Samstag, 6. April 2013

Küchenseelsorge


Aus irgendwie nachvollziehbaren, aber mir dann doch nicht ganz einleuchtenden Gründen verlieren manche Dinge an Wert, wenn sie in die Küche kommen:

Das gilt für die gleichermaßen bekannte wie belächelte Küchenpsychologie, also, laut Wikipedia, „eine ebenso platte wie naive und unreflektierte Form der Verwendung alltagspsychologischer Kenntnisse“. In Musikerkreisen spricht man ähnlich abschätzend von den so genannten Küchenmädchenterzen (gendersensibilisierte Leser_innen erkennen die doppelte Abwertung!), einer relativ simplen Form des zweistimmigen Gesangs, bei dem die zweite Stimmte um eine Terz versetzt parallel geführt wird. Der Altphilologe rümpft die Nase über das Küchenlatein, jene grob vereinfachende und von Falschübersetzungen durchzogene Form des Lateinischen, die von den Humanisten früher übrigens, aber das nur ganz nebenbei, als „Mönchslatein“ bezeichnet wurde. Analog dazu gibt es den etwas weniger verbreiteten Begriff des Küchentürkisch, mit dem manche Sprach- und Integrationsforscher simples und aus Sicht der Hochsprache fehlerhaftes Türkisch bildungsferner Migrationsmilieus brandmarken.
Kleiner Einschub für Sprachnerds: Eigentlich bezeichnet „Küchentürkisch“ lediglich eine vereinfachte Form zusammengesetzter Substantive, die besonders häufig (und vor allem außerhalb der Türkei) auf Speisekarten und Lebensmittelettiketten zu lesen ist: Statt - hochsprachlich korrekt - Adana keba schreibt man einfach Adana kebap. Das hat allerdings mehr mit Pragmatismus und Platzmangel als mit geringerer Bildung zu tun.
Man kann darüber spekulieren, was der Hintergrund einer solchen bekümmerlichen Sprachpraxis ist, die, wenn mich nicht alles täuscht, eine überaus deutsche Sicht der Dinge darstellt: Eine mögliche englische Entsprechung - kitchen sink psychology - führt gegenüber der deutschen Küchenpsychologie ein ausgesprochen randständiges Leben; Google findet dafür ungefähr 11.700 Belege, eine angesichts der Größe des englischen Sprachraums äußerst geringe Anzahl, zumal einige Treffer zu deutschen Übersetzungsforen führen. Ein gleichnamiger Blog stammt übrigens aus der Feder einer promovierten Psychologin. Die Suche nach kitchen psychology landet kümmerliche 1.340 Treffer, bei denen es um die psychologischen Aspekte der Farbwahl von Küchenmöbeln und ähnliches geht. Und, wen es interessiert: Die schwedische Übersetzung kökspsykologi findet sich ganze 161 Mal und zwar entweder in Internetforen oder aber im Feuilleton, und vielleicht kommen wir hier dem Phänomen zumindest ansatzweise auf die Spur:

Offensichtlich geht es hier um  Vorurteile vermeintlich (und deshalb eben gerade nicht) bildungs- und großbürgerlicher Herkunft. Also Küche vor allem als Lebens- und Arbeitsraum bildungsferner Milieus und, die Verbindung springt doch förmlich ins Auge, speziell der weiblichen Angehörigen solcher Schichten. Küchen als Orte, denen deswegen weniger Potenzial für Entstehung und Vermittlung von Kommunikation, Bildung und Kultur zugestanden wird als etwa den Salons, Studierzimmern und Bibliotheken. 
 
Es sei dahingestellt, ob Menschen, für die das Wort und das Konzept Küche einen so pauschalen  Negativklang hat, über die nötige Lebenserfahrung verfügen, die sie als ernst zu nehmende Gesprächspartner qualifizieren würde. Denn zumindest eine Erfahrung scheint zu fehlen: Diese ganz bestimmte Art von Gesprächen und Begegnungen, die einen bewegen und weiter bringen und die vielleicht nirgendwo anders als in Küchen möglich sind.

Esbjörn Hagberg, Bischof von Karlstad und ehemaliger Seelsorgeausbilder an der Theologischen Hochschule Johannelund, hat diesen Begegnungen mit seinem im Jahr 2000 (und leider nie in deutscher Übersetzung) erschienenen Buch Seelsorge am Küchentisch (Själavård vid köksbordet) ein praktisch-theologisches Denkmal gesetzt. Dort beschreibt er im Vorwort eine rührende und vielleicht bekannte Szene: 
Wir sitzen um den Küchentisch. Es herrscht eine kompakte, inhaltsschwere und dichte Stille. Es gibt keine Worte, die ausreichen würden. Die Trauer ist intensiv, viel mehr Fragen als Antworten. Eine Hand wird ausgestreckt, um eine andere zu ergreifen, sie für eine Weile in der eigenen zu halten. Ein Kind klettert auf den Schoß eines der Erwachsenen. Hält fest, wischt gleichzeitig eine Träne von Mamas Wange. "Tränen schmecken komisch", sagt sie.
(Esbjörn Hagberg, Själavård vid köksbordet, Örebro 42003, 12; meine Übersetzung)

„Seelsorge am Küchentisch“ meint in diesem Sinn: Seelsorge jenseits kirchlicher Strukturen und außerhalb der Sprechzeiten institutionalisierter Beratung, das ernsthafte Gespräch zweier (oder mehrerer) Christenmenschen, das, so Timm Lohse, „sein einmaliges Zeitfenster willkürlich inmitten der alltäglichen Zeitabläufe“ sucht. 

