Freitag, 31. Oktober 2014

Gerechte Karikaturen: Traueransprachen als Porträtskizzen





Erkennen Sie diese Dame? Wahrscheinlich nicht, denn: Sie kennen sie ja nicht. Obwohl - manche hier Lesende sind ja Theolog_innen, wieder manche davon wissen um das konfessionelle Profil und die theologischen Vorlieben des hier Schreibenden, haben also aufgrund des Kontextes vielleicht eine Idee? 

Immer noch nicht?



Na denn. Es ist Lollo von Kirschbaum, kongeniale Gefährtin von Karl Barth. 


Wer jetzt nochmal drauf nach oben scrollt, erkennt sie - trotz aller Weglassungen, trotz aller Abweichungen vom Original: Das Lächeln ist ein bisschen weniger breit, die Nase charmant korrigiert, die Augen etwas größer, die Zähne weniger betont. Die Zeichnung wirkt dadurch weniger lebendig, etwas zu schön gezeichnet, weil Charakteristika zurücktreten. Das hat aber etwas damit zu tun, dass das genau die Dinge sind, die man bei einer Karikatur vor allen anderen übertreiben würde, dazu aber später mehr. Wer das Originalfoto lange genug anschaut, wird gar nicht mehr anders können, als in der Skizze oben die Person wiederzuerkennen. Das hat was mit dem Gehirn zu tun: Skizzen bauen auf eine Kooperation mit dem Betrachtenden, der das, was offen geblieben ist, vor seinem inneren Auge ausfüllt. Man macht also im Kopf das hier:



Die Skizze ist dabei gleichzeitig leichter und schwerer als eine "gewöhnliche" Zeichnung. Leichter, weil es weniger Striche sind, da man sich auf die Kooperation mit den Betrachtenden verlassen kann - und weil gerade Zeichnungen von Gesichtern komplizierter und aufwändiger sind als andere, denn unser Gehirn ist auf Gesichter besonders "geeicht" und registriert Abweichungen besonders deutlich, sodass sehr schnell ein gestörter Gesamteindruck entsteht. Desginer oder Zeichnerinnen, die sich mit menschlichen Figuren in 2D oder 3D beschäftigen, wissen um und fürchten das Phänomen des uncanny valley. Das besagt, dass es bei menschenähnlichen Darstellungen auf einem recht hohen Niveau einen Punkt kurz vor der absolut fotorealistischen Abbildung gibt, an dem die Akzeptanz beim Betrachter radikal sinkt und in Abwehr umkippt. Klassisches Beispiel ist zum Beispiel eine Handprothese, die anatomisch sehr genau ist, aber aufgrund der unnatürlichen Kunsttoffoberfläche und ihrer Unbeweglichkeit von nicht wenigen Menschen als abstoßend empfunden wird. Diesem Risiko entgeht man bei einer Skizze. Schwerer als ein Gemälde ist eine skizzenhafte Darstellung, weil man auswählen und sich für eine sehr geringe Anzahl von Strichen entscheiden muss - und gegen eine ganze Masse anderer. Man muss entscheiden: Welche Konturen, Flächen, Akzente sind besonders wichtig, sind die absolut notwendigen Guidelines, damit die Betrachtende das Bild in der vom Zeichner beabsichtigten Weise vervollständigen kann? In der obigen, etwas schematischen Skizze, sind einige Entscheidungen gefallen, in denen gleichzeitig natürlich sehr viele Spekulationen über die Persönlichkeit der Abgebildeten stecken. Der strenge Seitenscheitel wird rausgelassen, die prominenten Augenbrauen, verschmitzte Augen, ein breit lächelnder Mund mit recht schmalen Lippen - und die teils kokette, teils fast stereotyp die Gelehrte ausweisende Handhaltung. Die Bücher hätten auch noch mit dazu gekonnt, das hätte diesen Aspekt noch verstärkt.

