Freitag, 31. Oktober 2014

Gerechte Karikaturen: Traueransprachen als Porträtskizzen





Erkennen Sie diese Dame? Wahrscheinlich nicht, denn: Sie kennen sie ja nicht. Obwohl - manche hier Lesende sind ja Theolog_innen, wieder manche davon wissen um das konfessionelle Profil und die theologischen Vorlieben des hier Schreibenden, haben also aufgrund des Kontextes vielleicht eine Idee? 

Immer noch nicht?



Na denn. Es ist Lollo von Kirschbaum, kongeniale Gefährtin von Karl Barth. 


Wer jetzt nochmal drauf nach oben scrollt, erkennt sie - trotz aller Weglassungen, trotz aller Abweichungen vom Original: Das Lächeln ist ein bisschen weniger breit, die Nase charmant korrigiert, die Augen etwas größer, die Zähne weniger betont. Die Zeichnung wirkt dadurch weniger lebendig, etwas zu schön gezeichnet, weil Charakteristika zurücktreten. Das hat aber etwas damit zu tun, dass das genau die Dinge sind, die man bei einer Karikatur vor allen anderen übertreiben würde, dazu aber später mehr. Wer das Originalfoto lange genug anschaut, wird gar nicht mehr anders können, als in der Skizze oben die Person wiederzuerkennen. Das hat was mit dem Gehirn zu tun: Skizzen bauen auf eine Kooperation mit dem Betrachtenden, der das, was offen geblieben ist, vor seinem inneren Auge ausfüllt. Man macht also im Kopf das hier:



Die Skizze ist dabei gleichzeitig leichter und schwerer als eine "gewöhnliche" Zeichnung. Leichter, weil es weniger Striche sind, da man sich auf die Kooperation mit den Betrachtenden verlassen kann - und weil gerade Zeichnungen von Gesichtern komplizierter und aufwändiger sind als andere, denn unser Gehirn ist auf Gesichter besonders "geeicht" und registriert Abweichungen besonders deutlich, sodass sehr schnell ein gestörter Gesamteindruck entsteht. Desginer oder Zeichnerinnen, die sich mit menschlichen Figuren in 2D oder 3D beschäftigen, wissen um und fürchten das Phänomen des uncanny valley. Das besagt, dass es bei menschenähnlichen Darstellungen auf einem recht hohen Niveau einen Punkt kurz vor der absolut fotorealistischen Abbildung gibt, an dem die Akzeptanz beim Betrachter radikal sinkt und in Abwehr umkippt. Klassisches Beispiel ist zum Beispiel eine Handprothese, die anatomisch sehr genau ist, aber aufgrund der unnatürlichen Kunsttoffoberfläche und ihrer Unbeweglichkeit von nicht wenigen Menschen als abstoßend empfunden wird. Diesem Risiko entgeht man bei einer Skizze. Schwerer als ein Gemälde ist eine skizzenhafte Darstellung, weil man auswählen und sich für eine sehr geringe Anzahl von Strichen entscheiden muss - und gegen eine ganze Masse anderer. Man muss entscheiden: Welche Konturen, Flächen, Akzente sind besonders wichtig, sind die absolut notwendigen Guidelines, damit die Betrachtende das Bild in der vom Zeichner beabsichtigten Weise vervollständigen kann? In der obigen, etwas schematischen Skizze, sind einige Entscheidungen gefallen, in denen gleichzeitig natürlich sehr viele Spekulationen über die Persönlichkeit der Abgebildeten stecken. Der strenge Seitenscheitel wird rausgelassen, die prominenten Augenbrauen, verschmitzte Augen, ein breit lächelnder Mund mit recht schmalen Lippen - und die teils kokette, teils fast stereotyp die Gelehrte ausweisende Handhaltung. Die Bücher hätten auch noch mit dazu gekonnt, das hätte diesen Aspekt noch verstärkt.

In einer Traueransprache arbeite ich ähnlich. Ich bekomme meist eine Fülle von Informationen über den Verstorbenen - und muss auswählen, denn: Oft ist mir die Person nicht so gut bekannt, dass ich mich ohne die Lebendvorlage an einem Porträt versuchen würde. Das Risiko ist zu groß, dass bei einem an sich ganz realistischen Porträt wenige geringe Abweichungen dazu führen, dass die Zuhörer_innen ein gestörter Gesamteindruck entsteht, die Predigt also gewissermaßen im literarischen uncanny valley untergeht. Also versuche ich mich an einer Skizze. Voraussetzen muss ich dabei, dass das Bildmaterial, das mir Angehörige im Gespräch zur Verfügung stellen, einigermaßen repräsentativ für das Bild ist, das der Rest der Trauergemeinde hat. In der homiletischen Praxis heißt das, dass ich keine Lebensläufe verlese, sondern auf Anekdoten setze, also in der Predigt kurze Szenen skizziere, bei denen ich den Eindruck habe: Die erzählen etwas Grundlegendes über den Menschen, wie ihn seine Angehörigen erlebt haben. Ich wähle aus und verstärke vielleicht das eine oder andere. Das kann bis dahin führen, dass die Grenze zur Karikatur tangiert wird. In obiger Porträtskizze wäre das kein großer Aufwand, es würde reichen, die Zähne etwas prominenter darzustellen, die Nase etwas zu vergrößern und das Kinn deutlicher hervortreten zu lassen und vielleicht den Seitenscheitel zu betonen. "Karikatur" hat in dem Zusammenhang natürlich einen negativen Beigeschmack, wie "Ironie" in der Predigt ja auch. Aber ich gehe von dem Grundsatz des deutschen Karikaturisten Hans
Gutes Beispiel: Pfannmüllers
Karikatur von Theo Lingen
(c) wikipedia.de
Pfannmüller
aus, der einmal gesagt hat: "Karikieren darf nur, wer gerecht sein kann" - eine gute Karikatur entblößt also nicht oder macht lächerlich, sondern hebt liebenswerte Eigenheiten hervor, an die sich Bekannte gern erinnern. In der Situation der Trauerpredigt kann das manchmal für eine Art comic relief sorgen, ein Schmunzeln unter Tränen, das die Ambivalenzen der Trauer und der Erinnerung offen hält. Das muss natürlich dem individuellen Kontext entsprechen und ist deswegen nicht immer möglich. Und das setzt neben Fingerspitzengefühl auch einen guten Kontakt zu den Angehörigen voraus, das bedeutet unter Umständen auch, dass ich mir für manche Bildmotive eine Erlaubnis hole, etwa dann, wenn ich das Gefühl habe, dass eine sehr repräsentative Anekdote zu persönlich ist oder missverstanden werden kann. Und der Grundsatz der Gerechtigkeit gilt auch hier - Wilhelm Gräb hat einmal gesagt, bei Kasualien geht es um "Rechtfertigung von Lebensgeschichten". Das heißt für Trauergottesdienst und Bestattung, dass Ambivalenzen und Schattenseiten nicht krampfhaft verschwiegen werden - aber auch, dass der Liturg oder die Liturgin sich kein letztes Urteil über den Verstorbenen und seine Beziehungen anmaßt. 