Für dieses einmalige Zeitfenster, dieses Jetzt-und-Hier-und-sonst-erstmal-nicht gibt es im Griechischen den Begriff kairós (καιρός). Der bezeichnet, erstmal ganz allgemein ausgedrückt, eine günstige Gelegenheit, die sich wie von selbst ergibt. Im biblischen Sprachgebrauch ist man konkreter, denn da ist es kein blinder Zufall, sondern Gott, der seine (Zeige-)Finger im Spiel hat, der ein Fenster zu neuen Möglichkeiten oder eben zu Begegnungen einer besonderen Qualität öffnet. Und ich frage mich, warum solche Fenster, zumindest meiner Erfahrung nach, oft in der Küche aufgestoßen werden, warum gerade dort ein guter Ort zum Reden ist? 


Vielleicht, weil Küchen mehr als andere Räume Geborgenheit vermitteln und deswegen eine Art nostalgischen Schutzraum für die Begegnung zweier Menschen bieten, die sich an ihren Kaffee- oder Teetassen festhalten und die Hände wärmen. Vielleicht, weil es in Küchen, im Gegensatz zu anderen Räumen, meistens etwas „zu tun gibt und gleichzeitig relativ fest einprogrammierten Leerlauf, Zeiten, in denen man nur abwarten kann: Bis ein Hefeteig gegangen, ein großer Topf Hühnersuppe aufgewärmt ist oder auch nur bis das Teewasser kocht. Solche Phasen programmierten Nichtstuns erleichtern den Gesprächseinstieg, denn sie sind auf absehbare Zeit begrenzt und stehen nicht unter der unheilsschwangeren Überschrift „Wir müssen reden!“ - vordergründig tut man ja etwas anderes. Vielleicht hilft auch das Blubbern aus dem Kochtopf, das Zischen aus der Bratpfanne oder das gleichmäßige Hacken eines Messers auf einem Holzbrett dabei, gemeinsames Schweigen auszuhalten, weil die sonst so bleierne Stille durch vertraute Geräusche unterbrochen wird.  Vielleicht sind es auch Gerüche und Geschmäcker, die (Vorsicht: Küchenpsychologie!) an tiefer liegende Bewusstseinsschichten rühren, vergessene oder verschüttete Erinnerungen wachkitzeln, vielleicht öffnen sich im heißen Dampf über dem Herd die Menschen wie Muscheln im Weißweinsud - die hübsche Metapher stammt nicht von mir, sondern aus Tassos Boulmetis' großartigem Film Zimt und Koriander (Πολίτικη Κουζίνα), der hiermit wärmstens empfohlen sei. 

Aber das sind noch alles wilde Spekulationen zu einem Thema, das mich geradezu brennend interessiert. Ich mache mich erstmal auf in den hier so oft genannten Raum, da wartet zwar kein seelsorgliches Gespräch, aber ein noch ausgiebig zu bearbeitender Brotteig, über dem wahrscheinlich auch ein paar Gedanken zur Predigt für nächsten Sonntag geknetet werden. Da geht es - wer hätte es gedacht?! - auch um ein Gespräch am Esstisch.

Was mich in diesem Zusammenhang ebenso interessiert: Welche Erfahrungen habt Ihr mit  den guten Gesprächen zwischen Töpfen und Pfannen gemacht? Was sind Eure Küchengeschichten?

1 Kommentar:

  1. ...Habe mir gerade "Zimt und Koriander" angemacht - viel zu lange nicht gesehen.
    Mir fällt in diesem Zusammenhang außerdem der (normwegische?) Film "Kitchen Stories" ein, der das Phänomen, dass Menschen sich gerade in der Küche näher kommen, mit einem skandinavischer Kühnheit und Augenzwinkern in Szene setzt: Mit Hilfe einer Studie soll das Verhalten von Menschen in ihren Küchen optimiert werden. Kurioserweise dürfen die Forscher während ihren Beobachtungen (, die sie von einem Hochsitz in der Küche aus machen) keinerlei persönlichen Kontakt zu den Bewohnern haben...

    Ich habe ansonsten ähnliche Erfahrungen wie du gemacht: Die Küche ist ein Ort, an dem immer alles "normal" ist (wenn es dieses Wort überhaupt gibt), oder zumindest alltäglich. Das hilft besonders in extremen oder seelsorgerisch relevanten Situationen wie z.B. Liebeskummer oder Streit: Wessen Welt gerade zusammenbricht, der findet in der Küche genau das Maß an Normalität, das die Welt in den Angeln hält. (Wie bei der Tagesschau: Außer der Frisur der Sprecher ist in der Welt nichts in Ordnung...)

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