Sonntag, 10. November 2013

Die Witwe. Die Wut! Der lange Atem...



Gottesdienst zum drittletzten Sonntag des Kirchenjahres,
gestaltet mit den Kölner Himmelstöchtern

Jesus erzählte ihnen aber ein Gleichnis, um ihnen zu sagen, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten: In einer Stadt gab es einen Richter, der Gott nicht fürchtete und keinen Menschen scheute. Und in dieser Stadt gab es auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaffe mir Recht gegenüber meinem Gegner! Eine Zeit lang wollte er nicht. Danach aber sagte er sich: Wenn ich auch Gott nicht fürchte und keinen Menschen scheue - dieser Witwe will ich, weil sie mir lästig ist, Recht verschaffen, damit sie am Ende nicht noch kommt und mich ins Gesicht schlägt. Und der Herr sprach: Hört, was der ungerechte Richter da sagt! Sollte nun Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht Recht verschaffen, und sollte er ihre Sache aufschieben? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht verschaffen, und zwar unverzüglich. Bloß - wenn der Menschensohn kommt, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?


In einer Stadt gab es einen Richter. Ein kurzer Satz reicht, und wir sind mitten im Leben.

In einer Stadt gibt es einen Richter, der Gott nicht fürchtet und keinen Menschen scheut. Und es gibt auch eine Witwe, die immer wieder zum ihm kommt und sagt: "Verschaffe mir Recht!" - aber er will nicht.

In einer Firma gibt es einen Chef, der viel von seinen bevorzugten Mitarbeitern hält und wenig von Gleichstellungsplänen. Und in dieser Firma gibt es eine Mitarbeiterin, die immer wieder zu ihm kommt und fragt: "Wann werde ich bei Beförderungen berücksichtigt, wann wird meine Leistung anerkannt?" -  aber er will nicht.

In einer Klasse gibt es eine Lehrerin, die viel von ihrer Berufserfahrung und Menschenkenntnis hält und die mündlichen Noten für das ganze Schuljahr meist nach der ersten Woche vergeben hat. Und in dieser Klasse gibt es auch einen Schüler in der letzten Reihe, der immer wieder zu ihr kommt und sagt: "Wenn irgendwer stört, bin ich immer der, der Schuld ist. Und wenn ich mich mal melde, werde ich nie drangenommen – benoten Sie endlich mal gerecht!" Aber sie will nicht.


Bernd Kasper / pixelio.de
 

Liebe Gemeinde, der Gedanke an ungerechte Richter, die nach eigenem Gutdünken, nach Tagesform und Lust und Laune Anträge annehmen oder ablehnen und damit über Schicksale entscheiden, dieser Gedanke hinterlässt bei mir ein ungutes Gefühl. Genauso wie der Gedanke an Vorgesetzte oder an irgendwelche Menschen in Machtpositionen. Ich finde es trotzdem wichtig, dass der Richter hier im Gleichnis genannt wird – das macht die Geschichte realistisch, denn es gibt sie ja, Gott sei es geklagt. Dem Richter wird hier kein literarisches Denkmal gesetzt, er bleibt bis zum Ende und darüber hinaus unsympathisch. Denn er lenkt zwar ein – aber nicht, weil er die Not der Witwe ernst nimmt, weil er einsieht, dass vielleicht ihr ganzes Überleben von seinem Richterspruch abhängt. Hört, was der ungerechte Richter sagt, sagt Jesus: Dieser Witwe will ich, weil sie mir lästig ist, Recht verschaffen, damit sie am Ende nicht noch kommt und mich ins Gesicht schlägt.

Und ich höre, was er sagt, und finde es eklig, abstoßend, erschreckend.



Jesus spricht: Hört, was der ungerechte Richter sagt. Sollte nicht Gott…



Und hier erschrecke ich noch mehr. Der ungerechte Richter – und Gott im selben Atemzug. Ich höre, wie es weitergeht, wie es weitergehen muss, theologisch korrekt: Gott ist natürlich kein ungerechter Richter und wird sich deswegen natürlich umso mehr um seine Menschen kümmern. Aber eine Schrecksekunde lang öffnet sich in dem Gleichnis ein kleiner Spalt für eine Frage, die vielleicht noch schwerer zu ertragen ist, noch tiefere Wunden reißen kann als die Frage, ob es Gott überhaupt gibt. Eine Frage, die auch Abraham vor Sodom bewegt: Sollte etwa Gott selbst ungerecht sein? Kann es sein, dass es zwar einen Gott gibt, aber dass der gar nicht so gut ist, wie wir immer singen und tun, sondern im besten Fall uninteressiert, im schlimmsten Fall amüsiert über das Leiden seiner Menschen? Ich glaube, dass Jesus, als er das Gleichnis erzählt, diese Frage in Kauf nimmt, denn sie stellt sich doch. Damals wie heute.

Günther Gumhold / pixelio.de


In Auschwitz, kurz nach der Befreiung des Lagers, sitzen einige der ganz wenigen überlebenden Rabbiner in einer Baracke, und sie tun das, was jüdische Geistliche und Gelehrte in der langen und schweren Geschichte des Volkes Israel mehrfach getan haben: Sie machen ihrem Gott den Prozess. Sie sitzen zu Gericht über ihn wegen des Blutbades unter seinen Kindern, sie erheben Anklage gegen ihn wegen Feindseligkeit, Grausamkeit und Gleichgültigkeit.

Im Morgengrauen wird das Urteil verkündet: "Wegen der ungeheuerlichen Unterlassungen, die er sich an seinen Kindern hat zuschulden kommen lassen, wird der Heilige, gelobt sei er, mit sofortiger Wirkung aus der Gemeinschaft ausgestoßen." Und es war, als hielte der Kosmos den Atem an.


