Sonntag, 23. August 2015

"...von einem stinkenden Stern"

FREITAL.
HEIDENAU.
HOYERSWERDA.
ROSTOCK-LICHTENHAGEN.
Aber auch:
MÖLLN.
KÖLN-MÜLHEIM.
SOLINGEN.


"In Solingen brannte ein Haus, Frauen und Kinder verbrannten. Betroffenheitsadressen wurden abgegeben. Ratlosigkeit herrschte vor. Wahrscheinlich waren die Mörder Jugendliche. Sie haben ihren Hass gegen das Ganze, gegen uns gerichtet - und Muslime getroffen. Wer vergiftete sie? Wir. Die Jugendlichen fielen nicht von einem stinkenden Stern, sondern wuchsen unter unseren kalten Händen auf. Wir, traditionell auf dem rechten Auge blind, verniedlichten doch die Nazischweinereien. Wir hatten drei Jahrzehnte anderes zu tun, als unserer Jugend Rede und Antwort zu stehen. Wir lehrten sie den Gebrauch der Ellenbogen, wir ersetzten Rückgrat und Anstand durch die harte Mark - und wundern uns. Wir werden uns verrückt wundern. Johannes Rau hat schon recht, wenn er sagt: 'Wir können Gesetze schaffen und anwenden, wie wir wollen. Findet keine Veränderung in den Köpfen und in den Herzen statt, sind wir verloren!' 'Die Stadt liegt wüst, und die Häuser sind ohne Menschen', sagt Jesaja."
Peter Beier, 1993.

Bild von der Aachener Zeitung.

Donnerstag, 13. August 2015

Analog-Exerzitien | Lebenskunst unter Künsten

Schwer liegt sie in der Hand, die alte Kamera, eine Revueflex AC2. "Gute Kamera", brummen die, die sie noch kennen. Ich habe sie geerbt, generalüberholen lassen, und will damit jetzt das Fotografieren lernen. Wenn es ohne Bildstabilisator, Autofokus und Blitzautomatik geht, dann geht alles andere erst recht.



Sie bringt einen Hauch von Gestern ins Leben - wo bekommt man eigentlich noch Rollfilme? Und wie überbrückt man die gefühlte kleine Ewigkeit, bis die Bilder endlich entwickelt sind und man mit klopfendem Herzen noch im Fotoladen den Umschlag aufreißt? 

Warten. Nägelkauen. Loslassen. Überrascht Werden.

Das Warten auf ein Ergebnis eigener Arbeit hat fast etwas Exerzitienhaftes. Die Entwicklungszeiten zwingen zu Geduld, verlangen, dass ich ein Projekt erst einmal ruhen lasse und woanders weiter mache. Das bedeutet auch: Ergebnisse können nicht direkt abgeglichen werden. Ich drehe an der Blende, schraube ein anderes Objektiv auf, drücke ein paar Mal auf den Auslöser - und hoffe, dass ich in ein-zwei Wochen noch weiß, warum das eine Foto besser oder schlechter oder einfach nur anders ist als das nächste. Einerseits führt das zu einem bewussteren Tun: Ich schraube nicht einfach so herum, versuche, mir Einstellungen zu merken, vielleicht sogar zu notieren. Andererseits bringt es eine Gelassenheit mit sich: Es wird sich schon zeigen, welche Einstellung die richtige war. Oder, bei mir im Moment eher der Fall, welche die falsche, wann ich die Kamera nicht ruhig genug gehalten habe. Und so. Ich akzeptiere, habe ja auch gar keine andere Wahl, als mich überraschen zu lassen. 



Kontrollverlust.

Es ist ein Reflex. Wenn das Foto geschossen ist, kippe ich die Kamera nach unten und gucke auf ihre Rückseite. Dummerweise sehe ich da aber keinen Bildschirm, sondern eine Tabellen mit irgendwelchen Zahlenwerten, die wahrscheinlich kolossal wichtig sind, deren Sinn mir aber bislang verborgen bleibt (was sich wahrscheinlich auch auf die Fotos auswirkt). Ich kann nichts bewusst korrigieren, kann nicht garantieren, dass das Foto dem Motiv, das ich im Moment so toll finde, auch nur annähernd gerecht wird. Vielleicht wird sich das im Laufe der Zeit ändern, im Moment ist zumindest der gefühlte Kontrollverlust total und lässt sich auch durch das drei- oder viermalige Knipsen zur Sicherheit nicht ausgleichen. Es nervt, ungemein. Auf jeden Fall am Anfang. Und gleichzeitig merke ich: Es fällt mir leichter, mich von Motiven zu lösen, aus Situationen zu verabschieden und weiterzuziehen. 



