Montag, 27. Juni 2016

Was ich auf Lektorenworkshops lerne

Ab und zu gebe ich Workshops für Lektorinnen und Lektoren, das sind im Rheinland die Menschen, die im Gottesdienst aus der Bibel vorlesen. Ende des Jahres soll im kleinen, aber feinen Lutherverlag ein hoffentlich ebenso kleines wie feines Büchlein zu diesem Thema erscheinen.
Manchmal kenne ich die Gemeinden zumindest aus der Ferne, weil ich von mir persönlich bekannten Kolleginnen und Kollegen angesprochen werde. Manchmal lerne ich neue Gemeinden kennen, und das dann ausnahmsweise nicht aus Pfarrers-, sondern aus Laienperspektive. Das ist noch einmal was anderes. Dadurch bekomme ich Einblicke in die liturgische Praxis, und das ist durchaus interessant. Die folgenden Beobachtungen sind zum Teil ein wenig zugespitzt formuliert, aber das soll nur der Verdeutlichung dienen.

1. Gottesdienst ist Pfarrerssache. Oder?



In vielen Gemeinden scheint es immer noch Usus, dass der Pfarrer oder die Pfarrerin einen Großteil des Gottesdienstes bestreitet. Dagegen ist auf den ersten Blick wenig zu sagen, schließlich sind sie dafür ausgebildet und werden dafür bezahlt. Trotzdem ist das problematisch, es gibt ja immerhin so etwas wie das Priestertum aller Getauften. Es wird auch in Einzelfällen störend sein, wenn zum Beispiel der Lektor oder die Lektorin nach der Lesung nicht zum Halleluja der Gemeinde oder zum Glaubensbekenntnis überleitet, sondern der Pfarrer oder die Pfarrerin das tut - das führt nämlich zu unnötiger Hektik, weil an einer atmosphärisch dichten Stelle das Geschehen für einen Orts- und Personenwechsel unterbrochen wird. Auch andere Elemente werden von Pfarrern übernommen, die sie gar nicht machen müssen, zum Beispiel die Begrüßung zu Beginn des Gottesdienstes, die Ansage der Kollekten und anderes. Ich rate den Workshopteilnehmenden, bei allem, was ihnen unklar oder falsch erscheint, erst einmal nachzufragen: Warum ist das so? Woher kommt das? (Hier kommt bei mir der Kirchengeschichtler durch.) Vielleicht gab es einmal eine Phase, in der es nur Lektorinnen und Lektoren gab, die das partout nicht wollten oder nicht konnten. Aber vielleicht hat sich das mittlerweile geändert, und die Kollegin oder der Kollege hat das nur noch nicht mitbekommen? 
Am Rande: Laut der geltenden Agende wird der Gottesdienst unter "Beteiligung und Verantwortung der ganzen Gemeinde" gefeiert. Dass Menschen dadurch verantwortlich beteiligt werden, dass sie auf ein unsichtbares Signal hin einen Liedruf singen, der ihnen in Text- und Notenbild nicht vorliegt, ist Quatsch

2. Die Rolle der Bibel ist unklar.



Nicht viele, die an den Workshops teilnehmen, lesen aus der Bibel vor, die meisten drucken sich den Text der Augenfreundlichkeit wegen aus. Ich rate dann, den Text passgenau zuzuschneiden und zumindest in eine Bibel hineinzulegen - es macht einfach einen haptischen, optischen und symbolischen Unterschied, ob ich aus einem Buch vorlese oder einer Mappe, schlimmstenfalls von einem bloßen Blatt. Dass es sich dabei um eine Bibellesung handelt, ist für die Zuschauenden kaum nachvollziehbar. Ich frage dann nach der Funktion der Altar- oder Kirchenbibel. Die liegt meistens dekorativ irgendwo herum, für die Lesung ist sie nicht geeignet, weil sie ein in Würde gealtertes Exemplar der Lutherbibel von 1912 oder einfach zu schwer und wuchtig ist, um sie zu benutzen. Man kann die herumliegende Altarbibel symbolisch aufladen und sie als Zeichen für das sich ereignende Gotteswort deuten. Man kann aber auch fragen, welche Rolle die Bibel im Leben der Gemeinde spielt, sowohl im Gottesdienst, als auch im sonstigen Gemeindeleben - zum Beispiel dann, wenn Menschen, die den Lektorendienst und damit ein sehr altes und ehrwürdiges, durch und durch geistliches Amt der Kirche übernehmen, mitunter keine Bibel zuhause haben, aus der sie im Gottesdienst vorlesen könnten.