Jesus fragt: Wenn der Menschensohn kommt, meinst du, er wird Glauben finden auf Erden? Ist es Unglauben, wenn jemand die Trümmer seines ganzen Lebens Gott ins Gesicht schleudert und ihn für schuldig befindet? Wenn der Glauben an den lieben Gott zerbricht, in dem Moment, in dem ein Pfarrer die Tür schließt und die Hand auf das Knie seiner Konfirmandin legt? In dem Moment, in dem ein Arzt mit Sorge im Blick sagt: „Es sieht nicht gut aus?“ In dem Moment, in dem alles zu schnell geht und die Bremsen versagen und nach einem dumpfen Knall nichts mehr ist?

Liebe Gemeinde, vielleicht hat die Witwe aus der Stadt mit dem ungerechten Richter Freunde, die ihr sagen: Gib es auf. Du bist und bleibst ja auf jeden Fall moralisch im Recht. Vielleicht sagt sich die Mitarbeiterin in der Firma mit dem kurzsichtigen Chef irgendwann: Das ist es nicht wert, und reicht die Kündigung ein, weil keine Abfindung und Hartz IV immer noch besser ist, als jeden Tag mit Magenkrämpfen zur Arbeit zu gehen. Und vielleicht macht der Schüler mit der ungerechten Lehrerin irgendwann dicht, weil er sich sagt: Es bringt sowieso nichts, und gibt ihrer Einschätzung und ihrer Benotung letzten Endes recht.



Aber die Witwe gibt nicht klein bei. Immer wieder rückt sie dem Richter auf die Pelle, lässt ihm keine Ruhe, nervt ihn und erhebt ihre Stimme und ihre Faust, gegen alle Erwartungen, gegen alle Vernunft, gegen alle Umgangsformen. Und sie erhält Recht.



In Auschwitz erheben die Rabbiner Anklage gegen Gott. Im Morgengrauen wird das Urteil verkündet: "Wegen der ungeheuerlichen Unterlassungen, die er sich an seinen Kindern hat zuschulden kommen lassen, wird der Heilige, gelobt sei er, mit sofortiger Wirkung aus der Gemeinschaft ausgestoßen." Und es ist zunächst, als hielte der Kosmos den Atem an. Dann seufzt der Vorsitzende und sagt: „Kommt, jetzt gehen wir beten.“



Liebe Gemeinde, manchmal gehört zum Glauben auch ein langer Atem und viel Geduld. Das war schon immer so – und Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis, um ihnen zu sagen, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollen. Und ins Gebet hinein gehört manchmal auch die Wut, die Enttäuschung, die Bitterkeit darüber, dass dieses Leben und diese Welt so sind, wie sie sind. Dafür gibt es Vorbilder. Die lärmende, lästige, wütende Witwe. Abraham, der Gott herausfordert und ihn auf seine eigene Verheißung festnagelt. Jakob, der eine ganze Nacht lang am Ufer des Jordans mit Gott ringt und ihn festhält und sagt: „Ich lasse dich nicht los – es sei denn, du segnest mich!“ Die vier Freunde des Gelähmten, die Jesus aufs Dach steigen. Die namenlosen Beterinnen und Beter in den Psalmen, die laut rufen: Schaffe mir endlich Recht! Die Rabbiner von Auschwitz, die ihrer Verzweiflung und ihrem Zorn Luft machen – die sich aber das Gebet nicht nehmen lassen.


IESM / pixelio.de


Wenn der Menschensohn kommt, meinst du, er wird Glauben finden auf Erden? fragt Jesus.
Und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn er kommt. 
Ohne Brausen, ohne Getöse, nur mal so, zum Gucken,
ob er Glauben findet auf Erden?
Und ich stelle mir vor: 
Er geht durch die Straßen, 
vorbei an mächtigen, geputzten Kirchenfassaden, 
hört überall Glocken zur vollen Stunde, 
sieht goldene Kreuze auf und unter der Kleidung, 
und kümmert sich gar nicht drum, 
und stellt sich stattdessen mitten in eine Gruppe Menschen, 
die mit Wut und Transparenten 
vor einem Regierungsgebäude oder einem Rathaus stehen, 
stärkt ein paar müde Knie, 
damit sie noch lange da stehen können, 
gibt ein bisschen Hoffnung in ihre Wut 
und gibt ihnen langen Atem, 
damit sie noch lange rufen können: 
Gerechtigkeit jetzt! 
Kommt an ein Krankenbett, 
in dem einer liegt, 
von dem die Ärzte sagen: 
Es lohnt nicht mehr. 
Stellt sich hinter seine Frau, die ihm die Stirn wischt und die Windeln wechselt 
und legt die Hand auf ihre Schulter und wartet mit ihr. 
Setzt sich mit an einen Küchentisch, 
zwischen zwei, die reden wollen, reden müssen, aber nicht können, 
und vertreibt die sprachlosen Geister. 
Und ich stelle mir vor, wie er sich langsam wieder auf den Weg macht 
und alles mitnimmt. 
Alles Schluchzen und Klagen und Toben 
und alle stillen Seufzer von denen, die nicht aufgeben. 
Wenn der Menschensohn kommt, 
meinst du, er wird Glauben finden auf Erden?
Ja!



Die Geschichte vom Auschwitzer Prozess gegen Gott ist nacherzählt nach einem Leitartikel von Heribert Prantl in der Süddeutschen vom 24.12.2003.

Predigtsoundtrack


Himmelstöchter: Ave maris stella
Les Misérables: One day more - toller polnischer Flashmob!

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