Donnerstag, 3. Oktober 2013

"Gott allein soll mein Herze haben" - Predigt im Kantatengottesdienst über BWV 169 und Matthäus 22,34-40


Die Kantate ist hier zu hören - für den richtigen Predigteindruck lohnt es sich, beim Video zwischendurch zu pausieren!


(Sinfonia)

Liebe Gemeinde, was für ein Auftakt! Jesus kommt, er ist da, zur Freude der Einen, zum
(c) Dieter Schütz / pixelio.de
Ärger der Anderen. Die ersten Takte verraten: Es geht um was, die Streicher geben dem Einsatz, ein freudiger Ruf: Da ist er, wie die ersten Menschen, die ihn gesehen haben, als er auf die Stadttore zukommt. Das ganze Orchester fällt ein, läuft, springt, wie die Menschenmenge, die ihm auf Schritt und Tritt folgt. Die Orgel tanzt und läuft und trillert, wie die Kinder, die er in seiner Nähe haben will. Zwischendurch immer wieder: Die Oboe d’amore, wie die Stimme der Sehnsucht all derer, die von ihm etwas erwarten. Dann wieder: Die Orgel in Moll, ebenso schnell, klare, strukturierte Melodieläufe, aber eben in Moll: Nicht alle in der Menge sind einverstanden, mit dem, was er sagt, was er tut. Die Stimmen seiner Gegner, die, die sonst den Ton in der Gesellschaft angeben. Sie geben nicht so leicht auf, löchern ihn mit Fragen, klaren, schnell geschossenen und zielgerichteten Prüfungen, auf welchem Boden er sich eigentlich bewegt. Einige dramatische Höhen, wer die Geschichte kennt, weiß, dass dieser Besuch in Jerusalem ein böses Ende nehmen kann, nehmen wird. Doch das sind vorerst nur Zwischentöne, die aufgeregt murmelnde Volksmenge, die springenden Kinder, die sehnsüchtigen Fragen, sie geben den Ton an.

Was für ein Auftakt – Jesus kommt, er ist da, zur Freude der Einen, zum Ärger der Anderen. Wem Jesus gegenübertritt, dessen Herz schlägt schneller, dessen Schritte beschleunigen sich – zu ihm hin oder von ihm weg. Die einzige Pause in dieser springenden, laufenden, tänzelnden Ouvertüre, in der das ganze Orchester Schwerarbeit leistet, ist ein einziger, eine Achtel kurzer Schlag, eine winzig kleine Verzögerung, bevor es von Neuem losgeht. Es fällt beim Zuhören schwer, still sitzen zu bleiben – selten genug in einem Gottesdienst!

Dann wird es abrupt still um Jesus herum, ein Pharisäer drängt sich durch die Menge und stellt die Gretchenfrage: Was ist denn das Wichtigste im Leben, was ist das größte Gebot? Was ist das Wichtigste im Leben? Was verleiht mir meinen Antrieb, wofür setze ich meine Kraft, meine Energien ein, um was kreisen meine Gedanken, woran hängt mein Herz? Es bleibt still und nachdenklich in der Runde um Jesus herum, vielleicht gehen Einige ihren eigenen Gedanken nach, sehen Bilder vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Eine Mutter sieht lächelnd ihr Kind an. Ein junger Mann wirft einen verstohlenen, sehnsuchtsschwangeren Blick zu der jungen Frau, die ein paar Meter weiter steht. Die Hand eines reichen Kornbauers zuckt ganz automatisch zu seiner Gürteltasche, spürt die beruhigende, kühle Schwere eines Beutels voller Goldmünzen. Einige Sklaven sehen nervös zu ihrem Herren, der absoluten Gehorsam verlangt, ständige Aufmerksamkeit und Dienstbereitschaft
Der Pharisäer lässt sich von seinem Examensverhör nicht abbringen. Ruhig, lauernd, wartet er auf eine Antwort. Und Jesus antwortet, theologisch völlig korrekt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt(5.Mose 6,5). Einige der Umstehenden strecken unwillkürlich den Rücken gerade, einige schließen die Augen, murmeln leise mit. Denn was er sagt, ist nichts Neues, nichts Unbekanntes, es sind die Worte, die jeder fromme Jude im Schlaf herunterbeten kann: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (5.Mose 6,5).Dies ist das höchste und größte Gebot.
Eine junge Frau in der Menschenmenge steht etwas abseits, ein bisschen verloren. Erst leise murmelnd, dann lauter, inbrünstiger, leidenschaftlicher wiederholt sie diese Worte und lässt ihren Gedanken freien Lauf:

Gott soll allein mein Herze haben.
Zwar merk ich an der Welt,
Die ihren Kot unschätzbar hält,
Weil sie so freundlich mit mir tut,
Sie wollte gern allein
Das Liebste meiner Seele sein.
Doch nein; Gott soll allein mein Herze haben:
Ich find in ihm das höchste Gut.
Wir sehen zwar
Auf Erden hier und dar
Ein Bächlein der Zufriedenheit,
Das von des Höchsten Güte quillet;
Gott aber ist der Quell, mit Strömen angefüllet,
Da schöpf ich, was mich allezeit
Kann sattsam und wahrhaftig laben:
Gott soll allein mein Herze haben.

