Samstag, 27. April 2013

Lebensweisheit zwischen Hogsmeade, Godric's Hollow und Reading Gaol

Ich finde ja, dass man die Harry-Potter-Bücher durchaus zur Weisheitsliteratur zählen kann. Aus theologischer Sicht sind sie in mehrfacher Hinsicht interessant: Zum Einen aufgrund ihrer Rezeptionsgeschichte - immerhin laufen  die Geschwister an den dunklen Rändern der Christenheit immer mal wieder gern und medienwirksam dagegen Sturm und klagen, die Bücher würden Kinder und Heranwachsende in die Klauen okkulter Mächte treiben. So raunte etwa Gabriele Kuby aus der vordersten und leider äußerst brabbelfreudigen Riege schwärzestkatholischer C-Prominenz schon 2003, die Bücher seien "ein globales Langzeitprojekt zur Veränderung der Kultur", und röhrt in einer kruden Litanei, die sie selbst wohl für prophetisch hält: "Die Teilnahme an schulischen Potter-Aktivitäten kann aus Glaubens- und Gewissensgründen verweigert werden." Der mentalitätsgeschichtlich interessierte Kirchenhistoriker oder die Religionssoziologin finden hier, wenn sie den Kopf wieder aus der Kloschüssel gehoben und sich den Mund abgewischt haben, ergiebiges Forschungsmaterial.

Theologisch interessant sind die Bücher natürlich auch, weil JK Rowling, immerhin lange Zeit aktives Mitglied ihrer Heimatkirchengemeinde in Schottland, das eine oder andere Bibelzitat fallen lässt - auf dem Grabstein des im Kampf für das Gute verblichene Ehepaar Potter beispielsweise wird 1. Korinter 15,26 zitiert, auf dem der kleinen Schwester Albus Dumbledores Matthäus 6,21.  

Und natürlich können theologisch interessierte Leserinnen und Leser nicht anders, als beim stellvertretenden Tod der Hauptperson im letzten Band und seiner Rückkehr aus dem Totenreich an die entsprechenden Kapitel der Dogmatik oder die entsprechenden Stellen aus dem Glaubensbekenntnis denken. Diese Deutung wird übrigens von Rowling selbst nahe gelegt; in einem Interview aus dem Jahr 2000 erklärt sie:
"Jedes Mal, wenn ich gefragt wurde, ob ich an Gott glaube, habe ich "ja" gesagt, weil das so ist, aber niemand ist dem wirklich nachgegangen, und ich muss sagen: das passt mir ganz gut, denn wenn ich zu frei darüber sprechen würde, dann würde, denke ich, der intelligente Leser, ob er nun zehn oder 60 Jahre alt ist, raten können, wie es weitergeht."
Über die theologisch verwertbaren Allegorien der Harry-Potter-Reihe haben sich andere weitaus klügere Gedanken gemacht (etwa Matthias Frohmann in Bochum und Danielle Tumminio in Yale). Nun geht es ja bei Weisheitsliteratur um mehr als dogmatisch korrekte Glaubenssätze, es geht um Lebensweisheit, um verdichtete und reflektierte Lebenserfahrung. Und solche verdichtete, erzählend aufbereitete Lebenserfahrung entdecke ich zum Beispiel in eigentlich ziemlich unansehnlichen Viechern: Den thestrals/Thestralen, echsenhaft anmutenden Pferden mit Flügeln, in der Welt der Bücher von lauffaulen Zauberern als Reittiere benutzt. Wer nicht mehr genau weiß, was es mit denen auf sich hat, kann sich hier noch einmal informieren: 




"Sie können nur von denen gesehen werden, die den Tod gesehen haben." Das meine ich mit verdichteter Lebenserfahrung - denn so ist es irgendwie: Ich glaube, dass es Menschen verändert, wenn sie "den Tod gesehen haben", wenn sie selbst einmal kurz vor der Grenze gestanden oder bei der Begleitung eines sterbenden Angehörigen diesen Augenblick miterlebt haben, an dem die Ewigkeit die Erde streift und ein Mensch aufhört zu atmen. Dass sie Dinge mit anderen Augen sehen - ich habe manchmal auch den Eindruck, dass sie einander erkennen und in einer Sprache miteinander sprechen können, die nicht versteht, wer solche Erfahrungen noch nicht gemacht hat. 

Mit Oscar Wildes Worten aus De Profundis gesagt:  Where there is sorrow, there is holy ground. Some day, people will realise what that means. They will know nothing of life till they do.

1 Kommentar:

  1. Die christliche Kritik an der Harry-Potter-Reihe habe ich immer lächerlich gefunden. Das ist ganz klar Fiktion, da sehe ich überhaupt keine Gefahr.

    Die Reihe ist mit Sicherheit auch deshalb so erfolgreich, weil dort Lebenserfahrung einfließt. Außer bei den Thestralen ist mir das besonders bei den Dementoren aufgefallen, die ich sehr gut und bildhaft umgesetzt finde. Meine Mutter ist vor ein paar Jahren an Demenz erkrankt und gestorben. Diese Ängste, ins Dunkel zu fallen, nicht zu wissen, was aus einem wird, vielleicht seine Persönlichkeit zu verlieren, hatte sie sehr intensiv und die Dementoren geben das, wie ich finde, gut wieder.

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