Freitag, 16. Oktober 2015

"Immer erstmal auf dem Stuhl sitzen bleiben" - ein Besuch bei diesseits in Aachen

Plötzlich ist es ganz still, als die Glastür hinter uns ins Schloss gefallen ist. Nach dem Alltagslärm auf der Pontstraße tut das erstmal gut. Wir stehen in einem Ladenlokal, schwarze Fliesen, Tische und Stühle, vor den Fenstern stehen Pinwände und schützen vor neugierigen Blicken von außen. In einer Ecke ein blauer Flauscheteppich, darauf ein Rattankoffer, Sprechpuppen. Und ein Schmetterling. Es ist ruhig, aber nicht totenstill, und das ist wahrscheinlich gut so. Wir stehen in den Räumen von diesseits in Aachen, einem Projekt, das sich an trauernde Kinder und Jugendliche wendet, ihnen Raum und Gesprächsmöglichkeiten bietet. Wir, das sind jugendliche Ehrenamtliche aus der Kölner Jugendarbeit, die sich in den Osterferien weiterbilden zum Thema "Gruppen an der Grenze". Ein paar Grenzen haben wir schon passiert, heute soll es um diese letzte große gehen. Ob die Leute von diesseits sich vorstellen könnten, uns etwas von ihrer Arbeit zu erzählen und den Jugendlichen ein paar Tipps mit auf den Weg zu geben, hatten wir ein paar Wochen vorher mal gefragt. "Klar, herzlich willkommen!" war die prompte Antwort, und genauso herzlich und unkompliziert geht es an diesem Tag weiter. 

Wir sitzen im Stuhlkreis, und Adelheid Schönhofer-Iyassu und Maria Pirch, die beiden Hauptamtlichen des Projekts, beginnen zu erzählen. Über das Projekt, das von den Maltesern und der Pfarrei Franziska in Aachen gemeinsam getragen wird. Und immer wieder von ihren Erfahrungen mit der Trauer von Kindern und Jugendlichen. Man ahnt beim Zuhören, dass sich hier seelsorgliche Kompetenz und Leidenschaft treffen. Gutes Gefühl, das.



Aber es bleibt nicht beim Referat. Plötzlich ist der Ball zurück in die Gruppe geworfen. "Was habt Ihr für Erfahrungen mit Trauer oder Tod gemacht, bei euch selbst oder bei anderen?" fragen die Referentinnen. Und erstmal sagt niemand etwas. Doch dann löst sich irgendetwas, der Erste traut sich mit seiner Geschichte in die Runde. Alle hören zu. Dann die nächste. Dann noch jemand. Am Ende der Runde wird fast jede_r etwas gesagt haben, und auch diejenigen, die sich seit Jahren kennen, lernen Neues voneinander. "Krass, das wusste ich gar nicht", entfährt es einer Jugendlichen, als ihre Freundin vom Tod ihrer Oma erzählt. "Warum redet man da eigentlich nicht drüber?" fragt ein anderer, und so lernen die Jugendlichen ganz nebenbei, was es heißt, dass der Tod in unserer Gesellschaft marginalisiert wird. Die eigenen Trauererfahrungen spielen eine Rolle, wenn man Trauernde begleitet. Die eigenen Trauererfahrungen sind plötzlich mit im Raum, im Ladenlokal auf der Pontstraße. Und man hat das Gefühl, dass sie dort gut aufgehoben sind, bei den beiden Hauptamtlichen, die so aufmerksam und so wohltuend undramatisch zuhören. Und in der Gruppe, die gerade ein Stück zusammengerückt ist. 



In einer letzten Runde wird es wieder pragmatischer: Wie können ehrenamtliche Teamer_innen zum Beispiel mit einer Konfirmandin umgehen, deren Eltern uns bei der Abfahrt zur Wochenendfreizeit mitteilen: "Die Marie ist vielleicht ein bisschen neben der Spur, weil ihre Oma gestern gestorben ist?" Schon bei der Vorbereitung der Schulung wurde es deutlich, und bei der Nachlese mit anderen Referent_innen wird es sich bestätigen: Das Thema spielt bei der Teamerfortbildung, bei Schulungen für die JuLeiCa und dergleichen, so gut wie keine Rolle. Im Gespräch fallen, wie nebenbei, weise Ratschläge: "Immer erstmal auf dem Stuhl sitzen bleiben." - "Fragt euch mal, ob das auch schon eure beste Freundin war, bevor sie einen Trauerfall hatte." Und ähnliches. Die Jugendlichen hören aufmerksam zu, fragen engagiert nach, bringen immer wieder ihre eigenen Erfahrungen mit ins Spiel. 

Nach ein paar Stunden verlassen wir das Ladenlokal. Um uns herum die verkehrsreiche Pontstraße, der Alltag hat uns plötzlich wieder, verlangt, dass wir mitgehen, das Tempo halten, uns anpassen. Und noch einmal wird deutlich, wie wichtig solche Orte wie diesseits sind, an denen Kinder und Jugendliche sagen können: "Plötzlich ist alles anders."

Irgendwann geht es von Aachen zurück nach Vaals. Einkäufe, Abendessen, das Übliche. Aber der Besuch wirkt nach. Statt, wie sonst, lautes Gelächter aus einem der Bungalows zu hören, stößt man überall auf Zweier- oder Dreiergruppen, die sich zurückgezogen haben, unter einem Fliederbusch sitzen, auf der Terrasse, in einem Fenster. Einer der älteren Jugendlichen kommt rüber zum Leiterbungalow. Setzt sich zu uns an den Tisch. "Krass", sagt er, "da hat irgendwie jeder eine Geschichte, mit Trauer und so." Und dann beginnt er, seine zu erzählen. Es wird ein guter Abend. Ruhiger als sonst. Aber das braucht man manchmal. Danke dafür.