden- und Christentum bezeichnen könnte: „Unser Gott kommt und schweigt nicht“, er lässt sich nicht im Tempel festhalten, einsperren und bezähmen, wenn auf dem Schädelberg vor der Stadt sein Sohn zum Opfer wird.
Euer Gott kommt und schweigt nicht. Nichts anderes erkennen die wetter- und bibelkundigen Zuschauer auf Golgatha auch bei den letzten Wetterphänomenen, die Jesu Kreuzigung begleiten:

Und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen.

Die Erde erbebt, sie wird in den Grundfesten erschüttert von dem, was auf Golgatha passiert. Aber Erdbeben und zerspringende Felsen, das sind in der Bibel auch immer wieder sichtbare Anzeichen des Zorns und der Trauer Gottes, mehr noch: Es sind typische Begleiterscheinungen, wenn Gott selbst auf den Plan tritt und, bildhaft gesprochen, mit dem Fuß aufstampft: Er schaut die Erde an, so bebt sie; er rührt die Felsen an, und sie rauchen. Das sind erschreckende Bilder, das sind Naturkatastrophen, das passt nicht zu dem „lieben Gott“, den wir so gern heraufbeschwören, den wir gerne in Beschlag nehmen und dem wir unterstellen, dass er alles, was wir auf der Erde so treiben, schon irgendwie gut findet und mitmacht. Aber diese Vorstellung zerbricht ohnehin am Kreuz, sei es an dem Kreuz Jesu auf Golgatha, sei es an dem Kreuz, an dem Leid, das Menschen heute noch wiederfährt.

Euer Gott kommt und schweigt nicht, weil ihn Jesu Tod am Kreuz bis ins Herz trifft. Und ausgerechnet der römische Hauptmann spricht das aus, was Gott im Innersten bewegt, was Gott am Anfang und in der Mitte des Matthäusevangeliums selbst vom Himmel aus verkündet und was auch aus den umwerfenden Naturereignissen am Karfreitag herauszulesen ist: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen.“ Das ist eine der Hauptanklagepunkte gewesen, die man gegen Jesus gerichtet hat, weswegen man ihn als Gotteslästerer verurteilt hat. Und in der Finsternis, dem Erdbeben, den zerspringenden Felsen und dem zerrissenen Vorhang geschieht schon das, was wir normalerweise erst am Ostermorgen bei der Auferweckung Jesu sehen: Gott gibt Jesus Recht, gegen die Verantwortlichen in der Politik, in der Religion und gegen die öffentliche Meinung, gegen die Hohepriester, die Besatzungsmacht und die sensationsgierigen Menschenmassen, die ihn in einer bemerkenswerten Einmütigkeit gemeinsam und übereinstimmend verurteilt haben.

Liebe Gemeinde, manchmal lohnt es sich also doch, über das Wetter zu reden, zumal über das Wetter am ersten Karfreitag, denn dann reden wir gleichzeitig über Gott. Dann entdecken wir Spuren von Gott inmitten einer tragischen und grausamen Geschichte. Dann entdecken wir, dass Gott an der Kreuzigungsstätte auf dem Berg Golgatha und damit auch an allen Tiefpunkten, die die Weltgeschichte oder der eigene Lebenslauf haben kann, den Menschen nicht sich selbst überlässt. Dann erkennen wir, wie sich durch den wolkenverhangenen Himmel am Karfreitag schon die ersten Sonnenstrahlen des Ostermorgens ihren Weg in unser Leben suchen.

Amen.

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