Grenz 'n' Werte.

Sechsunddreißig. Zum ersten Mal seit über fünfzehn Jahren kriegt diese Zahl etwas Magisches. Sechsunddreißig Bilder passen auf einen Film, eigentlich noch weniger, das erste und das letzte Bild werden ja nie etwas. Was für andere Dimensionen sich hier auftun, wird mir bewusst, als ich mir den Ordner mit meinen Bildern aus dem Israelurlaub im Herbst angucke. Das sind 1.327 Fotos. Tausenddreihundertsiebenundzwanzig. Schon das Zahlwort ist unübersichtlich. Tausenddreihundertsiebenundzwanzig. Sechsunddreißig. Die Rolle hat einen Anfang und ein Ende, dazwischen ist Platz, und der reicht eigentlich, ist knapp, aber nicht zu knapp. Und Verknappung bedeutet ja Intensivierung. Schon im Prozess des Fotografierens. Der wird langsamer. Für zig Versuche, unter denen mit etwas Glück schon etwas Gutes dabei ist, ist schlicht kein Material da. Das ändert das Fotografieren: Ich mache mir mehr Gedanken über das einzelne Foto. Und irgendwie macht es auch was mit den fertigen Fotos. Sie sind weniger. Und wertvoller. Wahrscheinlich nicht aus künstlerischer Sicht. Aber aus meiner. Vielleicht, weil in Kopf und Herz kein Platz für tausenddreihundertsiebenundzwanzig Geschichten ist, für 36 aber schon.



Verlangsamung. Ungleichzeitigkeit.

Die ungewohnt lange Zeitspanne zwischen dem Knipsen und dem fertigen Bild führt dazu, dass die analog entstandenen Bilder, auch wenn die Fotolabore mittlerweile immer eine CD dazuliefern, für bestimmte Dinge nicht geeignet sind. Zum Beispiel für keine unmittelbaren Statusupdates, für Selfies oder Momentaufnahmen, die anderen zeigen: Hier bin ich, das mache ich gerade. Die Gefahr ist deswegen geringer, dass sie Fotos werden, die eigentlich für andere sind. Und die Zwischen-Zeit verändert das Betrachten der Bilder: Zwischen ihrem Entstehungsmoment und dem ersten Angucken liegt eine Zeit des Wartens, aber auch eine Zeit des Erinnerns und des Verarbeitens, aus der Gegenwart ist Vergangenheit geworden. Auch das entlastet die Bilder, und lädt sie gleichzeitig auf mit etwas Anderem, Tieferen. Der ausgedehnte Entwicklungsprozess, der Wert der einzelnen Bilder, all das macht auch etwas mit dem Fotografieren an sich. Ich bin langsamer geworden. Ertappe mich immer wieder dabei, bei meiner Kompaktkamera unwillkürlich am optischen Zoom drehen zu wollen, habe das Handy gar nicht mehr so schnell in der Hand. Dadurch gehen Motive verloren, aber gleichzeitig entstehen weniger Fotos, die ihnen nicht gerecht würden. 



Die Würde des Unperfekten.