Spannend finde ich den Gedanken der Skizze auch deswegen, weil eine Skizze ja in einem weitaus höheren Maß als etwa ein Ölgemälde die Kooperation mit den Betrachtenden voraussetzen: Sie vervollständigen das Bild, füllen die Lücken mit eigenen Bildern, Erfahrungen, Gefühlen. Auch in der Traueransprache predigt die Gemeinde mit, die Menschen bringen eigene Erfahrungen mit ein. Auch deswegen vermeide ich absolute Aussagen wie "NN war so und so". Und setze stattdessen auf Bilder - die dann wiederum Anknüpfungspunkte für die Theologie sein können, wenn eine charakteristische Szene aus dem Leben des Verstorbenen in eine biblische Szene überblendet.

Apropos Lollo von Kirschbaum: In seiner Traueransprache für sie, als sie nach einer langen zelebralen Erkrankung gestorben war, und die mit den berührenden Worten beginnt Jetzt ist sie unseren Blicken ganz entschwunden. Es war ein langes, langsames Weggehen, sagte Helmut Gollwitzer: 

"Als Lollo bei Karl Barth auf ein Denken stieß, das ganz von diesem Geheimnis [des Todes Jesu Christi] in Anspruch genommen war, da war sie gefesselt davon und wollte dabei sein und hat ihren wichtigen Beitrag geleistet zu einer Denkarbeit, die dem Leben erweckenden Weitererzählen des Sterbens unseres Herrn Jesus dienen kann."

Das ist für mich ein Paradebeispiel für eine gelungene Skizze: Entschiedene Striche, die das Bild einer leidenschaftlichen Frau und leidenschaftlichen Denkerin und Theologin zeichnen, die auch das Wagnis einer liebenswürdigen und würdigenden Karikatur riskieren ("gefesselt", "wollte dabei sein") - und gleichzeitig Raum lassen für Ambivalenzen: Für den kognitiven Abbau - und für die destruktive Seite der Leidenschaft von Kirschbaums nicht nur für Karl Barths Theologie, sondern auch für Karl Barth selbst, die sie auch "gefesselt" und diesem Leben nicht wenig Leid beschert hat und von der alle Anwesenden im Trauergottesdienst wussten. 

Sonntag, 26. Oktober 2014

Warum die Kirche eine Hochschule braucht



Zunächst: Ein Disclaimer. Das Folgende ist meine Privatmeinung und in keinster Weise eine Stellungnahme der Hochschule, deren Angehöriger ich bin. Man mag mich daher für befangen halten. Ich finde eher, dass Insiderkenntnisse eine Meinung erst recht interessant machen. Aber nun denn. 

„Theologie ist eine Funktion der Kirche“, darin stimmten Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer überein. In ihrem Geist wurde am 1. November 1935 die Kirchliche Hochschule Elberfeld eröffnet, mit einem Abendgottesdienst, der ursprünglich in der Gemarker Kirche hätte stattfinden sollen, wo anderthalb Jahre zuvor die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet worden war. Die staatlichen Fakultäten konnten nach der „Gleichschaltung“ und der damit verbundenen Unterwerfung unter eine dem Evangelium diametral widersprechende Ideologie kein kritisches Gegenüber mehr zu Kirche und Gesellschaft sein. Die Pressemeldung, am 27. Oktober 1935 im Barmer Sonntagsblatt erschienen, brachte das Anliegen auf den Punkt: 
„Die Kirche ist gerufen, für die Ausbildung ihrer Diener am Wort selbst zu sorgen. Diese Sorge ist der Kirche gerade heute aufgetragen, da die Theologischen Fakultäten an den Staatlichen Universitäten weithin mit solchen Lehrern besetzt sind, die den Deutschen Christen angehören. […] Die Gemeinden selber sollen sich aufrufen lassen, diese Arbeit der Kirchlichen Hochschule als ihre eigene Verpflichtung anzuerkennen.“ 
Die Gestapo verbot nicht nur den Gottesdienst, sondern auch, noch vor der Aufnahme des Lehrbetriebs, die Kirchliche Hochschule. Der Gottesdienst fand trotzdem statt, in einer kleinen Friedhofskapelle. Und Theologie getrieben wurde trotzdem, unter anderem Namen und in den Räumen einer leeren Freimaurerloge und dann, nach 1937, heimlich in Pfarrhäusern. 




Zeitsprung – dreißig Jahre zurück. 1905 eröffnete Friedrich von Bodelschwingh eine Kirchliche Hochschule auf dem Gelände der Betheler Anstalten. Auch hier sollten Theologen unabhängig von staatlichen Fakultäten und in ständigem Austausch und kritischer Begleitung der dortigen diakonischen Einrichtungen lernen. Auch diese Hochschule musste unter dem Druck der Nationalsozialisten 1939 ihre Tätigkeit unterbrechen. Im Jahr 2007 fusionierten beide Einrichtungen zur letzten verbliebenen Kirchlichen Hochschule nördlich der A 6. 

Im September 2014 hat die Evangelische Kirche im Rheinland einen Plan zur „Haushaltskonsolidierung“ vorgelegt (hier einzusehen). In Zeiten von Kirchensteuereinnahmen in Rekordhöhe will man für schlechte Zeiten vorsorgen und knapp zwölfeinhalb Millionen Euro einsparen. Neben vielen kleinen Wunderlichkeiten, die einen die Stirn runzeln lassen, gibt es einen Gesamteindruck, der mir persönlich Bauchschmerzen bereitet. Und zwar richtige. Knapp die Hälfte der zwölfeinhalb Millionen (wie gesagt, ich hab’s nicht mit Zahlen, correct me, if I’m wrong) soll nach meiner Rechnung aus Arbeitsbereichen abgezogen werden, die sich vorzugsweise an Menschen U30 wenden. Ein Teil dieses Pakets ist der Jugendförderplan: „Fördergelder sollen nicht mehr“, wie es vielleicht unbewusst abschätzig heißt, „nicht mehr in die Breite verteilt“ werden, stattdessen werden „Projekte […] gefördert, die modellhaften Charakter haben.“ Das klingt nach Kirche der Freiheit und dem penetranten Gerede von Leuchtfeuern, das vor einigen Jahren die Debatten beherrschte – das Kölner Jugendpfarramt hat in einem youtube-Video die Konsequenzen dieser Entscheidung erklärt. Zu dem Paket gehören auch Einsparungen in Höhe von 4,5 Millionen EUR (für alle Älteren: Das sind fast 9.000.000 Mark) im Bereich der evangelischen Schulen. Und eine Million, etwas mehr als die Hälfte der bisherigen Ausgaben, soll an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel eingespart werden. Die EKiR wünscht sich, dass die anderen Trägerkirchen diese Million übernehmen – wer weiß, vielleicht stellt sich ja bei der Gelegenheit heraus, dass das Leben doch ein Ponyhof ist. Sollten die anderen Trägerkirchen (die ja immerhin auch Rekordkirchensteuereinnahmen verzeichnen) das nicht wollen, erwägt die EKiR einen Rückzug aus der Trägerschaft und nimmt damit eine Schließung in Kauf. 

