Samstag, 30. September 2017

Erntedankmalanders



ANFÄNGLICHE ÜBERLEGUNGEN


Am Anfang stand das Stadtkindsein. Und die Erkenntnis, dass es wenig Sinn ergibt, für einen Tag im Jahr Strohballen zu mieten, nur um wenigstens eine Andeutung der Hochstimmung herzuzaubern, in denen in ländlichen Gebieten mit noch echten Bauern und Feldern und so der Erntedankgottesdienst mit großem Besteck und pomp and circumstances begangen wird. Am Anfang stand also die Frage, wie man Erntedank mit einer Gemeinde feiern kann, in der Saat und Ernte außer bei Geranien keinen wirklichen Sitz im Leben mehr hat und man also auf umfangreiche und z. T. intellektuell recht anspruchsvolle Transferleistungen vertrauen muss. Philipp Beyhl schreibt dazu in seiner Dissertation von 2007: "Es bleibt ein unmögliches Fest, wenn es als Modifikation alter Ernte- oder vergangener Erntedankfeste verstanden wird". Auswege hieraus bietet sicherlich Brot für die Welt, wo jedes Jahr kluge und vielseitige Arbeitshilfen und Gottesdienstentwürfe herausgegeben werden - die aber bei uns in der Gemeinde schon in einer Kirche gut umgesetzt werden. 

Am Anfang stand auch Thanksgiving. Genauer gesagt, die Abschlussszene aus dem schlimm-großartigen Film Latter Days von C. Jay Cox, in dem es um das Coming-Out eines jungen Mormonenmissionars geht. Am Ende laufen die Fäden zusammen, und je öfter ich die Szene sehe, desto mehr entdecke ich Dinge, bei denen ich denke: So stelle ich mir Kirche vor, so soll Gemeinde sein. 

A toast, an affirmation, a prayer of thanks. I want you to know that, wherever we find ourselves in this world, whatever our successes or failures, come this time of year, you will always have a place of my table. And a place in my heart. 

Überhaupt, Jacqueline Bisset alias Lila Montagne würde eine ziemlich gute Pfarrerin abgeben. Die Schlussszene kann man übrigens hier angucken. 

Am Anfang stand auch ein Gemeindeprojekt, das Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Herkünfte und Milieuzugehörigkeit ein anderes Verhältnis zum Säen und Ernten beschert hat: Der Gemeinschaftsgarten Uellendahl, über den Stadtteil verteilte Hochbeete, die von Grundschulklassen, KiTa-Gruppen, Konfis mit Seniorinnen und Geflüchteten bewirtschaftet werden. Am Anfang war auch mal die Idee, draußen rund um die Beete zu feiern - aber in Wuppertal sind die Wetteraussichten im Frühherbst dann doch alles andere als sonnig...




DIE IDEE


Aus diesen Anfängen, und den übergeordneten Zielen, den Abend als gottesdienstliche Zeit zurückzuerobern und nochmal neu über das Abendmahl nachzudenken, entstand die Idee, im Gottesdienst aus den Ernteerträgen der letzten Saison etwas zu kochen. Und wenn schon, dann natürlich auf dem Altar Abendmahlstisch. Die Idee ist nicht neu, Thomas und Gabi Erne haben das u. a. 2012 schon einmal gemacht, aber wir wollten es ein bisschen weniger ostentativ haben, als es schnittbedingt im Video den Anschein hat: Das Kochen sollte ein natürlicher Teil des Gottesdienstes sein - gleichzeitig ging es natürlich auch, in bester Kirchentagstradition, um den "Ruf in die Gemeinschaft der Christinnen und Christen mit Christus, das Gedächtnis an sein Leben und Wirken für uns, die Vergebung von Schuld, de[n] Ruf zur Einheit, die körperliche Wahrnehmung mit allen Sinnen, die Heiligung des alltäglichen Essens und Trinkens, die Gegenwart des Auferstandenen unter uns, de[n] Blick in das Reich Gottes". Wir wollten dabei keinen ausdrücklichen Abendmahlsgottesdienst feiern - aber unter diesen Vorzeichen verschwimmen die Grenzen ohnehin. Die theologische Fachliteratur zum Thema "Essen und Glauben" ist, zumal im englischsprachigen Bereich, enorm breit gefächert - an dieser Stelle sei exemplarisch das wunderbare Buch "The Theology of Food. Eating and the Eucharist" von Angel F. Méndez Montoya (Hoboken NJ u. a. 2009) empfohlen - schon allein deswegen, weil der Verfasser öfters schon einmal in Wuppertal zu Gast war.