Gott soll allein mein Herze haben,
Ich find in ihm das höchste Gut.
Er liebt mich in der bösen Zeit
Und will mich in der Seligkeit
Mit Gütern seines Hauses laben.

Was ist die Liebe Gottes?
Des Geistes Ruh,
Der Sinnen Lustgenieß,
Der Seele Paradies.
Sie schließt die Hölle zu,
Den Himmel aber auf;
Sie ist Elias Wagen,
Da werden wir im Himmel nauf
In Abrahms Schoß getragen.

Stirb in mir,
Welt und alle deine Liebe,
Dass die Brust
Sich auf Erden für und für
In der Liebe Gottes übe;
Stirb in mir,
Hoffart, Reichtum, Augenlust,
Ihr verworfnen Fleischestriebe!

Die Umstehenden schweigen. Vielleicht sind sie ergriffen, vielleicht sind sie auch irritiert, abgestoßen von dieser Inbrunst, mit der die junge Frau ihren Abschied von der Welt verkündet. Die Mutter nimmt ihr Kind bei der Hand, der junge Verliebte rückt einen Schritt näher an die Dame seines Herzens heran, der Herr sieht seine Sklaven an, fixiert sie mit strengem Blick, dass sie bloß nicht auf die Idee kommen, sich von dieser Verrückten anstecken zu lassen. Euer höchstes Gut, eure ganze Welt ist es, mir zu Diensten zu sein, das sagen seine Augen ganz unmissverständlich. Der reiche Kornbauer wiegt seinen schweren Geldbeutel in der Hand, er schüttelt brummelnd den Kopf. Wo kommen wir denn dahin, wenn alle ins religiöse Schwärmen geraten, wenn alle ihre Arbeit stehen und liegen lassen und mit offenen Augen vom Himmel träumen?! Seine Stirn legt sich in tiefe Falten, sein Blick verfinstert sich. Ein braver Schreiner, der durch tägliche harte Arbeit gerade so sein Auskommen hat, murmelt leise seinen Wahlspruch vor sich hin: „Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott.“ „Hauptsache gesund“, pflichtet ihm eine ältere Marktfrau bei.

Am Rand stehen aber einige andere, die leise, wortlos nicken. „Die Welt mit ihrem Kot“, singt die junge Frau. Alles Mist, noch einmal nicken sie grimmig, all diejenigen, die von der Welt enttäuscht worden sind. Die alles verloren haben, die hinter die Fassade geblickt haben. Da sitzen vielleicht ein paar Bettler, die in der großen Stadt ihr Glück gesucht haben und unter die Räder gekommen sind. Da steht irgendwo ein reicher Witwer, der am Sterbebett seiner Frau lernen musste, dass sich nicht alles kaufen lässt. Da kommen Erinnerungen hoch an lächelnde Menschen, die einem in nächsten Augenblick ein Bein stellen.

Der Pharisäer schweigt und wendet sich zum Gehen. Jesus hat die Prüfung bestanden, gegen das jüdische Glaubensbekenntnis ist, zumindest in der Öffentlichkeit, nichts zu sagen. Aber Jesus ist noch nicht fertig. Vielleicht hat ihn der Ausbruch der jungen Frau auch nicht ganz unbeeindruckt gelassen, vielleicht ahnt er, dass Menschen dieses Gebot, die Liebe zu Gott missverstehen würden. Dass sie in späterer Zeit die Liebe Gottes zu einer Angelegenheit des Herzens machen, einem romantischen Gefühl. Obwohl die Liebe zu Gott in hohem Maße eine Angelegenheit von Kopf und Händen ist, ein Denken, das nach dem Willen Gottes für das Miteinander in der Welt fragt, eines handfesten Handelns, das versucht, in der eigenen Umgebung für eine gerechtere Welt zu sorgen.
Und so setzt er noch einmal nach, ungefragt und vielleicht in seiner Deutlichkeit überraschend für die Menschen um ihn herum: Das andere aber ist dem gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben.“
Johann Sebastian Bach lässt die Frau das wiederholen, doch das letzte Rezitativ klingt weniger dramatisch, weniger inbrünstig, eher pflichtbewusst: Doch meint es auch dabei mit eurem Nächsten gut, denn so steht in der Schrift geschrieben: Du sollst Gott und den nächsten Lieben. Und hier setzt auch der Chor ein, andächtig, feierlich vergewissern sich die Männer und Frauen gegenseitig.