Ich halte diesen Weg für falsch. Mehr noch: Ich halte ihn für gefährlich. Bin ich parteiisch? Natürlich – ich bin Theologe, ich kann und darf nicht anders! Ich bin der Meinung: 

DIE EKIR BRAUCHT DIE KIHO. 


Weil Theologie und Biografie zusammen gehören. 

Theologie und Biografie sind untrennbar. Das eigene Erleben und die Reflexion persönlicher Prägungen wirken sich auf das akademische Lernen aus, an biografischen Wendepunkten liegen auch theologische Weichenstellungen – und das ist gut so: Wann immer man sich einbildet, die Bruchlinien des Lebens außer Acht lassen zu können, wird Theologie hohl, nichtssagend und langweilig und fällt unter das Verdikt Oscar Wildes: „The supreme vice is shallowness.“ Das Campusleben an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel ermöglicht es durch den engen Kontakt aller Hochschulgruppen, solche Zusammenhänge zu entdecken, andere daraufhin zu befragen und eine eigene theologische Persönlichkeit zu entwickeln. 


Lebensweg von Markus Müller - MM
(c) Markus Müller / fotocommunity.de

Weil Theologie Erdung braucht. 

„Was ist mit Erwin, jetzt, wo er tot ist?“ Diese Frage stellte uns der Leiter des Predigerseminars, als wir im Oktober 2002 im Rahmen einer Einführungsveranstaltung im ersten Studiensemester dort zu Gast waren. „Was ist mit Erwin, jetzt, wo er tot ist? – Das werden Ihre Gemeindeglieder Sie später fragen.“ Der Satz hat sich mir tief eingegraben, er hat mich immer wieder daran erinnert, dass Theologie kein Glasperlenspiel ist, sondern Antworten auf existenzielle Fragen geben soll. Für solche Antworten braucht es freilich Freiräume, in denen gedacht, geforscht, gefragt wird, ohne gleich zu verzwecken. Aber erfahrungsgemäß hilft es, wenn diese Zusammenhänge, in denen Theologie sich bewähren muss, nicht ganz außer Acht fallen.
Eine ganz andere Art der Erdung verdanke ich persönlich der KiHo: Die ersten vier Semester dort haben mich weitgehend immun gemacht und kritisch gegenüber den Eitelkeiten des universitären Lebens, weil sich die dortigen Lehrenden und Assistierenden in der Regel solchen erwachsenen Kinderspielen entziehen - und das strahlt aus und lässt mich bis heute wachsam sein gegenüber den Selbstvergewisserungsmechanismen von Institutionen und Systemen. 

Weil Theologie aus der Begegnung mit dem Anderen lebt. 

Gemeinschaftliches Leben und Lernen führt zu Konflikten. Aus Konflikten, die aktiv bewältigt und reflektiert werden, kann man etwas lernen. Im besonderen Milieu einer Kirchlichen Hochschule kommt es zu Konfrontationen, die sich aus unterschiedlichen konfessionellen Hintergründen, theologischen Traditionen und religiösen Sozialisationen ergeben. Da stellt die Studentin aus einer politisch sehr aktiven Stadtgemeinde plötzlich fest, dass ein Kommilitone eine andere Einstellung zur Bundeswehr hat - und sich damit genauso auf seinen Glauben bezieht. Da begegnet der Student aus der erwecklichen Gemeinde im Oberbergischen Gleichaltrigen, die lesbisch, schwul, trans oder Sozialisten sind - und genau darin aufrechte Christenmenschen. In solchen Begegnungen üben die angehenden Pfarrerinnen und Pfarrer etwas ein, das sie später in der Gemeinde brauchen, vielleicht mehr als vieles andere, nämlich konstruktiv mit Diversität umzugehen. Damit ergänzt die Kirchliche Hochschule auf sinnvolle Weise die Möglichkeiten des akademisch-interdisziplinären Arbeitens an den staatlichen Fakultäten.  


(c) updatenet.net


Weil Kirche nur in Vielfalt denkbar ist. 

Kirche ist bunt und vielfältig. In den verschiedensten Kontexten versucht sie, Menschen Glaubens- als Lebenshilfe anzubieten. Auf dem "Heiligen Berg" in Wuppertal sind eine ganze Reihe von Einrichtungen versammelt: Die Hochschule. Das Predigerseminar. Das Amt für Gemeindeentwicklung und missionarische Dienste. Die Polizeiseelsorge. Chorverband und Gottesdienststelle. Und noch so einige mehr. Im täglichen Miteinander und in punktuellen Kooperationen lernen Studierende ihre Kirche in ihrer ganzen Vielfalt kennen - und blicken weit über den Tellerrand hinaus: Die langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit mit der Vereinten Evangelischen Mission wurde jüngst noch einmal intensiviert und das theologische und diakonische Lernen auf dem Berg in einem internationalen Kontext verankert. An der Kirchlichen Hochschule lernen angehende Pfarrerinnen und Pfarrer, Kirche multidimensional zu denken und Synergieeffekte zu nutzen. 


Weil Kirche und Diakonie ihr Verhältnis bestimmen müssen. 

Das Verhältnis von Kirche und institutionalisierter Diakonie bedarf seit den Anfängen im Urchristentum (vgl. Apg 7) der fortlaufenden Reflexion, unter theologischen, soziologischen, ökonomischen und noch ganz vielen anderen Aspekten. Das Institut für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement bietet derartige Möglichkeiten auf höchstem, interdisziplinären Niveau - durch vielfältige Lehrexporte von Bethel nach Wuppertal lernen Studierende, Kirche diakonisch zu denken.

Weil die Kirche sich verdammt noch mal um ihren Nachwuchs kümmern muss! 

Um mal ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern: Die EKiR ist keine Kirche, die sich allzu gluckenhaft um ihren Nachwuchs kümmert. Ich selbst habe das immer als äußerst positiv empfunden, weil ich nie das Gefühl hatte, von der Landeskirche auf irgendeinen Kurs getrimmt zu werden, sondern den Eindruck hatte: Man vertraut mir, dass ich mein Studium schon gut mache.
Nur: Die Kirche ist größer als die entsprechende Abteilung im Landeskirchenamt. Und wenn man sich auf Synoden, Pfarrkonventen, Presbytertagen oder ähnlichem umhört, wundert man sich ab und zu, welche Vorstellungen vom Theologiestudium oder von denen, die sich darauf einlassen, da so im Schwange sind. Das wundert sehr - denn eigentlich müsste es doch im Interesse aller sein, den Nachwuchs für die Führungspositionen (denn, ja, ob wir es wollen oder nicht, auch das Rheinland ist in hohem Maße eine Pastor_innenkirche) zu fördern und zu motivieren. Das wird noch wichtiger, wenn durch Einsparungen in Höhe von sechseinhalb Millionen (nochmal für die Älteren: Fast dreizehn Millionen Mark!) im Bereich der Jugend-, Schüler- und Studierendenarbeit die Kontaktflächen zwischen jungen Menschen und der Kirche noch mehr verkleinert werden als es der demografische Wandel allein schon hinbekommt. 


