Sonntag, 9. Juni 2013

Durst?! - Predigt über Jesaja 55,1-5



Liebe Gemeinde,

Durst. Kennen wir. Gerade jetzt, wenn die Tage wärmer und die Abende länger werden. Die trockene Kehle nach einem tatkräftigen Vormittag im Garten, die Vorfreude auf ein gepflegtes Bier nach der Radtour. Kennen wir. Das Deutsche hat übrigens kein Wort für das Gefühl, den Durst gestillt zu haben. Wir haben so ein Wort in unseren Breitengraden nie gebraucht, weil es nichts Außergewöhnliches oder Erwähnenswertes ist, wo überall Wasser zu bekommen ist: Wo in jedem Wald ein Bach fließt, früher auf jedem Dorfplatz ein Brunnen stand und heute ein Kiosk mit vollem Kühlschrank. Wo wir es uns leisten können, Wasserflaschen als Accessoires zu tragen und buchstäblich über den Durst zu trinken. Also nochmal: Durst. Kennen wir… wirklich?

Kennen wir den Durst, der in der Kehle brennt und hektisch macht, weil keine saubere Quelle in Sicht ist oder den Hunger, der zum Trieb wird, weil das, was wir haben, nicht ausreicht, nie genug sein kann?

Kennen wir den Durst, der uns lähmt und in die Knie zwingt? So, wie es der Überlebende eines Flugzeugabsturzes über der Wüste beschreibt:

(c) Thomas Schaal / pixelio.de

Ich bin schon eins mit der Wüste. Ich bringe keinen Speichel mehr hervor und auch keine Bilder, nach denen ich mich sehnen könnte. Die Sonne hat den Quell der Tränen ausgetrocknet ... [Wir holen] den letzten Atem aus unserer Brust […]. Aber unsere Stimmen tragen keine dreißig Meter mehr. Die Stimmbänder sind vertrocknet.

Also: Durst – kennen wir? Ich glaube ja. Vielleicht nicht als den Hunger und Durst, der sich mit Essen und Trinken stillen lassen könnte. Vielleicht eher als Sehnsucht, mal rastlos, lechzend, mal erstickend und lähmend. Nach etwas, das immer gleich entfernt bleibt, wie schnell und weit wir auch rennen und rennen, wie der Anfang eines Regenbogens. Vielleicht als eine Leere, die sich nicht füllen lässt, wie viel wir auch hineinschaufeln in den tiefen Schlund in uns drin.

Die Toten Hosen haben das vor Jahren einmal besungen, sicherlich ein bisschen plakativ, aber vielleicht doch erstaunlich treffsicher auf Kaiserswerther Verhältnisse zielend:

Was für 'ne blöde Frage, ob das wirklich nötig ist. / Ich habe halt zwei Autos, weil mir eins zu wenig ist. / Sie passen beide in meine Garage, für mich ist das Grund genug. / Was soll ich sonst in diese Garage neben meiner Riesen-Villa tun? / Die Geräte für den Swimmingpool liegen schon im Gartenhaus / und die Spielzeugeisenbahn ist im Keller aufgebaut. Jeden Sonntag zähle ich mein Geld, und es tut mir wirklich gut,/ zu wissen wieviel ich wert bin, und ich bin grad hoch im Kurs. / Ich hatte mehr Glück als die meisten, habe immer fett gelebt. / Und wenn ich wirklich etwas wollte, hab' ich's auch gekriegt!
Warum werde ich nicht satt?  

Wer auch immer meint, sich in diesen Zeilen wiederzuentdecken, wer das Gefühl kennt, den unstillbaren Durst und Hunger nach irgendetwas, oder vor wessen inneren Auge jetzt Bilder von Menschen auftauchen, die von dieser Sehnsucht getrieben durch ihr Leben wandern, der sollte jetzt hinhören, auf die Stimme, die aus alten Zeiten, sechshundert Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung, heute zu uns herüberweht:

Auf, geht zum Wasser, all ihr Dürstenden,
und die ihr kein Silber habt,
geht, kauft Getreide, und esst,
und geht, kauft Getreide, nicht für Silber,
und Wein und Milch, nicht für Geld
Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist,
und euren Verdienst für das, was nicht sättigt?
So hört mir zu, und esst Gutes,
damit ihr eure Freude habt am Fett.
Neigt euer Ohr, und kommt zu mir!
Hört, dann werdet ihr leben,
und ich will einen ewigen Bund mit euch schliessen:
die unverbrüchlichen Gnadenerweise für David.
Sieh, zum Zeugen für Völker habe ich ihn gemacht,
zum Fürsten und Gebieter von Völkern.
Sieh, du wirst eine Nation rufen, die du nicht kennst,
und eine Nation, die dich nicht kannte - sie werden zu dir eilen,
um des HERRN, deines Gottes,
um des Heiligen Israels willen,
denn er hat dich verherrlicht.

Liebe Gemeinde, die Worte stammen von einem Propheten aus der Schule Jesajas, und sie erheben den Anspruch, nicht Worte irgendeines Menschen zu sein, sondern dass es Gott selbst ist, der hier das Wort ergreift. Worte, erfrischend wie Wasser, gehaltvoll und berauschend wie Wein, samtig wie Milch – aber wer sie länger im Mund bewegt, schmeckt, wie die Süße abnimmt und die Herbheit, die Bitterstoffe, die auch darin stecken, sich bemerkbar machen.