3. Die Lutherbibel ist ebenso über- wie unterschätzt.



Die Lutherbibel gilt vielerorts als die unangefochtene Königin der Bibelübersetzungen. Ihren historischen Wert kann man kaum bestreiten, nur werden diese historischen Aspekte zu vorschnell und zu unbedacht ins Spiel gebracht, wenn es darum geht, ihren Gebrauch im Gottesdienst Anfang des 21. Jahrhunderts zu begründen: Ja, die Lutherbibel war besonders, weil sie auf den hebräischen und griechischen Text zurückgriff. Ja, sie hatte eine Breitenwirkung, weil die Wettiner Kanzleisprache für viele damalige Menschen verständlich war. Ja, Luther war ein sprachgewaltiger und hellhöriger Menschenkenner und Wortkünstler. Nur: Das alles reicht nicht aus, um ihren gegenwärtigen und oft alternativlosen Gebrauch zu begründen. Es stimmt zwar, dass viele Wendungen geläufig und vertraut sind, nur: Diejenigen, die Bachkantaten rezitieren können und im Konfirmandenunterricht ganze Psalmen und Bibelstellen auswendig gelernt haben, sterben zumindest in der Breite aus. Wer entsprechend sozialisiert ist, wird in manchen wortgewaltigen Passagen eine Beheimatung erleben - wer das nicht ist, hört sie im besten Fall nur als heiliges Rauschen ohne konkreten Inhalt, das allenfalls ein wohliges Gefühl des bedeutungsvollen Nichtverstehens heraufbeschwört, das viele Menschen mit "Kirche", "Gottesdienst" oder "Religion" verbinden.

Unterschätzt wird die Komplexität der Sprache, die Schwierigkeit von Formulierungen, die in der Alltagssprache, an deren Prosodie sich das Vorlesen zu orientieren hat, ausgestorben und von allzu behutsamen Revisionen unangetastet geblieben sind: Sinn- und zwecklose Inversionen ("Und Gott sah an alles..."), gnadenlos verschachtelte Nebensätze, die ständige Verwendung von "sprach" statt "sagte", die zwanghafte und nervtötende Wiedergabe des füllwörtlichen "de" durch das ungleich kräftigere "aber" (das im Deutschen eben kein Füllwort mehr ist), das ewige und in der Umgangssprache nur noch ironisch verwendete "siehe (da)" und so weiter. Hier geht es nur um formale Kleinigkeiten, nicht um gewichtige Probleme wie den zweifelhaften Gebrauch von unglücklich aufgeladenen Begriffen wie "Seele", aber in der Masse reichen sie aus, um die Distanz zum Text unendlich groß werden zu lassen, das Reden über den Glauben aus dem Alltag zu holen - und vor allem das sinnvolle Vorlesen einzelner Passagen zu einer kaum zu bewältigenden Aufgabe zu machen. 

Nach allem, was bisher von der 2017er Revision zu lesen war, löst auch sie diese Probleme nicht, stellenweise verschärft sie sie sogar. Ein Problem ist auch der Mangel an Alternativen, sieht man einmal von der Zürcher Bibel ab, die recht nah am Luthertext ist (so nah, dass viele Leute jenseits von Psalm 23 gar keinen Unterschied bemerken), aber nicht nur genauer, sondern auch verständlicher formuliert.