Liebe Landessynodale, lieber Landessynodaler,

Sie haben schwierige Entscheidungen vor sich. Und bis dahin werden Ihnen noch viel emotionale Appelle in den Ohren klingen - so wie dieser hier. Und das ist auch gut so, denn was wäre es für ein Zeugnis für unsere Einrichtungen, wenn die, die dort arbeiten oder deren Dienstleistungen in Anspruch nehmen, keine Leidenschaft für ihr Tun aufbrächten? Eigentlich würde ich Ihnen jetzt gerne nochmal zurufen: "Behalten Sie die KiHo!" Aber ich bin selbst auf genug Landessynoden gewesen um zu wissen, wie schwer es ist, bei Entscheidungen über Einschnitte, Einsparungen und derartig gravierenden Veränderungen im Leben der Landeskirche, wie es die Sparvorschläge mit sich führen, die richtige Wahl zu treffen. 
Darum nur die eine Bitte: Treffen Sie im Januar keine Entscheidung über die Zukunft von Einrichtungen, von denen Sie sich nicht selbst ein Bild gemacht haben. Fahren Sie nach Wuppertal oder Bethel - oder noch besser: Suchen Sie das Gespräch mit dem theologischen Nachwuchs Ihres Kirchenkreises - die Adressen hat die Superintendentur. 

Mittwoch, 22. Oktober 2014

Im Heiligen Land (V): Wüste, Totes Meer, Masada

Am Ende meines Aufenthalts in Nes Ammim breche ich auf Richtung Westen, zum Toten Meer. Mein Reiseführer warnt davor, diese Strecke durch weitgehend nicht-judaisierte Gebiete in einem Auto mit israelischem Kennzeichen zurückzulegen und empfiehlt, sich einen Palästinenserschal oder einen Rosenkranz ins Auto zu hängen, um von weitem als Nicht-Jude erkennbar zu sein. Es ist nicht das erste Mal, dass das Thema Religion im Heiligen Land für mich einen schalen Beigeschmack bekommt – und die Maßnahme scheint äußerst unnötig, zumindest interessiert sich niemand für mein israelisches Auto, selbst an den Checkpoints werde ich durchgewunken. Obwohl, wer weiß, vielleicht gerade wegen des Rosenkranzes, der am Rückspiegel baumelt. 

Der Weg zum Toten Meer führt buchstäblich durch die Wüste, und dieses Erlebnis ist beeindruckend, wenn auch nicht ausschließlich positiv: Selbst im vollklimatisierten Auto mit vollem Tank auf einer viel befahrenen Straße wird deutlich, dass diese lebensfeindliche Landschaft mit ihren kargen Geröllhängen jeder Zeit in der Lage ist, einen in die Knie zu zwingen. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter, die irgendwo hier in dieser Gegend spielt, gewinnt einiges an Dramatik, und wie so oft im Heiligen Land verkompliziert dies das Verständnis: Die schier aussichtslose Lage des Mannes, der verletzt und ausgeraubt am Wegesrand liegt, wird in aller Schärfe deutlich – und gleichzeitig kann ich auch diejenigen verstehen, die vorbeigehen, die einknicken vor der brachialen Landschaft, in der sich jeder selbst der Nächste ist, kann mich nicht mehr ganz so leichtfertig über ihren Mangel an Hilfsbereitschaft empören. 




Kurz vor dem Toten Meer biege ich beim Qumran-Museum ab und zahle ein paar Schekel für etwas, das man mit nur wenig Übertreibung als Touristennepp bezeichnen kann: Man sieht einen kurzen, überaus kitschigen Film über die Qumran-Essener, läuft danach durch ein kleines Museum voller Repliken (Originale bekommt man hier natürlich nirgends zu sehen, zu den Höhlen kommt man auch nicht), und wandert ein bisschen über die Ruinen einer Anlage, die aller Wahrscheinlichkeit nach von einem deutlich jüngeren Kloster stammen. Vielleicht ist es auch nur für einen Theologen uninteressant, die Busladung russischer Touristen, die mit mir unterwegs sind, scheint tief beeindruckt. Aber ich glaube, das liegt auch an den künstlerischen Mitteln, die beim kurzen Infofilmchen zum Einsatz kommen: Viel Weichzeichner, wabernde Hintergrundmusik und dramatisch-proklamierende Sprache. 


Irgendwann komme ich in der Senke an, in der das Tote Meer liegt, und in der einige der biblischen Geschichten spielen, die die Dramatik der Landschaft spiegeln: Der Krieg der Könige, Sodom und Gomorrha, Davids Flucht vor Saul. Genau dort, nahe der Oase En Gedi, mache ich halt und begebe mich auf einen kleinen Badeausflug, an einer der wenigen Stellen, an denen das erlaubt ist. Pflichtschuldig wate ich in die salzige Brühe und lasse mich ein wenig treiben, bin erstaunt, dass der Effekt doch um einiges stärker ist als beim Solebad in der Sauna: Man treibt, und schwimmen geht praktisch gar nicht, weil der Unterkörper nach oben gedruckt wird. Am Ufer sehe ich lauter dunkelgraue bis tiefschwarze Menschen, mein Spieltrieb erwacht, und ich will unbedingt auch mit dem berühmten Uferschlamm vom Toten Meer rummatschen, fürchte aber ein wenig, dass man auch den bezahlen muss. Nach einiger Suche gelange ich an die Quelle: Nur einige Meter vom Wasser entfernt hocken einige Menschen in einer kleinen Grube, greifen in ein tiefes Loch und fördern den schwarzglänzenden und entfernt nach Schwefel riechenden Schlamm zu Tage. Drumherum geht es äußerst geschwisterlich zu, wer etwas übrig hat, gibt es weiter, und Fremde reiben einander den Rücken ein oder bieten sich an, Fotos zu machen: Junge israelische Juden, arabische Mütter im Burkini, russische und amerikanische Touristen. Es soll das erste und einzige Mal im Laufe meiner Reise bleiben, dass ich ein so unkompliziertes Miteinander der Religionen und Kulturen erlebe – und es stärkt meine Überzeugung, dass die Menschen öfter mal im Matsch spielen sollten.




Nach dem kurzen Badeausflug geht es weiter nach Masada. Am Fuße des Berges, auf dem die berühmte Festung thront, oder das, was davon übrig ist, checke ich im Masada Hostel ein. Das Zimmer ist weit weniger schön als in Karei Deshe - und deutlich teurer, aber es ist nun einmal das einzige Haus am Platz. Da ich nach all der Wüstenfahrerei Sehnsucht nach Stadtluft und keine Lust habe, von meinem winzig kleinen Fensterchen auf den Korridor zu gucken, mache ich mich auf nach En Boqeq, das sich aber als wenig reizvolle Hotelhochburg mit einigen klaustrophobischen Shopping Malls entpuppt, das ganz auf die Bedürfnisse solventer, älterer russischer Herrschaften ausgelegt ist. 

