Samstag, 12. April 2014

Von Dämonen, Monstern und anderem Getier - fremde Mächte in deutschsprachigen Popsongs

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WUNDERGESCHICHTEN - (M)EINE ENTDECKUNGSREISE

Ich habe lange Zeit Problem mit Wundergeschichten gehabt, genauer gesagt mit Exorzismen, also solchen Geschichten, in denen Jesus Dämonen austreibt. Dabei hat mich weniger die mythologische Sprache gestört (ich habe noch in der Schule Bruno Bettelheim rauf und runter gelesen und dabei gelernt: (Nicht nur) "Kinder brauchen Märchen"), meine Schwierigkeiten lagen an anderer Stelle: Zum Einen hat mich die Stigmatisierung offensichtlich psychisch kranker Menschen gestört, zum Anderen die mit Heilungsgeschichten unweigerlich verbundene Theodizeefrage, die Frage: Warum ging es da, und warum geht es in anderen Fällen nicht? Beide Problemkreise sind für mich immer noch relevant, im Blick auf die zweite Frage habe ich aber gelernt, dass die Theodizeefrage letzten Endes nicht auf einer abstrakt-argumentativen Ebene generell gelöst, sondern nur im Einzelfall beantwortet werden kann - ich finde also die Klagepsalmen hier weitaus hilfreicher als Leibniz

Im Blick auf die erste Problematik, die Sache mit der Stigmatisierung, habe ich einerseits viel durch meine Arbeit in der Krankenhausseelsorge, andererseits viel von der modernen Wunderrezeption gelernt, die nicht so sehr über Bultmann, sondern vor allem über eine allzu simple Vorstellung von Entmythologisierung hinausgeht: Zum Beispiel bei Gerd Theißen, der, seine Exorzismendeutung in einer Predigt über Mk 1,32-39 zusammenfassend, über "Dämonen" sagt:
"Dämonen sind eine mythische Deutung dissoziativer Phänomene, einer Spaltung unseres Bewusstseins, bei denen ein Teil in uns keinen Zugang zu anderen Teilen unserer Person hat. Die Vertreibung von Dämonen ist eine Aufhebung solcher dissoziativer Zustände. Sie bedeutet: Menschen werden wieder Herr in ihrem eigenen Leben."
Ich habe auch gelernt, dass in der sog. "Dritten Welt" der seitens der abendländischen Theologie immer wieder mit großer Verve unternommene Versuch, eine "vernünftige", entmythologisierte Wunderdeutung durchzusetzen, nicht selten mit der Hemmung befreiungstheologischer Emanzipationsbewegungen, die durch die Wundergeschichten inspiriert werden, sich mit dem vermeintlich Faktischen nicht abzufinden, einhergeht. So stellt Wolfgang Schoberth fest:
"Die prinzipielle Kritik am Wunderglauben erweist sich auch als eine eurozentristische Perspektive, die den Glaubensstil gebildeter Europäer mit christlicher Religion insgesamt identifiziert. [...] Säkularisierung wird so zum Moment kolonialistischer Herrschaft, das den Leidenden Hoffnung und Kraft raubt. Zur materiellen Enteignung tritt die geistliche. [...] Die Zeichen und Wunder Jesu [...] öffnen die Augen für den Gott, der die Welt verwandelt."
Der Aufsatz von Schoberth in dem von Werner H. Ritter und Michaela Albrecht herausgegebenen Band Zeichen und Wunder. Interdisziplinäre Zugänge (Göttingen 2007, Biblisch-Theologische Schwerpunkte 31) ist bei google Books fast komplett lesbar; ich kann das Buch aber uneingeschränkt zur Anschaffung empfehlen. 