Auf, geht zum Wasser, ihr Dürstenden! Wem die Zunge am Gaumen klebt, wer sich durch die Wüste schleppt, bringt vielleicht noch die Kraft zustande, den Kopf zu schütteln oder ihn zu heben und einen bösen Blick in die Richtung zu werfen, aus der die Stimme kommt, die so Banales, so Selbstverständliches von sich gibt, dass es fast ärgerlich ist. Die nichts Besseres zu tun hat, als platte Ratschläge auszuteilen und dabei womöglich so zynisch klingt wie die reiche Passantin, die an einem Bettler vorbeigeht – vielleicht kennen Sie diesen nicht gerade wenig bösen Witz: Der Bettler jammert, er habe seit drei Tagen nichts gegessen, woraufhin sie ihm den gut gemeinten Rat gibt: „Sie müssen sich halt zwingen!“

Mancher muss aber vielleicht genau das hören: Diejenigen, die sich mit dem Durst abgefunden haben, die die innere Leere als Teil von sich akzeptieren und kultivieren, sich so daran gewöhnt haben, dass es einfacher ist, liegen zu bleiben und langsam eins mit der Wüste zu werden. Leiden ist oft einfacher als Verändern, das Verharren in einer schwierigen, aber immerhin vertrauten Situation attraktiver als der erste Schritt hinaus ins Freie, aber Ungewisse. Gegen diese Resignation ruft die Stimme aus der Wüste an: „Auf, geht zum Wasser, ihr Dürstenden!“ ruft sie, denn Wasser gibt es ja, und euer Durst wird nicht dadurch kleiner, dass euch mit ihm abfindet.

Ihr, die Ihr kein Geld habt, kauft und esst! Noch so ein erdiger Ton in dem reinen Wein, der uns hier eingeschenkt wird, noch so ein Satz, der verärgert zusammen zucken oder die Stirn runzeln lässt. Zumindest diejenigen unter den Durstigen und Hungrigen, die ihre Sehnsucht nach mehr mit geballter Kaufkraft besiegen wollen, die darauf vertrauen, dass sich ein erfülltes Leben erkaufen, ertauschen oder verdienen lässt – so, wie so vieles im Leben mit Geld geregelt werden kann. Und die plötzlich im flirrenden Licht der Mittagshitze erkennen, dass ihre Hände genauso leer sind wie die der Anderen. Eigentlich wissen wir das ja. Dass das, was wirklich zählt, nicht für Geld zu haben ist. Die Erfahrung hat jede Konfirmandin schon gemacht, und auch wir Älteren lernen das immer wieder aufs Neue, und nicht selten auf die harte Tour – unsere Lebensentwürfe sind in Kaiserswerther Eigenheimen genauso zerbrechlich wie in den Sozialwohnungen von Garath, ein Mehrgängemenü im Schiffchen kann genauso hungrig und leer zurücklassen wie die hastig heruntergeschlungenen Pommes am Worringer Platz.

Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist, und euren Verdienst für das, was nicht sättigt? fragt die Stimme in der Wüste. Ja, warum? Vielleicht, weil unser antrainiertes Misstrauen gegenüber allem, was umsonst ist, tief sitzt. Weil wir gelernt haben, dass das, was nichts kostet, auch nichts ist. Weil es schwer zu ertragen ist, dass wir selbst den ganz tief sitzenden Hunger und Durst nach Anerkennung, nach Gesehen-Werden, nach Bedeutung und Sinn nicht stillen können.

Durst – ja, doch, kennen wir. Aber wohin damit? Wohin mit uns, wo finden wir es – das Wasser, aus dem wir schöpfen, in das wir eintauchen können, das kühlt und erfrischt und lebendig macht?

Die Toten Hosen geben in ihrem Lied keine Antwort darauf, sie enden mit der mehrfach wiederholten Frage: Warum werde ich nicht satt? Warum werden wir nicht satt?

Die Stimme in der Wüste indes gibt eine Antwort. Ganz in der Mitte des Textes heißt es: Neigt euer Ohr, und kommt zu mir! Hört, dann werdet ihr leben. Was unseren Hunger und unseren Durst jenseits von Nahrung und Materiellem stillt, sind Worte, die mir signalisieren, dass ich gesehen werde, dass mein Leben einen Sinn und die Zeit ein Ziel hat. Oder noch genauer: Es ist die Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber, das mir diese Worte zuspricht. Das haben Sie alle schon einmal erlebt. Das ist übrigens das, was die Bibel meint, wenn sie vom Glauben spricht: Keine Weltanschauung, kein Katalog von moralischen Appellen, auch kein Zwölf-Punkte-Programm, das sich zwischen zwei Buchdeckel pressen und im Buchladen unter Lebenshilfe vermarkten lässt. Sondern eine Beziehung, ein Kontakt zu dem lebendigen Gott, dessen Wort sein Volk Israel durch die Zeiten hindurch bewahrt hat, und der als Davidssohn Jesus Christus alle Menschen einlädt, die Sinn, Perspektive und Gemeinschaft suchen.

(c) Rainer Sturm / pixelio.de
Liebe Gemeinde, ein letztes Mal: Durst. Kennen Sie? Gut, dass Sie dann heute hier in diesem Gottesdienst sind, denn hier gibt es Worte zu hören, die das sagen, was kein Mensch sich selbst sagen kann. Hören Sie sie noch einmal, wenn Sie sie hören müssen, oder packen Sie sie ein und nehmen Sie mit für andere, die sie brauchen: 

Ich bin der Herr, dein Gott, der Dich aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat.
Ich habe dein Wandern durch diese große Wüste auf mein Herz genommen.
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken. Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.
Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, wird nicht hungern und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten.

Auf, zum Wasser, ihr Dürstenden… Die ihr kein Silber habt, kauft und esst euch satt… Hört, dann werdet ihr leben… um des Heiligen Israels Willen, denn er hat dich verherrlicht.

Amen. 

Gehalten am 9. Juni 2013 in der Stadtkirche Kaiserswerth

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