Am nächsten Morgen geht es rauf auf den Gipfel. Und zwar im Dunkeln, weil der Sonnenaufgang von Masada aus besonders toll sein soll. Beim Losgehen bin ich ein wenig nervös - vor Sonnenaufgang kraxele ich äußerst selten in gebirgigen Wüsteneien herum, aber jeder, den ich frage, versichert mir: "No, no, you can't miss it, absolutely not." Nun, ich bin der lebende Beweis, dass es doch geht - als ich nach zwanzigminütiger Kletterei plötzlich fast in eine Baugrube falle, wird mir klar, dass die zahlreichen "No trespassing"-Schilder mitnichten antiken Ursprungs sind und sich gegen die belagernden Römer wandten, sondern eine moderne Baugrube anzeigen. Also geht es weiter auf den richtigen Weg, die Zeit wird langsam knapp, es wird schon hell. 

Außer mir sind noch ein deutsches Pärchen und eine extrem laute Gruppe junger Amerikaner unterwegs, auf dem Gipfel stoßen außerdem einige Familien zu uns, die von der Seite der römischen Rampe den Aufstieg gewagt haben ("It's shorter, but harder!"). Die Amerikaner nehmen den Gipfel sogleich in Besitz, legen Tallit und Tefillin an, packen ihre Gebetsbücher aus und beginnen ihr Schacharit, das traditionelle Morgengebet - nicht ohne recht deutlich gemacht zu haben, dass sie die Präsenz offensichtlicher gojim und ihrer Ansicht nach deutlich laxerer jüdischer Familien als Sakrileg empfinden. Ich kann nachvollziehen, dass der Mythos von Masada eine enorme symbolische Bedeutung hat: Im Laufe des jüdischen Kriegs im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung war Masada eine Bastion des jüdischen Widerstandes gegen die Römer. Mehrere Monate wurde die Festung belagert, erst mithilfe einer künstlichen Belagerungsrampe gelang es den Römern, die Mauern zu überwinden - von den fast 1000 Bewohnern der Insel hatten jedoch fast alle den Freitod gewählt, um der römischen Gefangenschaft zu entgehen. Kein Wunder also, dass die Freiheitskämpfer von Masada eine wichtige Rolle für die narrative Identitätskonstruktion innerhalb des Judentums spielen. Und es sei einem jeden und einer jeden von Herzen gegönnt, seinen und ihren Wurzeln nachzuspüren. Gleichzeitig ahnt man doch eine gewisse Symbolik darin, wie die Gruppe amerikanischer Jugendlicher versucht, den Berggipfel in Besitz zu nehmen und ihren Vorstellungen zu unterwerfen. Und ich frage mich, ob nicht, wenn man sich die religiöse Landschaft der Modernen als Schulhof vorstellt, die Neo-Orthodoxen aller Religionen dem Wesen nach zu den typischen High School Bullies gehören, die breitschultrig ihr Revier ablaufen und den anderen ihre Regeln diktieren wollen. Gleichzeitig kann man froh sein, dass es keine Überlieferung gibt, nach der Jesus auf dem Berg von Masada herumgelaufen ist - sonst stünde hier nämlich schon mindestens eine Kirche, ein Kloster, zwei Andenkenläden, und die Juden könnten sehen, wo sie bleiben...


Zeit für Selfies ist zwischendurch natürlich auch...
Auf jeden Fall ist der Sonnenaufgang auf Masada ein Erlebnis, das sich lohnt. Man muss gut zu Fuß sein, auch für den steilen Weg bergab. Etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang ist der Berggipfel erfüllt vom Stimmengewirr der mittlerweile zahlreichen Bergsteiger, und so geht es wieder hinab Richtung Hostel, und von dort aus Richtung Tel Aviv.

Samstag, 18. Oktober 2014

Im Heiligen Land (IV): Yom Kippur

In die Zeit meines Israelaufenthaltes fiel auch der höchste jüdische Feiertag, Yom Kippur. Für die Reiseplanung wollte das beachtet werden, handelt es sich doch bei Yom Kippur um eine Art verschärften Sabbath, den auch nicht-observante Juden in hohem Maße begehen, sprich: Alle Geschäfte zu, aller Verkehr eingestellt - das Land hält den Atem an. Ein bisschen Unruhe gab es im Vorhinein, die deutsche Botschaft publizierte Reisehinweise, weil in diesem Jahr das muslimische Opferfest auf Yom Kippur fiel, seines Zeichens auch einer der höchsten Feiertage, der jedoch dezidiert anders, mit viel Feierei (und Salutschüssen) begangen wird. Die befürchteten Krawallen blieben aber meines Wissens aus. Schon am vorhergehenden Tag wirft Yom Kippur seine Schatten voraus - am frühen Nachmittag sind alle Geschäfte zu und die Straßen weitgehend leer. 
Am nächsten Morgen merkt man eine feierliche Ruhe, die sich wie ein Schleier über das Land gelegt hat. Man kann ja Stille tatsächlich hören, und es macht etwas mit einem - man bewegt sich vorsichtiger, spricht ein bisschen leiser. Aber es hat nichts Drückendes, eher etwas Entspanntes. Und mir wird auf einmal unsere Sonntagsruhe wieder noch ein bisschen wichtiger.
Wir gojim brechen ein bisschen gegen das Autofahrverbot, fahren über Land bis ins nächste muslimische Dorf, parken dort und machen uns dann zu Fuß über menschen- und autoleere Autobahnen auf nach Nahariyyah, wo wir zwei Synagogen besuchen.

Thx Ronald for the picture! :-)
Nach einer kurzen Stippvisite in der orthodoxen Shul geht es in die reformierte Synagoge – wie überall haben die Reformgemeinden auch in Israel mit deutlichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil ihnen nicht dieselben finanziellen Unterstützungen gewährt werden wie den orthodoxen oder ultraorthodoxen. Entsprechend zusammengewürfelt ist die Einrichtung, aber die Stimmung ist offener, und wir haben nicht dasselbe Gefühl, ständig etwas falsch machen zu können wie im orthodoxen Gotteshaus. Der Gottesdienst beginnt irgendwie – liturgische Präsenz im Sinne moderner praktischer Theologie ist sicherlich nicht die größte Tugend im Judentum überhaupt und die größte Stärke der federführenden Rabbinerin. Erstaunlich viele Besucher_innen der Synagoge sprechen untereinander Spanisch, und ich lerne bei meinem Besuch, dass die Sephardim mittlerweile den größten Anteil der in Israel lebenden Jüdinnen und Juden ausmachen. Das finde ich interessant, denn in Europa begegnet man in der Regel Ashkenasim. Wir bekommen Machzorim mit Übersetzungen – die bringen uns jedoch nur wenig, weil zuerst andere Dinge, Regularien und Gemeindeinterna dran sind. Irgendwann beginnt die Rabbinerin aus einer Schriftrolle vorzulesen, und bei den ersten Sätzen hüpft mein Herz ein bisschen: Wajhi dewar adonaj äl Jona Ben-Amittai lemor: Kum, lech... Ha!, den Text erkenne ich sogar auf Hebräisch, es ist das Buch Jona, die Standardlesung im nachmittäglichen Yom-Kippur-Gottesdienst und mir besonders lieb, seit ich meine Examensarbeit darüber geschrieben habe. 

Bild: shunammite.com


Danach geht es irgendwie weiter, und ich blättere ein bisschen in dem Bündel Fotokopien herum. Dabei stoße ich auf ein aramäisches Gebet, das zu Yom Kippur gehört und das mich immer sehr fasziniert hat: Kol Nidre, „alle Eide“. Darin bittet man um Verzeihung für all die Eide, Versprechen und Schwüre, mit denen man sich im Laufe des nächsten Jahres binden wird. Das Gebet hat eine äußerst wechselhafte Wirkungsgeschichte, war längere Zeit im Judentum verboten und wurde trauriger Weise von Christen als Beweis angeführt, dass die Versprechungen von Juden nichts wert sind. Dass es nicht darum geht, dürfte jedem außer den Inquisitoren, die den Juden alles ad malam partem auslegten, klar sein. Und ich gerate ins Nachdenken über Binden und Lösen, über Situationen, in denen man sich selbst unfrei macht – und über Jesu Mahnung: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“, die ich hier wiederum als äußerst jüdisch wahrnehme. Bevor es aber zum Kol Nidre kommt, von dem es eine ganze Reihe äußerst ergreifender Vertonungen gibt, müssen wir aufbrechen und zurückwandern, über menschenleere Autobahnen in einem Land, das für eine kurze Zeit den Atem anhält.



Freitag, 17. Oktober 2014

Im Heiligen Land (III) - Nazareth



„Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?!“ bin ich geneigt, dem Nathanael des Johannesevangeliums beizupflichten, als ich auf dem Weg vom See Genezareth an die Ostküste einen Abstecher nach Nazareth mache. Schon von weitem bin ich überrascht – wenn man allein von den biblischen Geschichten ausgeht, hält man Nazareth für ein kleines, verschlafenes Dörfchen irgendwo in den galiläischen Bergen. Zu Jesu Zeiten mag das so gewesen sein, jetzt ist es definitiv anders: Ein Geschwür aus Stahl, Beton und Staub wuchert zu allen Seiten die Berghänge hoch. Kein Zweifel, Nazareth ist eine Großstadt. Eine vorwiegend arabische Großstadt, und ich muss in irgendeine Form von rush hour geraten sein, die den Feierabendverkehr in der Kölner Innenstadt wie einen verschlafenen Verkehrsübungsplatz aussehen lässt. Fast eine Stunde brauche ich, um von einem Berggipfel runter in den brodelnden Talkessel zu gelangen, in dem sich die Innenstadt befindet. Wie alle Israelis hupen auch die modernen Nazarener gern und viel. Prophylaktisch, wenn man auf eine Kreuzung zufährt. Wenn man einen Bekannten auf der Straße begegnet. Oder wenn sich der Verkehr wieder einmal staut, weil irgendjemand mitten auf der Straße sein Auto abgestellt hat, um schnell einen Brief einzuwerfen, Geld abzuholen, etwas einzukaufen oder einen ausgedehnten Besuch bei Oma zu machen. 

In der Innenstadt angekommen, entdecke ich etwas, das mir das zum ersten Mal in Israel etwas beschert, das sich irgendwie nach einem religiösen Erlebnis anfühlt: Ein Parkhaus! Ein richtiges, modernes, klimatisiertes Parkhaus, mit einer Schranke, einem Ticketautomaten und moderaten Preisen. Auf, auf, macht mein Herz mit Freuden, ich rufe „Victoria“, stelle mein Auto ab und stürze mich ins Getümmel. Zunächst entschließe ich mich, meinem Instinkt zu folgen. Das ist meistens ein Fehler, und ist es auch jetzt: Etwa eine Stunde lang latsche ich durch ein gammeliges Industriegebiet, bis mir ein hilfsbereiter Schreibwarenhändler erklärt, dass sich alles Innenstädtische in der Richtung abspielt, wo ich mein Auto stehen habe. Also geht es wieder zurück, und ich stelle fest, dass die große Verkündigungskirche nur ein paar Meter vom Parkhaus entfernt ist. Man muss allerdings ein bisschen suchen, bis man die Stelle findet, an der man hinter die große Mauer kommen kann. 



Im großzügig angelegten Vorhof hängen Verkündigungsdarstellungen aus aller Herren Länder, darunter unglaublich kitschige Darstellungen, aber auch faszinierende Beispiele für kulturspezifische Kontextualisierungen der biblischen Geschichte. In der Kirche stellen sich gemischte Gefühle ein: Interessante Lichteffekte, aber im Ganzen verströmt sie den Charme des Eingangsbereichs eines Schulzentrums aus den Siebzigerjahren, das um ein antikes Gewölbe herum gebaut ist. 


Außer mir sind nur zwei koreanische Touristen und zwei Franziskaner, die hingebungsvoll Blumen auf dem Altar arrangieren, in der Kirche – ausnahmsweise ist es wohltuend still in einer der großen Gotteshäuser auf geschichtsträchtigem Boden. Das wird sich bald ändern, als ich die Kirche verlasse, spucken gerade zwei Reisebusse ihre Ladungen mit italienischen Touristen auf den Vorhof. Eine Besucherin wird sofort von einem wortkargen Torwächter zurückgepfiffen, der indigniert auf ihre knapp über den Knien endenden Shorts zeigt und immer wieder „Holy play, holy place!“ ruft. Das ist etwas, was mir immer ein wenig sonderbar vorkommt, sei es in Nazareth, in Kafernaum oder in Rom: Dass für alles Mögliche in oder vor der Kirche Geld die Hände wechselt (Eintritt, Fotoerlaubnis, Führung, Führungserlaubnis, Souvenirs), wird offensichtlich von niemandem als Entweihung wahrgenommen – aber wehe, jemand untersteht sich, die Kirche mit unbedeckten Schultern oder Knien betreten zu wollen. 

Einmal um die Mauer herum, entdecke ich endlich jene Souvenirläden, von denen im Reiseführer die Rede ist. Wie überall, so denkt man auch hier in die Breite und bietet nicht nur spezifisch nazarenische Motive, sondern auch Devotionalien, die nach Jerusalem, Mekka oder Bethlehem weisen, feil – ganz so, wie man in Heidelberg erstaunlich viele Souvenirs mit dem Schloss Neuschwanstein drauf bekommt. Die Lädchen bieten ein hübsches Motiv, und so stelle ich mich auf die andere Straßenseite und beginne zu zeichnen. 




Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter, eine Stimme mit deutlich amerikanischem Akzent sagt: „Hey, guy…“ Ich drehe mich um. Hinter mir steht der Besitzer des Ladens, vor dem ich stehe. In der Hand hält er einen kleinen Hocker: „Here, have a seat, you don’t have to stand doing this.“ Das Angebot nehme ich gerne an, und die Zeichnung wird ein wenig ausführlicher als geplant. Zwischendurch bleiben viele Leute stehen, man kommt ins Gespräch, irgendjemand bringt mir eine Flasche Wasser. Das gehört zu den tollen Erfahrungen, die ich beim Urban Sketching öfters gemacht habe – man lernt nicht nur die Plätze, sondern auch die Leute kennen. Das macht auch etwas mit dem, was auf dem Papier entsteht. Am Ende unterhalte ich mich noch länger mit dem Ladenbesitzer, er heißt Leon und stellt sich als äußerst weitgereister Zeitgenosse heraus, der u. a. in Essex studiert hat. Er erzählt, wie eng er die Gesellschaft in seiner Stadt mitunter empfindet – daher auch das Engagement um den Zeichner aus Deutschland: „You know, it doesn’t happen very often that someone is being creative around here, so I think they should be supported.“ Er hat auch einige Anekdötchen über Touristen parat, die dringend einer karikaturistischen Aufarbeitung bedürfen. Von ihm bekomme ich dann auch noch einige Insidertipps, unter anderem schickt er mich zu einem sehr guten Restaurant in der Nähe von Mary’s Well. Mein Aufenthalt in Nazareth wird deutlich länger als geplant, und als ich mit dem Auto aus dem Parkhaus und auf die Schnellstraße Richtung Haifa fahre, fühle ich mich wieder ein bisschen wie Nathanael – am Ende seiner Geschichte.


Donnerstag, 16. Oktober 2014

Im Heiligen Land (II) - Rund um den See Genezareth

Eine ganze Reihe der schönsten biblischen Geschichten spielen rund um den See Genezareth (oder Tiberias): Der Fischfang des Petrus, das Männgergespräch am Ende des Johannesevangeliums, und viele mehr. Grund genug also, von Nes Ammim aus einen kleinen Abstecher dorthin zu machen. 

Relativ schnell fahre ich die Nordspitze ab und besucht pflichtschuldig die wichtigsten Stationen: Primatenkirche, Kafernaum, die UFO-hafte Kirche über Petrus seiner Schwiegermutter ihrem Schlafzimmer. In der Brotvermehrungskirche beobachte ich eine junge Frau, die vor einer Christus-Ikone eine Kerze anzündet. Sehr langsam. Und wieder eine. Und noch eine. Irgendwann höre ich das Klicken. Und eine enthusiastische Regieanweisung: "Come on, honey, try to look a bit more... ya know, reverent, pious, will ya... damn it, we could make the front page of next month's parish newsletter!" 

Die geballte Ladung religiöser Touristik ist nur mit einer Portion Galle zu ertragen. Und trotzdem... Als ich am Abend vom Privatstrand meines Hostels Karei Deshe aus im flachen, fischreichen Wasser des Sees Genezareth herumwate, denke ich: Ja. Hier ist es gewesen, hier ist er gegangen. Das weckt in mir nicht das Bedürfnis, irgendwelche Steine zu verehren oder gar eine Kirche darüber zu bauen. Aber... es erdet. Es sind keine Märchen aus dem Nimmer- oder Taka-Tuka-Land, die wir uns erzählen. Und es ist nicht herauszulösen aus diesem Kontext: Jesus hat einen Stallgeruch.


Wenn schon die Geschaftelhuberei am Nordstrand irritierend war, dann ist das nichts gegen das, was mich am nächsten Tag erwartet...


YARDENIT - "SIEHE, DA IST WASSER - WAS HINDERT'S, DASS ICH MICH TAUFEN LASSE...?!"



Ein ganz besonderes Kleinod religiöser Nahosttouristik ist Yardenit - The Baptismal Site on the Jordan River, ein an sich wunderschönes Stück Fluss mit fast lagunenhaft anmutender Atmosphäre. Womöglich seit vormittelalterlicher Zeit als angeblicher oder symbolischer Ort der Taufe Jesu ein beliebtes Ziel christlicher Pilgerinnen und Pilger, hat sich auch hier der Betrieb seit dem 19. Jahrhundert ordentlich professionalisiert - wie so häufig im Heiligen Land mit tatkräftiger amerikanischer Unterstützung. Nunmehr kann man in Yardenit alles und jeden taufen, was nicht bei drei auf dem Bäumen ist, und das geschäftstüchtige Management hält das passende Merchandising bereit: Nachthemdartige Taufkleider zum Ausleihen (10 $), zum Kaufen (20 $) und zum Bedrucken (noch mehr $), "offizielle Taufzertifikate" und eine ganze Menge an Zubehör, von der Ikone bis zur Spezerei. 



Als ich ankomme, ist vergleichsweise wenig los. Schade eigentlich, ich hatte mich sehr auf eine ekstatische Massentaufe gefreut. An einer Taufbucht tummeln sich ein paar Amerikaner um einen farbigen Guru mit Khakihemd, Cowboyhut und beachtlicher Leibesfülle. Zwei Ladies älteren Semesters waten knöcheltief im Jordan und reiben sich das lauwarme Wasser auf verschiedene (wahrscheinlich chronisch schmerzende) Stellen. Eine verkündigt unmittelbare Linderung - Praise da Lord! - und plantscht ein wenig auf der Stelle, die andere klettert missmutig wieder aus dem Wasser. Der Mann im Cowboyhut hat sich derweil einen Ölzweig organisiert, tunkt ihn ins Wasser und fuchtelt damit in Richtung einer Sechzigjährigen mit Bubikopf und Sonnenbrille, die sich immer wieder in atemberaubender Geschwindigkeit bekreuzigt und zwischendurch juchzt wie ein Teenager beim Boybandkonzert.



Ein durchaus beachtliches Spektakel, aber leider keine Taufe. Schade, denke ich - da betritt auch schon eine zweite Gruppe die Taufbucht, die wohl nicht von ungefähr an ein kleines Amphitheater erinnert. Das Grüppchen kommt unüberhörbar aus Russland - und der einzige Mann im Bunde trägt tatsächlich schon ein weißes Unisex-Taufkleid aus dem Souvenirshop. Er geht etwas zögernd ins Wasser, ich frage mich, wer hier wohl taufen wird - aber Pustekuchen, es geht nur um ein Foto. Und wahrscheinlich auch um eine kleine Abkühlung, denn es ist extrem heiß an diesem Morgen. 




"Ja, die Russen... bei denen meint man manchmal, das sei ein Badeausflug... or like a countryclub swim", seufzt wenig später eine englische Mitarbeiterin des wohlsortierten Souvenirladens. Sie ist clearly not amused über diese Unart, das Tauferlebnis als Ferienspektakel zu begehen. Soso. Viel lieber seien ihr da "those Africans", die brächten wenigstens Enthusiasmus und ab und zu ein bisschen Exstase mit, just like "those South Americans". Auf meine Frage, wer denn hier eigentlich taufe, erklärt sie, dass die Gruppen meist ihre eigenen Offizianten mitbrächten, "wir haben aber auch ein paar ältere Priester, die ein paar Vormittage die Woche da sind und sozusagen Bereitschaftsdienst machen". Irgendwann macht meine Fragerei sie wohl neugierig, sie will wissen, wer ich bin, was ich so mache - als ich ihr erzähle, dass ich auch Pfarrer bin, jubelt sie: "Well, that's just perfect, see, we are in a bit of a pickle here... There are some people coming this afternoon who don't bring a priest of their own, and it would be frightfully nice if you could just..." Ich verabschiede mich schnell und breche auf Richtung Nazareth. Als ich den großen Parkplatz von Yardenit verlasse, läuft im Radio "Wicked, wicked Wonderland". Ich nicke im Takt und trete aufs Gas.



