Mittwoch, 2. Juli 2014

Wenn möglich, bitte wenden!


Als Einstimmung auf Sonntag (Ez 18) ein kleiner Text vom letzten Slam-Poetry-Gottesdienst. Ausgangspunkt war eine seit dem Hebräischkurs im ersten Semester schwelende Textidee - denn im Hebräischen heißt Prophet nav'i. Das schreit ja förmlich nach Bearbeitung! In Schriftform nicht ganz wiederzugeben ist der Mitmachcharakter - der Kehvers Wenn möglich, bitte wenden! wurde auf Handzeichen jedes Mal von der Gemeinde gesprochen. 

(c) Volker Derlach

WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
Du fährst.
Der Fahrtwind krault dir das Haar,
die Sonne scheint dir auf den Arm,
alles ist super, alles ist wunderbar!
Und während du cool
durch die City cruist
mit dem Radio mitgroovst
und den Takt schlägst mit deinen Händen
hörst du eine Stimme, die sagt:
WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
Diese Stimme.
Du kennst sie, du liebst sie,
du hörst ihr gern zu, sie
heißt Susi
und wohnt in dem kleinen Kasten
unter deiner Windschutzscheibe.
Wie oft hat sie dich auf langer Fahrt
auf den rechten Weg gebracht.
Und ob du schon fuhrest im finsteren Tal,
hast Du keine Angst, denn mehr als ein Mal
hat sie dich mit untrüglichem Gespür
sicher nach Hause geführt.
Und mit brüchiger, bebender Stimme
singst Du eine Lobeshymne
für Susi,
die Königin unter den Navigationsgeräten.
Und Du stellst dir vor, dein Leben hätte ein GPS,
und egal, wo du bist, es
würde dir zeigen, wo’s lang geht,
es wüsste alle Sackgassen
und Einbahnstraßen
alle Flucht-
und Um-
und Schleich-
und Rettungswege,
eine Stimme, die Dich warnt
und Dir vor dem bösen Ende sagt:
WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
Und dann denkst Du an all die Situationen im Leben,
in denen es sowas geben
müsste, einen Kompass, ein Navi,
eine Stimme, die zur richtigen Zeit ruft:
WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
Du denkst an diese Nacht / in deiner Kindheit / als du nicht schlafen konntest / und dich gewundert hast über die komischen geräusche / und du ganz mutig sein und nachgucken wolltest / und Du fragst dich / ob du dir deine Unschuld / die Unschuld deiner Augen / ein bisschen länger hättest bewahren können / wenn jemand im letzten Moment gesagt hätte: WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN! / als Du die Klinke schon in der Hand hattest zum Schlafzimmer deiner Eltern…
Und du denkst an Boris aus eurer Klasse / der immer ein bisschen zu dick / ein bisschen zu langsam / ein bisschen zu unbeherrscht war / um wirklich beliebt zu sein / und du fragst dich / ob es nicht so weit gekommen wäre / er seinen Hund nicht ersäuft / das Asylantenheim nicht angezündet / das Gewehr im Schrank gelassen hätte / wenn damals, als ihr ihn über den Schulhof gejagt habt / jemand gesagt hätte: WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
Und wieder hörst Du die Stimme,
ganz leise:
WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN.
Und sie kommt nicht von dir,
sondern von Susi,
du hörst ihr zu, sie
klingt irgendwie müde,
vielleicht aber auch rüde,
oder auch resigniert,
und bevor du reagierst
wird der Bildschirm schwarz
und du bildest dir ein,
du hörst, aber das kann ja nicht sein,
ein leises: „Dann eben nicht.“
Dann siehst Du die Wand,
versuchst noch zu lenken,
schaffst gerade noch zu denken:
„Das ist alles nur in meinem Kopf!“
Und dann knallt er auf das Lenkrad
und alles ist still.
Du wachst auf.
Weißt nicht, wo du bist,
weiß bist du, steckst in Gips,
vom Kopf bis zum Zeh, und
aaaau, tut das weh,
kannst dich kaum bewegen,
bist wundgelegen
und in einer Ecke in deinem Zimmer
flimmern die Nachrichten
über den Fernseher:
Die AfD holt acht Prozent,
die ganze Ukraine brennt,
in einer Welt, die sich verrennt,
die Unrecht nicht beim Namen nennt,
wo keiner seinen Müll mehr trennt
und niemand mehr Heinz Erhardt kennt,
in einer Welt, die schier zerfällt
in Trümmer und Stücke und
- aaah, dein Rücken! –
und du tastest nach Fernbedienung
oder Schwesternknopf,
irgendwas, mit verbundenen Händen,
dein ganzer Körper ein einziger Satz:
WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
WENN MÖGLICH, BITTE WENDEN!
Aber nichts passiert?!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen