Sonntag, 16. Juni 2013

Sehen. Und gesehen werden. - Predigt über Lk 19,1-10




Jesus kam nach Jericho; sein Weg führte ihn mitten durch die Stadt. Zachäus, der oberste Zolleinnehmer, ein reicher Mann, wollte unbedingt sehen, wer dieser Jesus war. Aber es gelang ihm nicht, weil er klein war und die vielen Leute ihm die Sicht versperrten. Da lief er voraus und kletterte auf einen Maulbeerfeigenbaum; Jesus musste dort vorbeikommen, und Zachäus hoffte, ihn dann sehen zu können. Als Jesus an dem Baum vorüberkam, schaute er hinauf und rief: »Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.« So schnell er konnte, stieg Zachäus vom Baum herab, und er nahm Jesus voller Freude bei sich auf. Die Leute waren alle empört, als sie das sahen. »Wie kann er sich nur von solch einem Sünder einladen lassen!«, sagten sie. Zachäus aber trat vor den Herrn und sagte zu ihm: »Herr, die Hälfte meines Besitzes will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand etwas erpresst habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.« Da sagte Jesus zu Zachäus: »Der heutige Tag hat diesem Haus Rettung gebracht. Denn«, fügte er hinzu, »dieser Mann ist doch auch ein Sohn Abrahams. Und der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.«




Die Predigt beginnt von der Empore aus, auf die der Prediger sich im Laufe des Liedes vor der Predigt zurückgezogen hat.


Liebe Gemeinde,

ich sehe euch, aber ihr seht mich nicht. Eigentlich gar nicht so schlecht.

Ich sitze hier oben auf der Empore. Aber ich könnte auch jemand ganz anderes, irgendwo ganz woanders sein:

Ich bin vielleicht ein Zaungast des Elbhochwassers, stehe auf der trockenen Seite eines Deiches, verschwimme in der neugierigen Menge, halte eine Kamera oder ein Fotohandy schützend zwischen mich und die, die Sandsäcke durch die hüfthohe Brühe schleppen.

Ich bin vielleicht der junge Mann, der nachts fiebernd und sehnsuchtsvoll auf den Computerbildschirm starrt.  Nicht das, was Ihr denkt. Keine Schmuddelseiten, nein: Ich klicke auf dem Facebookprofil einer bestimmten Person herum, die mich nachts nicht schlafen lässt, die ich nie im wirklichen Leben ansprechen würde, weil sie mir das Herz bis zum Hals schlagen lässt. Gucke in ihr digitales Fotoalbum, bleibe an einem Bild vom Sonnenuntergang über dem Rhein hängen und träume mich hinein, hätte so gern mit ihr dort gesessen und nach dem Foto ihre Hand genommen.


(c) Andrea Damm / pixelio.de
Ich sehe euch, aber ihr seht mich nicht. Wer ich bin? Eigentlich egal, ich bin einer von vielen, die nicht unbedingt in der ersten Reihe sitzen wollen oder die lieber erst einmal aus sicherer Entfernung gucken, was sie erwartet. Die lieber sehen als gesehen zu werden.

 

Der Prediger verlässt die Empore und spricht von der Kanzel weiter.


Jetzt ist es anders. Ich sehe euch – und ihr seht mich. Wir sehen uns an. Das verändert vieles. Ich bekomme von Euch Reaktionen auf das, was ich sage - ein Stirnrunzeln, ein fragender Blick, ein zustimmendes Nicken oder ein energisches Kopfschütteln – und muss das, was ich sage, plötzlich ganz anders verantworten: Die, die mich kennen, messen das, was ich von der Kanzel erzähle, daran, wie sie mich im Alltag erleben.

Wir sehen uns an. Das verändert vieles. Der Zaungast wird in das Geschehen verwickelt, das distanzierte Beobachten geht auf in einer Beziehung. 



So wie bei Zachäus. Auch so ein Zaungast des Lebens. In mancher Hinsicht kann er selbst nichts dafür, weil er der oberste Zöller ist und klein, weil er schon aufgrund seines Berufs am Rand der Gesellschaft steht und weil viele Menschen zum Zuschauen verdammt werden, wenn sie den Normmaßen der Mehrheit nicht entsprechen. Und gleichzeitig findet sich Zachäus mit dem Dasein am Rand ab, er zieht sich selbst auf die schützenden Zuschauerränge zurück, als es spannend wird:



„Jesus kommt!“ Sein Ruf eilt ihm voraus über das Land: Da ist einer, der heilt Kranke und gibt Menschen ihre Würde zurück. Die einen spüren einen Aufbruch von ausgetretenen Pfaden, andere finden: Er erinnert uns wieder an das, was wichtig ist. Manche sind beeindruckt, wie er sich den Menschen zuwendet. Andere wollen vielleicht nur mal sehen, ob das mit dem Brotteilen und dem Wundertun wirklich funktioniert, manche möchten einfach Teil dieser Gemeinschaft, dieser großen Bewegung sein, und noch andere wollen ausprobieren, ob er auch für ihre Fragen eine Antwort hat. Wir wissen nicht, was davon Zachäus so neugierig auf Jesus macht. Aber wir können selbst vielleicht auch gar nicht immer sagen, was genau uns dazu bewegt hat, an einem bestimmten Sonntag, vielleicht sogar heute, ziemlich früh aufzustehen und in die Kirche zu gehen.



Zachäus wollte Jesus unbedingt sehen. Erst mal nicht mehr, nur sehen, einen Blick draufwerfen und sich eine Meinung bilden. Und stellt sich eben nicht in die erste Reihe, wo ihm ja auch kein anderer den Blick versperren würde, sondern klettert in einen Maulbeerbaum. Zum Zuschauen ist das der ideale Platz:

(c) Wolfgang Dirscherl / pixelio.de
Ein stabiler, nicht allzu hoher Stamm, eine ausladende Krone mit wenigen, aber dicken Ästen, auf denen man bequem sitzen kann, und ein dichtes Blätterwerk, wie eine Wand aus immergrünem Laub, das von innen genug Löcher zum Durchgucken bietet und Blicke von außen abhält. Wie eine natürliche Theaterloge, ideal, wenn man sehen will, ohne gesehen zu werden, wenn man erst mal beobachten will, alles aus sicherer Entfernung.

Bis dann plötzlich alles anders wird.

Zwischen den Blättern des Maulbeerbaums hindurch blicken zwei Augen, die sagen: Ich sehe Dich. Ich weiß, wer du bist. Und Zachäus hört, wie sein Name gerufen wird, zuckt vielleicht zusammen, zieht den Kopf ein, hält den Atem und spannt die Schultern an und wartet auf das, was sonst immer kommt, wenn die Leute ihn, den kleinen, reichen Oberzöllner auf der Straße erkennen: Abfällige Bemerkungen, offene Beschimpfungen, wütende Fragen von denen, die sich ungerecht behandelt fühlen und damit vielleicht sogar Recht haben. Aber – davon kommt nichts. Stattdessen: „Komm runter von deinem Baum – heute muss ich bei Dir zu Gast sein.“


Sehen und gesehen werden. Und das verändert vieles. Der Zaungast, der eigentlich nur gucken wollte, wird hineingezogen, verwickelt in das Geschehen und stellt fest: Es geht um mich, um uns. Hier will jemand mit mir zu tun haben, noch mehr: Er braucht mich. Nicht als Zuschauer, sondern als Mitspieler. Das distanzierte Beobachten geht auf in einer Beziehung.



Zachäus stieg eilends vom Baum herab und nahm ihn auf mit Freuden.



Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, wir könnten gleich zum Abendmahl gehen und
(c) Dieter Schütz / pixelio.de
„ihn mit Freuden aufnehmen.“ Wären da nicht die anderen. Die, von denen Zachäus wahrscheinlich auch nicht gesehen werden wollte. Die machen es ja oft schwer, die anderen. Die ihrerseits auf ihren Zäunen oder hinter ihren Gardinen sitzen, mit neugierigen Blicken alles verfolgen und laut oder leise kommentieren, was sie sehen. „Wie kann er sich nur von so einem Sünder einladen lassen.“



In vielen Auslegungen dieser Geschichte kommt die Menge nicht besonders gut weg. Erst versperren sie Zachäus die Sicht, und dann sind sie auch noch so hartherzig, so engstirnig und kleingeistig, dass sie ihm diesen besonderen Augenblick mit Jesus nicht gönnen und weiter an der Vergangenheit kleben.