Mittwoch, 15. Oktober 2014

Im Heiligen Land (I): Der hohe Norden

Es gibt so Dinge, die muss man als Pfarrer irgendwie gemacht haben, um dazuzugehören, um mitreden zu können. Dazu gehören eine richtig fette Panne bei einer Beerdigung, eine haarsträubend chaotisch verlaufene Prüfung im zweiten Examen, man sollte mindestens einen Band der KD gelesen haben - und einmal im Heiligen Land gewesen sein. Und vor ein paar Wochen war für mich endlich die Zeit, auch den letzten Punkt abzuhaken, alle Sorgen angesichts der politischen Lage über Bord zu werfen und Richtung Süden zu reisen, mit kaum mehr im Gepäck als einem Rückflugticket, ein paar vagen Vorstellungen und einem Skizzenblock. Ende September ging es los, und nach fast enttäuschend kurzen Sicherheitsroutinen an den Flughäfen in Düsseldorf und Tel Aviv saß ich schneller als erwartet im Abendzug nach Nahariyyah, wo mich die erste Station meiner Reise erwartete: 


"ZEICHEN FÜR DIE VÖLKER" IM NORDEN



"Kommt nach Israel und Palästina" - diesem Aufruf von Rainer Stuhlmann bin ich allzu gerne gefolgt und habe meine erste Woche in Nes Ammim verbracht, einer christlichen Siedlung, die seit 1960 besteht. Was Nes Ammim ist und will, lässt sich am besten mit eigenen Worten beschreiben; in einer 1982 überarbeiteten Fassung des konstitutiven Memorandums heißt es:
Nes Ammim ist eine christliche Siedlung im Staat Israel, gegründet von Christen aus verschiedene Ländern und Kirchen. Die Christen, die in und für Nes Ammim arbeiten, glauben an Jesus von Nazareth, als ihren Herrn. Sie haben erkannt: Es widerspricht Seinem Willen, dass die Christenheit jahrhundertelang das jüdische Volk, dem Er entstammt und in dessen Mitte Er lebte, als Gott verworfen behandelt und deshalb verfolgt hat. Darum treten sie dafür ein, daß Christen das jüdische Volk anders sehen lernen, als sie es bisher getan haben. 
Sie bezeugen in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift:Gott hat sein Volk Israel nicht verstoßen; Sein Bund mit ihm besteht vort, Seine Verheißungen an Israel bleiben wirksam. Darum kann die Christenheit weder gegen noch ohne Israel, sondern nur mit Israel im Dienste Seiner Gerechtigkeit in der Welt handeln und in der gemeinsamen Erwartung der kommenden Gottesherrschaft leben. 
Nes Ammim will• dem jüdischen Volk in seinem Land begegnen und dort mit ihm leben und arbeiten;• dazu beitragen, daß Juden und Christen einander besser kennen und verstehen lernen und voneinander lernen;• das Gespräch zwischen Juden und Christen im Staat Israel fördern, wobei jeder die Identität des anderen achtet;• darum auf missionarische Aktivitäten praktisch und prinzipiell verzichten; 
dazu beitragen daß• die Christen das neue Verhältnis zu Israel verstehen und verwirklichen;• die Verkündigung der Kirche sichtbar macht, wer das jüdische Volk ist, welchen Sinn sein leben in dem von Gott seinen Vätern verheißenen  Land hat und was es für Leben, Denken und Handeln der Kirche bedeutet. 
Als Nachgeborener, der noch jünger ist als der Rheinische Synodalbeschluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, kann ich nur ungefähr ermessen, wie zukunftsweisend die Grundlagen der Arbeit in Nes Ammim damals waren - ich kann aber einen etwas deutlicheren Eindruck davon haben, wie wichtig diese Art von theologisch fundierter Dialogarbeit zwischen Ethnien, Kulturen und Religionen ist. 




In Nes Ammim nehme ich an den gemeinsamen Mahlzeiten, und damit ein kleines bisschen auch an dem Leben dort. Die Umgangssprache bei Tisch ist Nes Ammimisch - so wird, scherzhaft in eigenen Publikationen, das mit zahlreichen Niederlandismen und Germanismen durchsetzte Simple English genannt, das sich überraschenderweise wie ein cantus firmus durch meinen gesamten Israelaufenthalt zieht: Am Ende werde ich weit weniger Ivrit als erhofft aufgeschnappt haben - dafür hat sich mein eingerostetes Niederländisch wieder etwas verflüssigt. Bei den Mahlzeiten kommt man auch leicht mit den Menschen in Kontakt, für die Nes Ammim für kurz oder lang Zuhause, Zwischenstation oder ein Stück Lebensgeschichte ist. Manche sind bereits in dritter Generation Teil dieses Projektes - während ihre Großeltern Rosen oder ihre Eltern Avocados gezüchtet haben, helfen sie nun im Hotelbetrieb mit und unterstützen vor Ort Begegnungen von Juden, Christen und Muslimen. Das Projekt wird gebraucht - von den Menschen vor Ort, die vor nicht allzu langer Zeit darum gebeten haben, nach grundlegenden Veränderungen in der Landwirtschaft und im Tourismus nach der zweiten Intifada Nes Ammim nicht aufzugeben. Und von den es unterstützenden christlichen Kirchen, die vom Judentum immer noch zu lernen haben. Und das Projekt braucht wiederum Unterstützung - das Angebot von vor ein paar Monaten gilt übrigens noch! 





Von Nes Ammim aus mache ich ein paar Ausflüge nach Akko und Haifa. Hier schaffe ich es leider nicht innerhalb der Öffnungszeiten zu den berühmten Gärten der Baha'i, einer noch recht jungen Religion, die sich aufgrund ihrer individualistischen, synkretistischen Grundstruktur steigender Beliebtheit erfreut, hier an der nördlichen Mittelmeerküste bedeutende Zentren unterhält, anderswo jedoch immer noch grausamen Verfolgungen und Repressalien unterworfen ist. Beim Anblick der symmetrisch angelegten und minutiös gepflegten Gartenanlagen beschleicht mich aber das Gefühl, dass das nicht unbedingt die Art von Glauben und Leben ist, der ich groß etwas abgewinnen könnte - ich denke da immer an den Fluxus-Künstler Nam June Paik: "When too perfect, lieber Gott böse". 



Außerdem gilt es ja, vor der eigenen Haustür zu kehren, und so mache ich mich von Nes Ammim aus auf einen etwas längeren Ausflug an den See Genezareth, an dessen Ufer eine ganze Menge von Erinnerungsorten des Christentums liegen, und um den herum viel Platz ist für allerlei Kurioses...