Ein dritter "Meilenstein" auf meiner Reise in die neutestamentlichen Wundergeschichten war eine Entdeckung, die ich zweier meiner Lieblingstheologen verdanke (Karl Barth und Peter Bukowski) zu verdanken habe und die im Kontext der sog. Accra-Erklärung von 2004 stand; der Reformierte Weltbund erklärt dort zur kapitalistisch-globalisierten Wirtschaftsordnung der Gegenwart:
"Diese Ideologie, die von sich behauptet, es gäbe zu ihr keine Alternative, verlangt den Armen und der Schöpfung unendliche Opfer ab und verspricht fälschlicherweise, die Welt durch die Schaffung von Reichtum und Wohlstand retten zu können. Sie tritt mit dem Anspruch auf, alle Lebenssphären beherrschen zu wollen und verlangt absolute Gefolgschaft, was einem Götzendienst gleichkommt. [...] Als Wahrheits- und Gerechtigkeitssuchende, die sich die Sichtweise der Machtlosen und Leidenden zu Eigen machen, sehen wir, dass die gegenwärtige Welt-(Un)Ordnung auf einem außerordentlich komplexen und unmoralischen Wirtschaftssystem beruht, das von (einem) Imperium verteidigt wird. Unter dem Begriff "Imperium" verstehen wir die Konzentration wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Macht zu einem Herrschaftssystem unter der Führung mächtiger Nationen, die ihre eigenen Interessen schützen und verteidigen wollen."
Peter Bukowski hat in einem großartigen Vortrag auf dem Kölner Kirchentag auf Karl Barth hingewiesen, der in den Nachlassfragmenten zu KD IV,4 eine Lanze für mythologisches Reden bricht. Er schreibt dort (§78, S. 363ff.) über die "herrenlosen Gewalten" und stellt fest: 
Das Neue Testament "sieht und versteht die Menschen als Schiebende nicht nur, sondern auch als Geschobene - als Treibende nicht nur, sondern als Getriebene … Ohne deren Verantwortlichkeit und Schuld in Frage zu stellen, sieht es hinter und über jenen … jene unangreifbaren, aber höchst wirksamen Potenzen, Faktoren und Agenten, jene imaginären, aber gerade in ihrem imaginären Charakter erstaunlich aktiven ,Götter' und ,Herren'"
Ein weiterer Schritt für mich war die Arbeit in der Krankenhausseelsorge. Peter Bukowski hat uns im Predigerseminar beigebracht, "die Bibel ins Gespräch zu bringen", den unglaublichen Reichtum an menschlichen Erfahrungen, die vor dem Horizont des Glaubens gedeutet werden, zu benutzen, der Menschen dabei hilft, ihre Situation in Worte zu fassen. Und mir ist dort aufgefallen, dass die (bewusst mythologische/metaphorische) Rede von "Dämonen" Menschen hilft, eine Art dissoziativen Transfer vorzunehmen, einen Schritt, der ihnen hilft, sich selbst nicht mit ihrer Krankheit zu identifizieren. Wer in dieser Hinsicht weiterlesen will: Auch Rudolf Bohren beschreibt in seinem Buch Aus der Tiefe der Zisterne die "Schwermut" als eine Art machtvolles Gegenüber, die katholische Pastoraltheologin und Psychiaterin Doris Nauer schafft es in ihrem Grundlagenwerk Seelsorge. Sorge um die Seele (Stuttgart 2007) sogar, den Exorzismus pastoralpsychologisch zu rehabilitieren. 


LEKTIONEN IN DÄMONOLOGIE VON PETER FOX, ICH + ICH UND ROSENSTOLZ

Obwohl Untersuchungen immer wieder zeigen, dass auch der moderne Mensch offensichtlich sehr schnell bereit ist, gerade im Krankheitsfall auf irrationale Erklärungsmuster und Hoffnungsperspektiven zurückzugreifen (Globuli und eine verheerende Vulgärpsychosomatik im Stil von "Krankheit als Weg" sind dabei nur die prominentesten Beispiele). Wie konsensfähig und massentauglich explizit mythologische Deutungsmuster sein können, ist mir erst auf einer Autofahrt nach Halle an der Saale aufgefallen: Peter Fox' Stadtaffe, eins meiner absoluten Lieblingsalben, lief auf autorepeat, und irgendwann hörte ich bei Das zweite Gesicht mal genauer hin:


In dem Song, in dem es, grob gesagt, um Schadenfreude, falschen Ehrgeiz und andere Untugenden geht, heißt es in Bridge und Refrain: 


Denn es steckt mit dir unter einer Haut,
Du weißt, es will raus ans Licht.
Die Käfigtür geht langsam auf, da zeigt es sich,
Das zweite Gesicht

Ein Biest lebt in deinem Haus,
du schließt es ein, es bricht aus.
Das gleiche Spiel, jeden Tag,
Vom Laufstall bis ins Grab.


Darüber fiel mir ein Lied von Rosenstolz ein. Auch da geht es, in Aufnahme volksmündlicher Farbenlehre, um Das gelbe Monster Neid als Antriebskraft destruktiver Verhaltensweisen.


Auch Rosenstolz wissen ein Lied davon zu singen, wie frustrierend der Kampf gegen den psychischen Eroberungskrieg einer fremden Macht sein kann:

Ich halt das nicht mehr lange aus,
Ich werf das gelbe Monster raus!
Es bohrt sich mitten in mein Herz
Und es fängt von vorne an,
dass ich gar nicht anders kann:
Der Neid verändert mein Gesicht -
das gelbe Monster bin ja ich! 