4. Die BasisBibel muss endlich fertig werden.  



Als gangbare, da einzige Alternative galt bislang die Gute Nachricht Bibel, die den im Untertitel verewigten Anspruch, "in heutigem Deutsch" verfasst zu sein, seit zwanzig Jahren nicht mehr einlöst. Natürlich muss man Bibeltexte nicht jeder sprachlichen Modewelle anpassen, man darf es vielleicht auch gar nicht, aber das Problem liegt nicht in der kommunikativen Ausrichtung der Übertragung, sondern in ihrer stellenweise unerträglichen Verquastheit - wer sich Gen 12,1-4a einmal in der Guten Nachricht durchliest, wird merken, was gemeint ist: Die Passage ist fast doppelt so lang wie in der Lutherbibel, der Versuch, "segnen" durch "Gutes wünschen" und Ähnliches zu verdeutschen, ist unsinnig: Dann würde es am Ende des Gottesdienstes auch reichen, der Gemeinde einen schönen Tag zu wünschen, statt sie zu segnen.
Alternativen gab es bislang nicht, wenn man von Randexistenzen wie Hoffnung für Alle und Neues Leben absieht, die stellenweise noch problematischer sind. Mittlerweile gibt es die hipsterdesignte Neue Genfer Übersetzung und die BasisBibel, die sich langsam und verdienter Weise als echte Alternative durchzusetzen scheint. Dummerweise fehlt hier noch das Alte Testament, weswegen man sie kaum an Konfirmand_innen verschenken kann. Es wird dringend Zeit, dass die ganze BasisBibel vorgelegt und die Gute Nachricht in Rente geschickt wird.

5. Lektor_innen erhalten kaum strukturierte, verlässliche Unterstützung.



Keine_r "meiner" bisherigen Workshopteilnehmenden (und das dürften mittlerweile eine ganze Menge sein) hat in seiner oder ihrer Gemeinde einen Lektorenkreis, in dem regelmäßig praktische oder theoretische Aspekte rund um den Gottesdienst erörtert, Fragen gestellt und Dinge ausprobiert werden können. Wenn sie Glück haben, werden vereinzelt Fortbildungen angeboten, allerdings nicht regelmäßig und vor allem nicht verpflichtend - was dazu führt, dass an solchen Fortbildungen in erster Linie die Leute teilnehmen, die es vielleicht gar nicht so nötig hätten. Die pragmatische Seite dieser Problematik ist mangelnde liturgische, d. h. in erster Linie handwerkliche Sicherheit: Lektor_innen übernehmen Unsauberkeiten im gottesdienstlichen Vollzug von den Pfarrerinnen und Pfarrern (Spitzenreiter: Nach vorne laufen, bevor die Gemeinde zu Ende gesungen hat), weil es keine geregelte Gelegenheit gibt, einmal nachzufragen - das liturgische Lernen der Lektoren ist so viel zu sehr vom persönlichen Kontakt zur Pfarrperson abhängig.
Der regelmäßige Austausch im Lektorenkreis ist eine Möglichkeit theologischer Weiterbildung und damit bedeutsam für den Gemeindeaufbau - außerdem schaffen sich Pfarrerinnen und Pfarrer so die Möglichkeit des Feedbacks durch aufgeklärte und dadurch kritische Gemeindeglieder. Aber vielleicht ist das gar nicht gewollt?
Schwerer als die pragmatischen Aspekte wiegt die andere Seite dieser fehlenden Unterstützung für Lektoren:



6. Der Lektorendienst wird nicht als geistliches Amt ernstgenommen.

Der Lektorendienst gehört zu den ältesten liturgischen Ämtern der Kirche und wird u. a. in der Didache, im zweiten Klemensbrief und den Ignatianen erwähnt - das heißt, schon bevor der Kanon in seiner Endgestalt feststand. Wenn wir uns brüsten, "Kirche des Wortes" zu sein, unser Leben und Lehren an der Schrift zu messen und aus dem Wort heraus zu leben, macht das den öffentlichen Umgang mit ihr automatisch zu einem geistlichen Amt.

Viele Workshopteilnehmende kommen aus einer Praxis, die man "Ablesen" nennen könnte. Wenn sie dann lernen, dass "Vorlesen" unglaublich viel mit Interpretation und Auslegung zu tun hat (schon die Frage, welches Wort betont werden soll, könnte bei manchen Versen seitenweise Kommentare füllen), sind sie zunächst erschrocken, oft aber gegen Ende des Nachmittags angefixt, weil sie etwas von der Lebendigkeit der Schrift zu spüren bekommen - und von ihrer eigenen Kompetenz in Sachen Auslegung, auch ohne Theologiestudium. 