Ich glaube nicht, dass wir uns die anderen so leicht vom Hals halten können, und Zachäus auch nicht, denn ihn holt seine Vergangenheit ein. In dieser Menge steht vielleicht der Händler, dem er sein halbes Tagesgeschäft abgeknöpft hat. Vielleicht eine Frau, deren Mann die Römer ins Gefängnis gesteckt haben, also die, in deren Lohn und Brot Zachäus steht. Vielleicht der Bettler, der an der Straßenecke sitzt und an dem Zachäus jeden Tag auf dem Weg zum Zollhäuschen vorbeikommt und für den er trotz seines Reichtums nicht einmal ein paar kleine Münzen übrig hat. In der murrenden und motzenden Menge stehen all die Leute, die uns beobachten, wenn wir sonntags in die Kirche gehen und kritisch fragen, woran man unseren Glauben denn im täglichen Leben erkennt.



Zachäus stellt sich den Fragen der anderen, stellt sich seiner Vergangenheit und zieht seine Konsequenzen: Die Opfer seiner Machenschaften werden entschädigt, die Hälfte seines Besitzes geht an die, die es nötiger brauchen als er. Das kommt für Manchen vielleicht zu spät, aber: Es kommt.

Und wahrscheinlich hätte sich Zachäus seiner Vergangenheit nicht stellen können, wenn ihm nicht vorher gesagt worden wäre: Ich sehe dich, und ich will bei dir zu Gast sein, trotz allem.



„Heute ist diesem Haus Rettung (Luther: Heil) wiederfahren“, so fasst Jesus das Geschehene zusammen, das hinter diesem nicht ganz einfachen theologischen Spezialwort steckt: Ich sehe - und werde gesehen, gebe den sicheren Platz am Rand auf und trete ein in eine Beziehung zu dem, der mich sieht. Und kann nur staunen, was das mit meinem Leben macht.



Ein Zaungast des Elbhochwassers steht auf der trockenen Seite des ächzenden Damms, hält schützend die Kamera zwischen sich und das nasse Chaos – und spürt plötzlich, wie ihn der Blick von einem trifft, der auf der anderen Seite Sandsäcke schleppt, ein Blick, der ihn aus der Menge der Schaulustigen herauszieht und sagt: Wir brauchen Dich.



An irgendeinem Computerbildschirm sitzt ein junger Mann und betrachtet sehnsuchtsvoll die Fotos der Person, die ihn nachts nicht schlafen lässt. Verfolgt ihre Aktivitäten – und wäre so gern dabei. Hört plötzlich ein leises Tonsignal, blickt erstaunt zum oberen linken Bildschirmrand, liest: Sie haben eine Nachricht. Die Maus tastet sich vorsichtig zu dem kleinen Symbol mit dem Briefumschlag – und das Herz überschlägt sich, klopft schneller, als er die Zeilen von der Person liest, die offensichtlich auch nicht schlafen kann, ihm eine Nachricht schickt und fragt: „Wollen wir mal was trinken gehen? Nur wir zwei?“



Irgendwo in einer Kirche lässt sich jemand von der Menge mitreißen, steht langsam von dem neugierig-distanzierten Beobachterposten irgendwo am Rand auf den hinteren Kirchenbänken auf,

findet sich plötzlich mit anderen Menschen um den Altar versammelt, blickt in Gesichter, manche fremd, manche bekannt, und spürt in seiner Hand die kleine Oblate, die ihm ein Pfarrer in die Hand gedrückt hat. Er hatte nicht darum gebeten, nur die Hand aufgehalten, nicht einmal bewusst. Blickt auf die kleine Scheibe aus Esspapier, in seinen Ohren klingt ein Satz, der ihm dabei gesagt worden war, oder der ihm vielleicht aus der Predigt noch nachhängt: Heute muss ich bei dir zu Gast sein.



Und nichts ist, wie es war.



Amen.

(c) Andrea Damm / pixelio.de



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