Freitag, 17. Oktober 2014

Im Heiligen Land (III) - Nazareth



„Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?!“ bin ich geneigt, dem Nathanael des Johannesevangeliums beizupflichten, als ich auf dem Weg vom See Genezareth an die Ostküste einen Abstecher nach Nazareth mache. Schon von weitem bin ich überrascht – wenn man allein von den biblischen Geschichten ausgeht, hält man Nazareth für ein kleines, verschlafenes Dörfchen irgendwo in den galiläischen Bergen. Zu Jesu Zeiten mag das so gewesen sein, jetzt ist es definitiv anders: Ein Geschwür aus Stahl, Beton und Staub wuchert zu allen Seiten die Berghänge hoch. Kein Zweifel, Nazareth ist eine Großstadt. Eine vorwiegend arabische Großstadt, und ich muss in irgendeine Form von rush hour geraten sein, die den Feierabendverkehr in der Kölner Innenstadt wie einen verschlafenen Verkehrsübungsplatz aussehen lässt. Fast eine Stunde brauche ich, um von einem Berggipfel runter in den brodelnden Talkessel zu gelangen, in dem sich die Innenstadt befindet. Wie alle Israelis hupen auch die modernen Nazarener gern und viel. Prophylaktisch, wenn man auf eine Kreuzung zufährt. Wenn man einen Bekannten auf der Straße begegnet. Oder wenn sich der Verkehr wieder einmal staut, weil irgendjemand mitten auf der Straße sein Auto abgestellt hat, um schnell einen Brief einzuwerfen, Geld abzuholen, etwas einzukaufen oder einen ausgedehnten Besuch bei Oma zu machen. 

In der Innenstadt angekommen, entdecke ich etwas, das mir das zum ersten Mal in Israel etwas beschert, das sich irgendwie nach einem religiösen Erlebnis anfühlt: Ein Parkhaus! Ein richtiges, modernes, klimatisiertes Parkhaus, mit einer Schranke, einem Ticketautomaten und moderaten Preisen. Auf, auf, macht mein Herz mit Freuden, ich rufe „Victoria“, stelle mein Auto ab und stürze mich ins Getümmel. Zunächst entschließe ich mich, meinem Instinkt zu folgen. Das ist meistens ein Fehler, und ist es auch jetzt: Etwa eine Stunde lang latsche ich durch ein gammeliges Industriegebiet, bis mir ein hilfsbereiter Schreibwarenhändler erklärt, dass sich alles Innenstädtische in der Richtung abspielt, wo ich mein Auto stehen habe. Also geht es wieder zurück, und ich stelle fest, dass die große Verkündigungskirche nur ein paar Meter vom Parkhaus entfernt ist. Man muss allerdings ein bisschen suchen, bis man die Stelle findet, an der man hinter die große Mauer kommen kann. 



Im großzügig angelegten Vorhof hängen Verkündigungsdarstellungen aus aller Herren Länder, darunter unglaublich kitschige Darstellungen, aber auch faszinierende Beispiele für kulturspezifische Kontextualisierungen der biblischen Geschichte. In der Kirche stellen sich gemischte Gefühle ein: Interessante Lichteffekte, aber im Ganzen verströmt sie den Charme des Eingangsbereichs eines Schulzentrums aus den Siebzigerjahren, das um ein antikes Gewölbe herum gebaut ist. 


Außer mir sind nur zwei koreanische Touristen und zwei Franziskaner, die hingebungsvoll Blumen auf dem Altar arrangieren, in der Kirche – ausnahmsweise ist es wohltuend still in einer der großen Gotteshäuser auf geschichtsträchtigem Boden. Das wird sich bald ändern, als ich die Kirche verlasse, spucken gerade zwei Reisebusse ihre Ladungen mit italienischen Touristen auf den Vorhof. Eine Besucherin wird sofort von einem wortkargen Torwächter zurückgepfiffen, der indigniert auf ihre knapp über den Knien endenden Shorts zeigt und immer wieder „Holy play, holy place!“ ruft. Das ist etwas, was mir immer ein wenig sonderbar vorkommt, sei es in Nazareth, in Kafernaum oder in Rom: Dass für alles Mögliche in oder vor der Kirche Geld die Hände wechselt (Eintritt, Fotoerlaubnis, Führung, Führungserlaubnis, Souvenirs), wird offensichtlich von niemandem als Entweihung wahrgenommen – aber wehe, jemand untersteht sich, die Kirche mit unbedeckten Schultern oder Knien betreten zu wollen. 

Einmal um die Mauer herum, entdecke ich endlich jene Souvenirläden, von denen im Reiseführer die Rede ist. Wie überall, so denkt man auch hier in die Breite und bietet nicht nur spezifisch nazarenische Motive, sondern auch Devotionalien, die nach Jerusalem, Mekka oder Bethlehem weisen, feil – ganz so, wie man in Heidelberg erstaunlich viele Souvenirs mit dem Schloss Neuschwanstein drauf bekommt. Die Lädchen bieten ein hübsches Motiv, und so stelle ich mich auf die andere Straßenseite und beginne zu zeichnen. 




Plötzlich tippt mir jemand auf die Schulter, eine Stimme mit deutlich amerikanischem Akzent sagt: „Hey, guy…“ Ich drehe mich um. Hinter mir steht der Besitzer des Ladens, vor dem ich stehe. In der Hand hält er einen kleinen Hocker: „Here, have a seat, you don’t have to stand doing this.“ Das Angebot nehme ich gerne an, und die Zeichnung wird ein wenig ausführlicher als geplant. Zwischendurch bleiben viele Leute stehen, man kommt ins Gespräch, irgendjemand bringt mir eine Flasche Wasser. Das gehört zu den tollen Erfahrungen, die ich beim Urban Sketching öfters gemacht habe – man lernt nicht nur die Plätze, sondern auch die Leute kennen. Das macht auch etwas mit dem, was auf dem Papier entsteht. Am Ende unterhalte ich mich noch länger mit dem Ladenbesitzer, er heißt Leon und stellt sich als äußerst weitgereister Zeitgenosse heraus, der u. a. in Essex studiert hat. Er erzählt, wie eng er die Gesellschaft in seiner Stadt mitunter empfindet – daher auch das Engagement um den Zeichner aus Deutschland: „You know, it doesn’t happen very often that someone is being creative around here, so I think they should be supported.“ Er hat auch einige Anekdötchen über Touristen parat, die dringend einer karikaturistischen Aufarbeitung bedürfen. Von ihm bekomme ich dann auch noch einige Insidertipps, unter anderem schickt er mich zu einem sehr guten Restaurant in der Nähe von Mary’s Well. Mein Aufenthalt in Nazareth wird deutlich länger als geplant, und als ich mit dem Auto aus dem Parkhaus und auf die Schnellstraße Richtung Haifa fahre, fühle ich mich wieder ein bisschen wie Nathanael – am Ende seiner Geschichte.


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