Und es macht mich blind,
lässt mich böse sein,
macht mich zum Sklaven 
meiner eigenen Gedankenwelt,
bis sie zusammenfällt
und mich nichts mehr hält.

Eine weitere theologische Pointe bei diesem Song: Der zweite Teil erinnert deutlich an die ursprüglich auf Augustin zurückgehende und von Martin Luther im 16. Jahrhundert wiederentdeckte Rede vom Sünder als homo incurvatus in se, dem "in sich selbst verkrümmten Menschen". Soll mal einer sagen, Rechtfertigungstheologie würde heute keinen mehr interessieren...

Ein drittes Beispiel ist mir erst vor ein paar Monaten in die Hände gefallen, bzw. zu Ohren gekommen: Auf dem ach-so-schönen Album Vom selben Stern von Ich + Ich gibt es ein Lied mit dem prägnanten Titel Dämonen. 


Das ist besonders interessant, weil es hier, im Gegensatz zu Peter Fox und Rosenstolz, nicht (nur) um Untugenden, sondern um Krankheit geht, genauer gesagt um Sucht - und weil die Metaphorik an die Grundbedeutung des griechischen Wortes für "Teufel" erinnert: διάβολος heißt nämlich so etwas wie "Durcheinanderbringer"...

Ich kämpfe gegen die Dämonen,
sie sollen nicht bei mir wohnen, sondern gehen.
Sie durchbrechen die Kontrollen,
sie machen, was sie wollen,
sie verdrehen [...]
Sie durchkreuzen die Gedanken,
bis man die letzten Schranken vergisst
[...]
Sie halten mich ganz klein 
und verstecken bei mir Wein
und Nikotin.
Ich will nichts mehr davon finden
Sie sollen sofort verschwinden 
und mich nicht stören.
Ich wünsch sie auf der Stelle in der Hölle,
wo sie hingehören.

Bezeichnend ist, dass in keinem der Lieder eine Lösung gefunden wird. Sie beschränken sich auf die Beschreibung vergeblicher Strategien - der Exorzismus bleibt aus, die Dämonen entziehen sich allen Selbstbefreiungsversuchen. In diesem Sinne: Ite, missa est!

2 Kommentare:

  1. Insgesamt eine sehr spannende Betrachtung. Einen Aspekt solltest du aber vielleicht überdenken. Aus meiner Sicht ist Homöopathie nicht einfach irrational. Ich habe gesehen, wie sich mein Hautwiderstand verändert hat, wenn bestimmt Globulie in die Nähe des Messinstruments gebracht wurden und bei anderen nicht und habe erlebt, wie mir genau diese Kügelchen oder Spritzen geholfen haben, sowohl akute aber gerade auch eine immer wieder aufgetretenen Krankheit dauerhaft loszuwerden. Es gibt auch Untersuchungen über die Wirksamkeit von bestimmten homöopathischen Medikamenten auch bei Tieren. Ich kann deren Wirkungsweise nicht erklären, halte es aber für irrational anzunehmen, dass der jetzige Erkenntnisstand von Medizin und Biologie der endgültige ist. Vernünftig ist für mich das weitere Forschen und die (natürlich kritische) Offenheit auch für neue Erkenntnisse und Paradigmenwechsel.

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  2. Sehr spannender Beitrag, den ich bestimmt noch mehrmals lesen werde. Anmerkungen:

    1) Viele der biblischen Wunder waren für mich lange ein Glaubenshindernis ersten Ranges. Physik galt immer, gilt und wird gelten. Erst seit mir jemand einen Weg zu Glauben incl. Physik aufgezeigt hat, bin ich in der Kirche weiter als bei schweigendem Burgfrieden.
    2) Karl Barth hat sich mit seiner Aussage, die Theologie brauche sich vor der Naturwissenschaft nicht zu rechtfertigen, für mich völlig erledigt. Der Satz stimmt zwar rein wörtlich, aber der Subtext ist auch klar. Ich habe verstanden. Mit Bedauern und mit Bewunderung für sein Lebenswerk, abgehakt. Nur ein Koloss auf tönernen Füßen.
    3) Inzwischen sehe ich die Wundergeschichten entspannter. Das Christentum kann darauf bei Strafe seines Untergangs nicht verzichten. Nur für mich und ein paar andere ist das nichts.
    4) In Nagib Machfus' genialem Meisterwerk: "Die Kinder unseres Viertels" spielen Moses, Jesus und Mohammed (jeweils unter Pseudonym) herausragende positive Rollen. Jesus ist derjenige, der die Menschen von ihren Dämonen befreit. Vielleicht die beste Charakterisierung von außerhalb des Christentums, die ich je gehört habe.

    Thomas

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