Sonntag, 7. Dezember 2014

Omas Plätzchen. Und: Jesus kommt. - Predigt über Lk 21,25-33

Liebe Gemeinde, einmal im Jahr werde ich konservativ. Advent. Da soll es alt und echt sein. An der Wand hängt mein alter Adventskalender, ein Nikolaus aus Filz, früher so groß wie ich, mit vierundzwanzig kleinen Taschen. Ein paar davon beginnen sich zu lösen, der Filz ist an manchen Stellen so ausgedünnt, dass die Wand dahinter durchscheint, aber ohne meinen Nikolaus ist kein richtiger Advent! Und ohne Plätzchen auch nicht. Und zwar die richtigen, nach Rezept von Oma, in gestochen scharfem Sütterlin notiert, 200g Mehl, 350 g Butter – „gute Butter!“, steht am Rand, das muss sein, einmal im Jahr, ohne Omas Plätzchen ist kein richtiger Advent! 
Und ohne unsere alte Weihnachtskassette auch nicht. Im Keller steht ein alter Kassettenrecorder, der nur für vier Wochen im Jahr abgestaubt und hochgeholt wird, nur für diese eine Kassette. Tölzer Knabenchor, Fritz Wunderlich, Hermann Prey. Es leiert und knackt ein bisschen, aber das gehört dazu, ohne die Musik ist kein richtiger Advent! 

Würde eine Soziologin oder ein Psychologe mich beobachten, er oder sie hätte sicher eine Erklärung parat: Der Adventskalender, die Plätzchen, die Musik – alles Versuche, eine idealisierte Vergangenheit heraufzubeschwören, Fluchtpunkte und Inseln der Geborgenheit in einer unüberschaubaren Gegenwart, deren harte Kanten im Kerzenschein etwas weicher erscheinen. Mag alles sein, würde ich dem Psychologen oder der Soziologin sagen, und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss noch Kerzen kaufen, denn ohne unsere alte Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge ist auch kein richtiger Advent. 

(c) Dorothea Jacob / pixelio.de


Und dann kommt Jesus. 

Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass jetzt der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte vergehen nicht. 

Ich lese diesen Text, und der Tölzer Knabenchor klingt schrill und schief, die Plätzchen zerbröseln, die Figuren der Weihnachtspyramide laufen schneller. Gerade bei den ersten Sätzen. Nicht, weil es alles so abwegig wäre. Sondern weil ich das Gefühl kenne, das Jesus da beschreibt. Auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde. Ich kenne das Gefühl, manchmal stellt es sich ein, schleicht sich von hinten an. Wenn ich Zeitung lese, wenn die Schlagzeilen über den Bildschirm flimmern, von Entwicklungen, die kaum steuerbar erscheinen: Die nächste Immobilienblase. Ebola – und all die anderen Erreger, die nur eine Mutationsstufe von der Resistenz gegen unsere Wundermittel entfernt sind. Der Klimawandel. Russland. IS. 

Und ich verstehe den cantus firmus, diese grundlegende Melodie unserer Adventslieder, die Sehnsucht, die sich darin Ausdruck verschafft, das flehende Rufen nach einer anderen, besseren Welt. 
Da sind die Flüchtlinge aus den Elendsecken dieser Welt. Hoffnungen zerschellen an unseren dichten Grenzen, unseren Mauern aus Angst und Paragrafen. O Heiland, reiß ab, wo Schloss und Riegel für. 
Da ist die alte Frau aus meiner Gemeinde in Köln. Sie wird irre an einem Leben, in dem sie allein übrig ist, nachdem ihr Mann und Tochter genommen wurden. Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? 
Da ist die junge Rumänin. In einer viel zu billigen, viel zu dünnen Jacke wandert sie die Grupello- oder Charlottenstraße auf und ab, flüstert jedem Mann, dem sie begegnet, mit einer eindeutigen Geste zu: Zehn Euro! O Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein. 

Und dann kommt Jesus. 
Kommt mit Worten, die sich sanft wie kühlender Tau auf die Risse der Welt legen, summt eine leise, aber durchdringende Melodie gegen das Tosen und Wogen der Mächte und Gewalten. Nimmt mich ernst, wo ich nicht weiter weiß: In der Welt habt ihr Angst… aber lässt mich damit nicht stehen: Seid getrost, denn ich habe die Welt überwunden. 
Malt mir einen neuen Himmel und eine neue Erde vor Augen, in der kein Leid, kein Schmerz, kein Geschrei mehr sein wird und alle Tränen abgewischt werden. Und macht damit unmissverständlich klar, dass die, denen Unrecht getan wird, Recht bekommen sollen und werden. 

