Montag, 29. Mai 2017

Berlin - Symphonie einer Großstadt: Autoerotik und Industrieporno



Zu den spannendsten Projekten, bei denen ich am Kirchentag mitmachen konnte, gehörte die abendliche Performance Berlin - Die Sinfonie der Großstadt, mit der der Liturgische Tag: Großstadt in der Parochialkirche in Mitte endete. Im Zentrum stand der gleichnamige Stummfilm von Walther Ruttmann aus dem Jahr 1927, der auf einer Leinwand in dieser großartigen Kirche gezeigt wurde. Dazu gab es Livemusik am Klavier, die sich auf den Originalsoundtrack von Edmund Meisel bezog und das Geschehen auf der Leinwand kommentierte und voranbrachte. Da der Film in fünf Akte aufgeteilt ist, gab es sinnvolle dramaturgische Zäsuren, an denen ich mit mehr oder weniger poetischen Texten einhaken konnte. Der Arbeitsauftrag war, theologische Dimensionen freizulegen oder, zumindest habe ich es mir so zurechtgebogen, Gott da irgendwie inmitten der Bilder zu finden und/oder reinzumalen. 

Kleine Leseanweisung: Den Meisel-Score gibt es meines Wissens nicht einfach so in diesem Internet, von daher geht eine Dimension unweigerlich verloren. Man kann sich etwas Atonales, Bildreiches dazu denken. Und dann den Film bis zum Ende des I. Aktes (das Video sagt einem, wann es soweit ist) gucken und unten weiterlesen.




AUTO-EROTIK UND INDUSTRIEPORNO



Langsam und methodisch arbeitet er sich vor. 
Der Handschuh aus Lammfell gleitet über perfekte Rundungen, 
mit sanftem Druck in kreisenden Bewegungen 
massiert er jeden Quadratzentimeter 
pustet in den sich bildenden Schaum 
- schneeweiß, verspielt sich auftürmend - 
ahnt diesen ganz besonderen Duft 
mehr als er ihn riecht 
Lack und Leder und warmes Wachs 
massiert hier und dort noch ein bisschen extra 
nicht weil er müsste, 
sondern weil es sich so gut anfühlt 
nimmt einen Schwamm und taucht ihn in warmes Wasser 
lässt ihn sich vollsaugen und wringt ihn aus 
und sieht, wie Wassertropfen abperlen 
und langsam die perfekten Rundungen hinabgleiten 
und sich auf dem Boden sammeln. 

Und seine Frau hängt die Wäsche auf 
und beobachtet ihn und wünscht sich, 
er würde sie einmal so zärtlich berühren 
an allen möglichen und unmöglichen Stellen 
so liebevoll ansehen 
wie sein Auto bei der Wäsche. 

Und der Kameramann 
lässt sein Linsenauge durch die Maschinenhalle gleiten 
über blank poliertes Kupfer 
und glänzenden Stahl 
im Licht der Morgensonne 
fängt die gleichmäßige Stoßbewegungen ein 
perfekte Kurven und Wellen 
eisenharte Arme mit geölten Scharnieren 
kraftvoll zupackende Hände mit eisernen Greifern 
Zahnräder, deren Zacken sich vereinen und wieder trennen 
und laufen und laufen und laufen 
und es wird gehobelt und gestoßen 
und gehoben und geschoben 
unter hydraulischem Stöhnen und Pulsieren 
und ein Schwall weißer Milch ergießt sich 
in hochdruckgereinigte Flaschen aus Glas 
und füllt sie bis zum Rand 
und die Maschinen bewegen sich wie von Zauberhand 
Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar. 

Früher bauten die Menschen noch Türme 
deren Spitze bis in den Himmel reichen sollten 
um sich Denkmäler zu setzen und einen Namen zu machen 
doch der Herr fuhr hernieder und schuf das erste Weltwunder, 
babylonisches Sprachgewirr. 

Dann bauten die Menschen Kathedralen 
deren Spitzen bis in den Himmel reichen sollten 
um dem Ewigen näher zu kommen, 
doch der hatte schon längst den Abstieg gewählt 
und mischte sich unters Volk 
und verwirrte die Sprache 
und die Gebete klangen wie Hokuspokus 
und die Predigten wie tönendes Erz und klingende Schellen. 

Dann ließ man die Kirche im Dorf 
und baute in den Städten 
noch höher höher als alle Tumkreuze und Wetterhähne 
ragen die Fabrikschlote in den Himmel 
und wo sie die Wolken nicht berühren, 
spucken sie selber welche aus, 
wattigweiß wie die verlorene Unschuld. 
Die Fabrikglocke schrillt 
und ruft zum Schicht-, statt zum Gottesdienst. 
Non ora, sed labora 
der Vorbeter weicht dem Vorarbeiter, 
das Pfeifen und Dröhnen der Maschinen, 
das Brausen des Fließbands 
ist lauter als die größte Orgel der Welt 
ein geseufztes Kyrie eleison, 
ein unausgesprochenes Stoßgebet 
wenn der Rücken steif geworden ist 
wenn der Vorarbeiter seinen Zigarettenatem 
in den Nacken der Näherin bläst 
die Fürbitte ist was für die Mutigen, 
wenn der Chef wieder eine Predigt hält 
über Produktionssteigerung und Arbeitsmoral 
und den Lehrling am Ohr zieht. 

Nimm hin und iss 
statt Oblaten aus der silbernen Patene 
Kartoffelstampf aus einem abgestoßenen Henkelmann Butterbrot aus rostiger Büchse, 
ein Schluck gestreckter Kaffee aus der Thermoskanne 

Und am Ende des Tages: 
Ite, missa est, 
morgen geht es weiter von Ewigkeit zu Ewigkeit. 

Und der Herr fuhr hernieder zur Erde und 
verwirrte die Sprache der Menschen 
dass sie von Humankapital sprachen statt von Menschen 
und statt von Gottesurteilen von betriebsbedingten Kündigungen 
und statt von Ferien von vorlesungsfreier Zeit 

Die Menschen bauten weiter Bankenhäuser, 
die an den Wolken kratzen 
und den, der im Himmel wohnt, 
unter den Füßen kitzeln 
und der im Himmel wohnt, lacht ihrer 
zumindest am Anfang, 
und dann nervt es 
und er seufzt 
und fährt wieder hernieder 
und verwirrt ihre Sprache 
und die Menschen hören nicht auf einander nicht zu verstehen.

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