In einer Traueransprache arbeite ich ähnlich. Ich bekomme meist eine Fülle von Informationen über den Verstorbenen - und muss auswählen, denn: Oft ist mir die Person nicht so gut bekannt, dass ich mich ohne die Lebendvorlage an einem Porträt versuchen würde. Das Risiko ist zu groß, dass bei einem an sich ganz realistischen Porträt wenige geringe Abweichungen dazu führen, dass die Zuhörer_innen ein gestörter Gesamteindruck entsteht, die Predigt also gewissermaßen im literarischen uncanny valley untergeht. Also versuche ich mich an einer Skizze. Voraussetzen muss ich dabei, dass das Bildmaterial, das mir Angehörige im Gespräch zur Verfügung stellen, einigermaßen repräsentativ für das Bild ist, das der Rest der Trauergemeinde hat. In der homiletischen Praxis heißt das, dass ich keine Lebensläufe verlese, sondern auf Anekdoten setze, also in der Predigt kurze Szenen skizziere, bei denen ich den Eindruck habe: Die erzählen etwas Grundlegendes über den Menschen, wie ihn seine Angehörigen erlebt haben. Ich wähle aus und verstärke vielleicht das eine oder andere. Das kann bis dahin führen, dass die Grenze zur Karikatur tangiert wird. In obiger Porträtskizze wäre das kein großer Aufwand, es würde reichen, die Zähne etwas prominenter darzustellen, die Nase etwas zu vergrößern und das Kinn deutlicher hervortreten zu lassen und vielleicht den Seitenscheitel zu betonen. "Karikatur" hat in dem Zusammenhang natürlich einen negativen Beigeschmack, wie "Ironie" in der Predigt ja auch. Aber ich gehe von dem Grundsatz des deutschen Karikaturisten Hans
Gutes Beispiel: Pfannmüllers
Karikatur von Theo Lingen
(c) wikipedia.de
Pfannmüller
aus, der einmal gesagt hat: "Karikieren darf nur, wer gerecht sein kann" - eine gute Karikatur entblößt also nicht oder macht lächerlich, sondern hebt liebenswerte Eigenheiten hervor, an die sich Bekannte gern erinnern. In der Situation der Trauerpredigt kann das manchmal für eine Art comic relief sorgen, ein Schmunzeln unter Tränen, das die Ambivalenzen der Trauer und der Erinnerung offen hält. Das muss natürlich dem individuellen Kontext entsprechen und ist deswegen nicht immer möglich. Und das setzt neben Fingerspitzengefühl auch einen guten Kontakt zu den Angehörigen voraus, das bedeutet unter Umständen auch, dass ich mir für manche Bildmotive eine Erlaubnis hole, etwa dann, wenn ich das Gefühl habe, dass eine sehr repräsentative Anekdote zu persönlich ist oder missverstanden werden kann. Und der Grundsatz der Gerechtigkeit gilt auch hier - Wilhelm Gräb hat einmal gesagt, bei Kasualien geht es um "Rechtfertigung von Lebensgeschichten". Das heißt für Trauergottesdienst und Bestattung, dass Ambivalenzen und Schattenseiten nicht krampfhaft verschwiegen werden - aber auch, dass der Liturg oder die Liturgin sich kein letztes Urteil über den Verstorbenen und seine Beziehungen anmaßt. 

Spannend finde ich den Gedanken der Skizze auch deswegen, weil eine Skizze ja in einem weitaus höheren Maß als etwa ein Ölgemälde die Kooperation mit den Betrachtenden voraussetzen: Sie vervollständigen das Bild, füllen die Lücken mit eigenen Bildern, Erfahrungen, Gefühlen. Auch in der Traueransprache predigt die Gemeinde mit, die Menschen bringen eigene Erfahrungen mit ein. Auch deswegen vermeide ich absolute Aussagen wie "NN war so und so". Und setze stattdessen auf Bilder - die dann wiederum Anknüpfungspunkte für die Theologie sein können, wenn eine charakteristische Szene aus dem Leben des Verstorbenen in eine biblische Szene überblendet.

Apropos Lollo von Kirschbaum: In seiner Traueransprache für sie, als sie nach einer langen zelebralen Erkrankung gestorben war, und die mit den berührenden Worten beginnt Jetzt ist sie unseren Blicken ganz entschwunden. Es war ein langes, langsames Weggehen, sagte Helmut Gollwitzer: 

"Als Lollo bei Karl Barth auf ein Denken stieß, das ganz von diesem Geheimnis [des Todes Jesu Christi] in Anspruch genommen war, da war sie gefesselt davon und wollte dabei sein und hat ihren wichtigen Beitrag geleistet zu einer Denkarbeit, die dem Leben erweckenden Weitererzählen des Sterbens unseres Herrn Jesus dienen kann."

Das ist für mich ein Paradebeispiel für eine gelungene Skizze: Entschiedene Striche, die das Bild einer leidenschaftlichen Frau und leidenschaftlichen Denkerin und Theologin zeichnen, die auch das Wagnis einer liebenswürdigen und würdigenden Karikatur riskieren ("gefesselt", "wollte dabei sein") - und gleichzeitig Raum lassen für Ambivalenzen: Für den kognitiven Abbau - und für die destruktive Seite der Leidenschaft von Kirschbaums nicht nur für Karl Barths Theologie, sondern auch für Karl Barth selbst, die sie auch "gefesselt" und diesem Leben nicht wenig Leid beschert hat und von der alle Anwesenden im Trauergottesdienst wussten. 

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