Doch meint es auch dabei
Mit eurem Nächsten treu!
Denn so steht in der Schrift geschrieben:
Du sollst Gott und den Nächsten lieben.

Du süße Liebe, schenk uns deine Gunst,
Lass uns empfinden der Liebe Brunst,
Dass wir uns von Herzen einander lieben
Und in Friede auf einem Sinn bleiben.
Kyrie eleis.

Wenn es nach Johann Sebastian Bach und seinem anonymen Textdichter ginge, dann wäre hier Schluss. Kyrie eleison, Herr erbarme dich. Und aus. Das ist an sich kein schlechtes Schlusswort, darauf sind und bleiben wir alle angewiesen. Die Kantate ist hier zu Ende, die Musiker haben wieder Platz genommen, man kann sich auch vorstellen, wie sich die Szene in Jerusalem auflöst, die Menge sich zerstreut und alle wieder nach Hause gehen: Die Mutter mit ihren Kindern an der Hand, der junge Verliebte schweren Herzens ohne seine Geliebte, der reiche Kornbauer mit der Hand um seinen Geldbeutel, der Schreiner zu seinem nächsten Auftrag. Was für ein Auftakt – und was für ein sprödes Ende. Vielleicht sind einige von ihnen nachdenklich geworden, vielleicht fragen die Kinder ihre Mutter ganz erstaunt: „Was heißt das denn, den Nächsten zu lieben?“ und der junge Verliebte guckt noch einmal ganz schnell und nervös zu seiner Angebeteten. 

Nur die junge Frau würde vielleicht allein stehen bleiben, als erste einer langen Reihe von frommen Menschen.

Aber dort, wo die Kantate endet, muss die Predigt notwendiger Weise weitermachen, wo der anonyme Textdichter die Feder niedergelegt und Johann Sebastian Bach die Finger von den Tasten nimmt, geht die biblische Geschichte noch weiter. Denn die letzten Worte Jesu haben sie ihm abgeschnitten, aus dem Mund genommen, weil es vielleicht in den Ohren barocker Frömmigkeit zu sehr nach Selbstsucht, Egoismus und Eigenliebe klingt – all das ist in evangelischen Kirchen bis heute ja verpönt: Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Die fromme Weltflucht der jungen Frau bekommt hier eine notwendige Grenze aufgezeigt, und überhaupt scheint all das, was Jesus da sagt, Grenzen zur einen und zur anderen Seite aufzurichten: Unsere Ideale, unsere Prioritäten im Leben finden dort eine Grenze, wo wir unsere eigenen Lebensziele und Lebensentwürfe, unseren politischen Ziele, uns selbst oder andere Menschen vergötzen und sie damit hoffnungslos und am Ende für alle heillos überfordern. Unser soziales Engagement ist nur soweit biblisch und vom Auftrag Jesu gedeckt, bis es uns an den Rand des Burnouts und der totalen Selbstaufgabe führt. Und unserem nötigen, natürlichen Drang, unsere eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, darf nur soweit gehen, wie es nicht auf Kosten anderer geschieht. 

An welcher Grenze wir als Einzelne besonders gefährdet sind – das möge jeder für sich selbst herausfinden, genauso wie jeder selbst sich eine Welt ausmalen möge, in der diese Balance nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen, in den politischen und wirtschaftlichen Systemen und Strukturen, gehalten wird. 

Liebe Gemeinde, was für ein Auftakt am Anfang. Und was für ein sprödes Ende. Auf dem Marktplatz in Jerusalem gab es für die Zuschauer keine Wunder, keine Brotvermehrung, keine wundersame Heilung – aber einiges zum Nachdenken und die Erinnerung daran, dass das Leben mit Christus ein Balanceakt ist und bleibt, dass wir gefährdet sind, mal von der einen, mal von der anderen Seite runterzufallen. Und dass sich diese Spannung, in der wir leben, nicht so einfach durch einen goldenen Mittelweg oder gar das goldene Mittelmaß auflösen lässt, sondern durch ein aktives Suchen nach dem Willen Gottes für diese Welt, die ernsthafte Selbstprüfung, wohin wir jeweils unterwegs sind und den Austausch mit anderen.

Dieser Weg kann kein Mensch allein beschreiten, und so soll doch der Chor das Schlusswort in dieser Predigt haben und stellvertretend für uns alle die Voraussetzung benennen, auf der allein ein gutes, segensreiches und heilvolles Leben in dieser Welt und darüber hinaus möglich ist:
Kyrie eleison – Herr, erbarme dich.

Amen.

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