Würde jetzt jemand zuhören, der diese Stimme selbst noch nicht gehört hat, er hätte sicher eine Erklärung parat: Typische Krisenreaktion, und billige Vertröstungsmechanismen noch dazu, das alte Machtspiel der Kirchen, um sich das soziale Unrecht vom Leib und Menschen klein zu halten. Das alte Entsagungslied, das eiapopeia vom Himmel, mit dem man einlullt, wenn es weint, das Volk, den großen Lümmel. Mag alles sein, würde ich sagen, aber hören Sie ihm doch weiter zu: Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Ich mag diesen Satz, auch und gerade in dieser alten Übersetzung, mit Wörtern, die ich im Alltag nicht benutze, die aus der Zeit gefallen scheinen, oder eher: Von außen in unsere Zeit hereinbrechen. Seht auf und erhebt eure Häupter, das klingt gewichtiger und stärker, ist etwas ganz anderes als ein lapidares „Kopf hoch!“ Das klingt nach Würde, und ich glaube, genau darum geht es. 

Erhebe dich, steh auf – so oder so ähnlich spricht Jesus mit den Menschen, denen er auf seinem Weg nach Jerusalem, zu dem Platz, auf dem er diese Rede hält, begegnet, und das durchzieht sein Tun ihnen gegenüber. Das erlebt der junge besessene und krampfgeschüttelte Mann, der von allen Seiten nur als Kranker behandelt, der immer nur geschoben und gezogen wird. Erhebe dich, steh auf. Das sagt Jesus zu der Frau, die ihr Leben lang unter ihrem gekrümmten Rücken leidet und niemandem auf Augenhöhe begegnen kann. Erhebe dich, steh auf. All diese Wunder, all diese Heilungen in Fällen, in denen unsere Prognosen keine Perspektive mehr bieten, münden darin: Die Geheilten richten sich auf, und hoch erhobenen Hauptes gehen sie erste Schritte in ein neues Leben als freie Menschen. In der Theologie sagen wir, dass in diesen Wundern das Reich Gottes aufblitzt, dass sie erahnen lassen, wie es sein soll und sein wird: Menschen werden befreit aus Fremdbestimmung und Isolation, erkennen sich selbst und werden von anderen erkannt als das, was sie sind: Gottes Kinder, die Seinen Namen tragen und deren Gesichtszüge die Verwandtschaft zeigen. 

Ich glaube, das passiert. Auch heute. Wenn die vielen, vielen Spenden, die wir in diesen Wochen sammeln, an Projekte gehen, die Menschen Starthilfe geben für ein selbstbestimmtes Leben. 
Das passiert. Wenn Sie heute aufgerichtet und erhobenen Hauptes aus diesem Gottesdienst gehen können. 
Das passiert. Wenn wir auf andere Menschen stoßen, die das, was wir heute gehört haben, auch brauchen können. Wir werden sie finden, wenn wir die Augen offen halten, draußen auf der Bolkerstraße oder dem Karlsplatz, oder, wenn wir uns trauen und Jesu Weg weitergehen, auf der Grupello- und Charlottenstraße. Wir werden sie finden, und sie werden uns deutlich zeigen, was sich ändern muss, damit auch sie es hören können: Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich unsere Erlösung naht: Jesus kommt. Advent. 

Liebe Gemeinde, ein bisschen konservativ bin ich schon geblieben, was den Advent angeht. Wohl wissend, dass unsere Hoffnung eben nicht auf Bewahrung und Erhaltung zielt, sondern sehr genau im Blick hat, dass diese Welt nicht so bleiben kann, wie sie ist. Ich möchte auf meinen Nikolausadventskalender, meine Weihnachtspyramide und Omas Plätzchen (mit guter Butter!) nicht verzichten. Ich ahne, dass Zeiten kommen können, da werden sie ihren Zauber verlieren, da wird selbst der Tölzer Knabenchor nicht gegen das Brausen und Wogen ansingen können. Dann hoffe ich, dass Jesus kommt. Als ein Gegenüber, dem ich meine Angst entgegenschleudern kann. Dann hoffe ich, dass er zu mir spricht, wie zu den Jüngern in seiner letzten großen Rede, dass ich ihn hören kann, wenn er mir sagt: Was Du vor Augen hast, was Dich erschreckt und klein macht, wird immer nur das Vorletzte sein und nicht das letzte Wort haben. Dann hoffe ich, dass mir in der Kirche oder draußen jemand entgegenkommt, der mir unter die Arme greift und mir seine Worte sagt: Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht. Amen.

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