Die geistliche Dimension des Lektorendienstes wird schon dadurch verdunkelt, dass Lektorinnen und Lektoren kaum irgendwo offiziell "eingesetzt" werden. Zwar ist es zugegebenermaßen eine recht junge liturgiegeschichtliche Entwicklung, auch Ehrenamlter einzusegnen, aber warum diese Entwicklung kaum bis gar nicht diejenigen umgreift, die an der öffentlichen Wortverkündigung mitwirken, bleibt rätselhaft - auch und gerade sie brauchen doch Segen, Gebet und Begleitung.  
Eine ungeistliche Amtsführung wird auch dort forciert, wo Lektorinnen und Lektoren nicht aufgrund ihrer Eignung, Begabung oder Freude am Lesen eingesetzt werden, sondern die Lesung mehr oder weniger subtiles Mittel ist, Presbyter_innen zum Gottesdienstbesuch zu verpflichten. "Weil die sonst nicht kommen", heißt es dann manchmal. Das aber ist mindestens ein strukturelles Problem, das auf konzeptioneller Ebene zu lösen und nicht auf Kosten der Lesung auszutragen ist.


7. Die Rolle des Gottesdienstes in der Gemeinde ist unklar.


 "Der Gottesdienst ist die Mitte der Gemeinde", "Im Gottesdienst kommen die Menschen der Gemeinde zusammen". In unendlichen Variationen wird das immer und immer wieder beteuert, und es mag theologisch noch so wahr sein, empirisch ist es falsch. Und dadurch wird auch die Theologie wieder schief. Wenn ich meine eigene Berufspraxis kritisch hinterfrage, dann steht der Gottesdienst nicht im Zentrum. Ich hätte gern, dass das so wäre, und vielleicht wäre das anders, wenn ich als lutherischer Hochkirchler den halben Tag mit Stundengebeten zubringen würde, aber auch dann müsste ich ja noch Statistikbögen ausfüllen und all die anderen Dinge tun, denen man selbst bei bodenständigster Pastoraltheologie keine geistliche Dimension abringen kann. 

Dass der Gottesdienst nicht die Rolle spielt, die wir gerne hätten, wird schon daran deutlich, dass manche Lektorinnen und Lektoren ihren Lesungstext am späten Samstagnachmittag oder sogar erst am Sonntagmorgen bekommen. Damit ist recht deutlich gesagt, was man von diesem Dienst hält. Ich rate dann, sich einfach mal zu weigern - wohl wissend, dass auch meine Lektorinnen und Lektoren von diesem Recht Gebrauch machen könnten und sollten. Nicht jeden Sonntag, aber allzu oft.

Man muss nicht auf die Besucherzahlen gucken, um eine "Krise des Gottesdienstes" heraufzubeschwören. Natürlich ist die da, egal, mit wie viel Nachdruck wir unsere Statistik durch das Hinzuzählen von gottesdienstlichen Großevents mit oft zweifelhaftem inhaltlichen Anspruch schönrechnen, wie sehr wir auf den demografischen Wandel schimpfen und darauf hinweisen, dass ja schon Luther fand, dass zu wenige Leute in den Gottesdienst gehen. Es reicht, einmal darauf zu gucken, wie viel Sorgfalt wir auf die Vorbereitung und Zurüstung derer verwenden, die im Gottesdienst beteiligt sind.

1 Kommentar:

  1. Danke, Holger! Für mich ist die Frage, wie man die Unterstützung strukturell (!) verbessern kann. Flächendeckende Basiskurse fände ich grundsätzlich gut. Meine Erfahrung ist, dass Fortbildungen oft als Anerkenunnung und Wertschätzung (und weniger als "Druck") erlebt werden - selbst wenn sie verpflichtend sind ("Da wird mir zwar was abverlangt, aber ich bekomme da auch etwas. Und ich habe eine Kompetenz entwickelt, die ich wonaders nicht gelernt hätte!").

    Ich kann noch zwei empirische Daten beitragen. In meiner Zeit am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD hatte ich eine Ehenamtsbefragung durchgeführt (http://www.ekd.de/si/downloads/23035.html). Wie in fast allen gemeindlichen Engagementbereichen fühlen sich auch die Lektor/innen unter(!)fordert (89%). Vielleicht liegt das ja auch daran, dass dieser Dienst einfach als "Ablsesen" verstanden wird. Und nur ein gutes Drittel (36%) der Lektor/innen wurde gottesdienstlich eingeführt.

    Deine Idee mit den Lektorenkreisen finde ich übrigens super!

    Martin

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