Mittwoch, 11. Juni 2014

Smultronställe

Ein besonders schönes schwedisches Wort, für das es meines Wissens keine direkte Übersetzung gibt, ist smultronställe. Wörtlich übersetzt heißt das "Walderdbeerstelle". Gemeint ist ein Ort, an dem ich mich wohl fühle und Kraft tanken kann, allerdings auch einer, den ich ein kleines bisschen für mich haben will - smultronställen sind kleine Geheimnisse, die nicht übermäßig eifersüchtig bewacht, aber doch wertvoll gehalten werden wollen. Das kann ein Café sein, das irgendwo versteckt liegt und zum Innehalten einlädt, aber auch eine Waldlichtung, ein Felsen mit einer besonderen Aussicht, eine vergessene Bank unter der Blätterkuppel einer Trauerweide. Oder der Lieblingsplatz in der Kirche. Wenn ich, wie jetzt, lange überlegen muss, wo meinen nächsten greifbaren smultronställen sind, dann weiß ich: Es wird wieder Zeit, neue auszuprobieren, mit ein bisschen offeneren Augen durch die Gegend zu laufen, und ab und zu Probe zu sitzen.


Immerhin: Eine smultronställe im ganz wörtlichen Sinn habe ich gestern nur 200 Meter von meiner Haustür entfernt direkt am Bürgersteig gefunden. Zum Innehalten und Dableiben lädt die Stelle nicht unbedingt ein, und beim Fotografieren wurde ich misstrauisch durch den angrenzenden Gartenzaun beäugt. Aber irgendwie hat mir gestern die Einsicht gereicht: Auch hier gibt's smultron. Dann kann die Welt so schlimm nicht sein. Made my day!

Es gibt für mich auch literarische smultronställen. Texte, in denen die Worte ein wenig zur Seite rücken und Platz für mich machen, Sprachbilder, die mich zum Drinverkriechen einladen, wie in eine Höhle aus Bettdecken und Kissen, Gedanken, die es in mir weit werden und mich durchatmen lassen. Dazu gehört für mich zum Beispiel Jesaja 25,4: Denn du bist der Geringen Schutz gewesen, der Armen Schutz in der Trübsal, eine Zuflucht vor dem Ungewitter, ein Schatten vor der Hitze, wenn die Tyrannen wüten wie ein Unwetter im Winter. Oder das Abendgebet, das ich früher oft gebetet habe. Und vielleicht heute einfach wieder aus der mentalen Mottenkiste hole. Schon allein deshalb, weil es mich an das Kinderbuch erinnert, mit dem wahrscheinlich ein nicht geringer Teil meiner ganz privaten Theologie irgendwie zu tun hat: Nils Holgersson.

I frid vill jag lägga mig ner
och i frid ska jag somna in.
Ty du, Herre, låter mig bo i trygghet
under dina vingars skugga.

(In Frieden lege ich mich hin,
und in Frieden schlafe ich ein.
Denn Du, Herr, lässt mich in Geborgenheit wohnen
unter dem Schatten deiner Flügel.)

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