Vielleicht braucht man eine gewisse Reife, um in dem Etikett "Interessantes Gesicht!" das Kompliment wahrnehmen zu können. Denn zuallererst signalisiert es ja ein Abseits von gängigen Schönheits- und Perfektionsidealen. Hand aufs Herz: Der zeitliche Abstand zwischen dem Anblick des Motivs im Sucher und dem ersten bangen Blick auf die Bilder birgt auch Enttäuschungspotenzial. Das Motiv wandert in den Kopf, nistet sich dort ein, wird schöner und ausdrucksstärker und rundum perfekter und überhaupt. Und beim Durchblättern der Fotos stelle ich fest: Autofokus, Bildstabilisator - ganz so verkehrt ist das alles nicht. Und ärgere mich über Körnung, verwackelte Bilder, ganze Filme, die nichts geworden sind. Zum Glück gibt es kluge Leute wie Henri Cartier-Bresson. Der hat einmal gesagt, Schärfe sei ein bourgeoises Konzept. Und recht hat er ja. Zu glatte Fotos sind nicht nur unrealistisch, sie sind auch uninteressant. Warum auch sonst sollten wir Instagram- und sonstige Retrofilter über unsere Digitalbilder jagen, die ihnen einen Anschein von der guten alten Zeit und irgendetwas ungreifbar "Echtem" verleihen sollen? Wer an den vermeintlichen Schönheitsfehlern vorbei sieht, kann sich der Geschichte öffnen, die ein Bild oder auch ein Gesicht erzählt. The supreme vice is shallowness (Oscar Wilde). Trotzdem brauche ich unbedingt ein lichtstärkeres Objektiv. Und vielleicht doch was mit Bildstabilisator...


Mittwoch, 5. August 2015

Plädoyer fürs Händchenhalten - gegen neumodische Abständigkeit

Auf dem Abendmahlstisch stehen halbleere Kelche, ein-zwei Teller mit Brotstückchen und -krümeln, ein paar zusammengeknüllte Stoffservietten. Ein bisschen unordentlich, aber irgendwie stimmig. Man sieht, dass Menschen hier gefeiert, gegessen und getrunken haben, wie ein Esstisch nach einer Feier. Die Feiernden stehen noch im Kreis um den Tisch, und während die Orgelmusik langsam verebbt, nehmen sie sich bei der Hand. Manche greifen beherzt und routiniert nach der Hand ihres Nebenmanns oder ihrer Nebenfrau. Andere zögern, lächeln nervös, ihr Blick flackert unsicher im Kreis umher. "Christus spricht: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben... so geht hin im Frieden des Herrn." Bei den letzten Worten blicken sich die Leute an, nicken einander zu, manche drücken die Hand ein bisschen extra. Schnell lösen sich die Hände wieder voneinander, der Moment ist verflogen, alle gehen zurück zu ihren Plätzen, manche bleiben noch ein wenig stehen, spüren nach, schmecken nach, folgen ihren eigenen Gedanken oder beten.

Die evangelische Liturgik gefällt sich, nach Jahrzehnten des Pädagogisierens und Elementarisierens, seit Neuestem wieder in der Kultivierung von Abständigkeiten. Man wendet sich u. a. gegen das (zugegebener Maßen nervige und kontraproduktive) Toterklären eines jeden gottesdienstlichen Elements, gegen eine angebliche "Gebetsstille", bei der der Liturg das Gebet mit mehr oder weniger geistreichen Kommentaren zum Thema "Schweigen" stört. Oder gegen die vermeintliche Volksnähe der Liturgin, die begeistert und in blumigen Worten einen Segen anmoderiert, darüber aber das tatsächliche Segnen vergisst. Soweit, so gut. 

Screenshot von deutschlandradiokuktur.de
In den letzten Wochen macht in liturgisch versierten Kreisen bei Facebook ein Interview die Runde, das Deutschlandradio Kultur mit dem Mainzer Praktischen Theologen Kristian Fechtner geführt hat. Der hat zum Thema "Scham" geforscht - ein überaus ergiebiges und derzeit daher auch von allen Seiten beackertes Feld. "Der 'Mitmachgottesdienst' kommt nicht bei allen an", so ist der etwas reißerische Titel über dem Interview, und das ist ein wenig schade, denn eigentlich geht es nur im letzten Absatz darum, der Rest bietet durchaus Interessantes zu Scham und Religiosität und nicht zuletzt auch zur Kopftuchfrage. Fechtner plädiert dafür, "Bedürfnisse von Distanz" ernst zu nehmen, auch in liturgischen Formen. 

Und ich bin etwas ratlos. Weil ich mich frage, ob hier nicht, wie das sonst immer bei den EKD-Mitgliedsuntersuchungen der Fall ist, ein eigentlich defizitärer Befund und damit der eigentlich unbefriedigende status quo theologisch geadelt werden soll. Weil ich den statistischen Beleg dafür vermisse, dass Kirchgängerinnen landauf und landab allsonntäglich mit "bunten Zetteln" oder ähnlichen Anleihen aus Primarpädagogik und Moderationsworkshops gequält werden. Meine Wahrnehmung ist da eine andere. In den letzten Gottesdiensten, die ich in Urlaubs- und predigtfreien Zeiten in fremden Städten besucht habe, hat man im vorauseilenden Gehorsam auf Fechtner gehört und mich "undercover im Gottesdienst unterwegs sein" lassen: Mein Gesangbuch durfte ich mir selbst aus einem Regal ziehen oder aus der Hand von Gemeindegliedern entgegennehmen, die eher nach Wachtposten als nach Willkommenskomitee aussahen. In meiner Bank irgendwo in der Mitte des Kirchenschiffs saß ich allein, der einzige, der sich mir in der knappen Stunde näherte, war ein Presbyter, der Geld von mir wollte, mir wort- und blickkontaktslos den Klingelbeutel in die Hand drückte und ungeduldig am Rand stehen blieb, bis ich mein Scherflein entrichtet hatte. Nach dem Orgelnachspiel verließ ich, weiterhin unbehelligt, meinen Platz, stellte das Gesangbuch ab, wo es offensichtlich hingehörte, und ging meiner Wege.

Ich glaube nicht, dass "Mitmachgottesdienste" gar so häufig sind. Und ich glaube, dass die bloße Existenz des Wortes auf etwas aufmerksam macht, das mir in der liturgischen Debatte oft zu kurz kommt: Offensichtlich ist das "Mitmachen" im Gottesdienst nicht der Normalfall, die häufig angeführte Behauptung, liturgische Wechselgesänge allein böten reiche Partizipationsmöglichkeiten, ist letztlich und vor allem ein romantisierendes Schreibtischprodukt. 

Die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich als fremder Gottesdienstbesucher mit den anderen Mitfeiernden in Kontakt gekommen bin, war beim Abendmahl. Ausnahmslos wurde sich da ans Händchen genommen, eine Praxis, die in der aktuellen liturgiewissenschaftlichen Debatte aus nachvollziehbaren Gründen keinen guten Stand hat (vgl. etwa Thomas Klie in Fremde Heimat Liturgie, der an dieser Stelle nicht mit Galle spart). Mir ist dieser Moment wichtig, weil mir in dem fragilen Moment der Gemeinschaft deutlich wird, dass ich Teil von etwas bin, das über meinen eigenen Horizont und die von mir selbst definierten Grenzen von Nähe und Distanz hinausgeht. Etwas, das im alltäglichen Leben peinlich und undenkbar wäre, wird für einen Moment möglich und berührend.

Ich frage mich, ob Fechtners Theorie vom "diskreten Christentum" nicht ein hübscher Name für eine an sich problematische Entwicklung ist. Natürlich hat jeder und jede das Recht auf einen Platz am Zaun, den Ausgang ständig im Blick, falls einem irgendetwas oder irgendjemand im Gottesdienst zu nahe kommen sollte. Gleichzeitig habe ich die Menschen vor Augen, die in der angeblichen Volkskirche Gemeinschaft suchen - und sie nicht finden. Und in der Bibel lese ich ständig Geschichten von zum Teil recht gewaltsamer Distanzüberwindung, und zwar von beiden Seiten: Da ist Zachäus, der Jesus von seinem Versteck im Baum aus beobachten will und lernt, dass gerade dort nichts über ihn zu erfahren ist. Da sind die Hirten der Weihnachtsgeschichte, die sich hinter ihren Hürden außerhalb der Stadt verschanzen und buchstäblich heimgesucht werden. Da sind die vier Freunde, die Jesus aufs Dach steigen und ihren gehbehinderten Freund zu ihm runterlassen. Da ist die blutflüssige Frau, die Jesus hinterherläuft und sein Gewand berührt. 

Unterm Strich: Ich habe nicht ganz so viel übrig für bunte Zettel im Gottesdienst. Und trotzdem möchte ich weiter nach gottesdienstlichen Formen suchen, die der Vereinzelung der Gesellschaft etwas entgegen setzen, und sei es auch nur für einen Moment. Es geht um viel.