Also haben wir zu einem Koch-und-Ess-Gottesdienst am Samstag vor Erntedank eingeladen und über die verschiedenen Kanäle um Zutatenspenden gebeten - vorzugsweise Selbstgezogenes oder -geerntetes. In beiden Jahren kam jeweils genug zusammen. Beim ersten Versuch vor einem Jahr gehörte der Samstag den Konfis, mit ihnen haben wir das bewährte Abendmahlsbrot gebacken. Das hatte den Vorteil, dass die Konfis, die dann auch im Gottesdienst waren, sich sehr schnell als Gastgeber_innen verstanden haben. Dieses Jahr hatten wir nochmal eigens zum vorbereitenden Schnibbeln eine Stunde vor Beginn eingeladen. Einerseits aus Gründen der Arbeitsökonomie, andererseits machen wir auch die Erfahrung, dass die praktische Mithilfe vor allem in der Küche für viele eine Möglichkeit des (Wieder-)Einstiegs in das Gemeindeleben bietet. Wenn das Format erst einmal ein bisschen routinierter geworden ist, könnte man darüber nachdenken, diese Punkt auch nochmal religionspädagogisch zu unterfüttern, z. B. mit Gesprächsanregungen, Geschichten oder kleinen Inputs zu den jeweiligen Lebensmitteln oder zum Thema "Essen und Glauben".

Vielleicht vor dem Ablauf nochmal kurz etwas zum Setting: In der Kirche sind Esstische für jeweils 7-8 Personen aufgestellt und eingedeckt, inkl. einer Suppenterrine. Auf einem niedrigeren Tisch vor dem Abendmahlstisch (oben drauf zu kochen wäre wegen der Höhe arbeitssicherheitsmäßig problematisch) steht ein großer Topf mit Gemüsebrühe auf einer Induktionsplatte, daneben oder drum herum die vorbereiteten Zutaten - die Deko wird also fast komplett verwendet. Während der Lieder kommen die Zutaten je nach Garzeit in die Suppe; hier kann man gut Kinder beteiligen. In der Küche wartet außerdem ein weiterer vorbereiteter Topf - nach unseren Erfahrungen braucht man für 40 Leute zwei randvolle 10-Liter-Töpfe Suppe. Wenn es ans Essen geht, kommt von jedem Tisch eine Person mit der Terrine nach vorn - allein das ist ein zutiefst rührender und theologisch sehr stimmiger Anblick: Die Leute kommen zum Altar, um satt zu werden. Das Brot wird von den Konfis ausgeteilt. 




Es gibt noch einige andere interaktive Elemente, hier erstmal der Ablauf:


DER ABLAUF

  • Musik zum Eingang (fängt schon 5 Minuten vor Beginn an
  • Begrüßung und entfaltetes Votum, dabei strophenweise Lied: "Du bist da, wo Menschen leben/lieben/hoffen"; währenddessen: Kerzen auf den Tischen anzünden
  • Eingangsgebet (ist auf dem Liedblatt abgedruckt und wird von einer/einem Freiwilligen gelesen)
  • Lied
  • Lesung
  • Lied
  • Predigt 
  • Meditative Reflexion
  • Lied
  • Fürbitte/Sharing, dazwischen Liedstrophe
  • Unser Vater
  • Essen (nach 30 Minuten mal checken, wie weit die Leute sind)
  • Kurzes Dankgebet
  • ggf. Abkündigungen
  • Lied
  • Segen
  • Musik
Liedblatt: Auf dem Liedblatt ist der gesamte Ablauf notiert und kommentiert.
Meditative Reflexion: Die Predigt endet mit einer Frage. Letztes Jahr, als es um das Säen und Ernten ging, mit der Frage: "Für welche Ernte bin ich dankbar? Welche steht noch aus? Um welche Saat, die noch nicht aufgegangen ist, trauere ich?" Dieses Jahr, wo es um Menschen ging, von denen man etwas über das Leben und/oder den Glauben gelernt hat: "Was habe ich über Leben und Glauben gelernt? Wem bin ich dafür dankbar? Was habe ich selbst weiterzugeben?" 
Nebenbei: Das gottesdienstliche Aufschreiben von Dingen auf Zettel ist in den letzten Jahren in der Liturgiewissenschaft ein bisschen in Ungnade gefallen. Wir machen aber in der Gemeinde durchgehend die Erfahrung, dass Menschen ein Bedürfnis haben, etwas dazulassen und etwas weiterzugeben - allen voran die Generation der Ü70er, die so oft als Argument für traditionelle Gottesdienstgestaltung herhalten müssen. Im Kern geht es uns dabei außerdem in die Führung zum Gebet und damit um liturgisches Lernen:
Sharing: Auf dem Liedblatt steht die lapidare Anweisung: "Wer mag, liest etwas von seinem Zettel vor. Etwas, wofür wir danken. Etwas, worum wir bitten. Niemand muss. Aber wir beten gern. Dazwischen singen wir..." Zwei Handmikros werden zu diesem Zweck an den Tischen rumgereicht. Das klappt überraschend gut, je nach Fragestellung verschwimmen die Redeintentionen ein bisschen zwischen Mitteilung und Gebet, aber die Erfahrung ist, dass die Gemeinde das gut aushalten und mittragen und gestalten kann. 

ZU BEACHTEN

Nach zwei Versuchen ist es noch etwas früh, um hier handfeste Tipps zu geben. Aber ein paar Hinweise, wo wir selbst nachbessern wollen bzw. es nach dem ersten Gottesdienst schon getan haben: 
Das veränderte räumliche Setting bringt es mit sich, dass der_die liturgisch Verantwortliche und/oder Predigende seinen/ihren Platz neu suchen muss. Möglich ist, etwa die Predigt im Stehen am Platz zu halten - das setzt aber voraus, dass man nicht mit dem Rücken zu einigen Tischen steht. Andere Dinge funktionieren im Sitzen, etwa (in gut reformierter Tradition) die Gebete.
Moderative Ansagen müssen klar sein, damit die Gemeinde sich in dem fremden Ablauf und dem ungewohnten Setting leicht zurecht findet. Die unterschiedlichen Elemente des Gottesdienstes müssen zusammen gehalten werden, das setzt einiges an Vorüberlegen und eventuell auch an Ausprobieren voraus. Insbesondere beim Sharing muss die Ansage klar sein: Alle dürfen, niemand muss, es ist aber schon schön, wenn ein paar sich laut äußern. Das kennt unsere Gottesdienstgemeinde vom Bibliolog, ein bisschen Vorerfahrung mit dem Mit-Teilen eigener Sichtweisen und Erfahrungen ist also auf jeden Fall von Vorteil.
Die Technik muss vorher klar sein. Beim ersten Mal haben wir eine Viertelstunde rumprobiert, bis uns aufgefallen war, dass irgendjemand den ursprünglich bereitstehenden Topf gegen nicht-induktionsfähiges Kochgeschirr ausgetauscht hatte. Im Zweifelsfall: Magnet bereithalten, um das schnell kontrollieren zu können. Wenn man den richtigen Topf hat, reicht die Zeit auf jeden Fall, um die Zutaten weichzukochen. Es ist aber sinnvoll, jemanden auszugucken, der_die die Verantwortung für den Kochvorgang hat, damit man nicht während der Predigt die ganze Zeit zum Kochtopf schielen muss. 
Die Hilfstruppe beim vorbereitenden Schnibbeln braucht, wenn es sich hier nicht um ganz alte Hasen handelt, die sich in der Gemeindeküche zuhause fühlen und die Arbeitsabläufe kennen, irgendjemanden, der_die sie anleitet und neben den Aufgaben auch die Zeit im Blick hat. Das kann auch eine Möglichkeit sein, engagierte Gemeindeglieder an das Thema "Leitung" heranzuführen und ausprobieren zu lassen.
Das Kochen in der Kirche wurde von der Gemeinde durchgehend als sehr schön und stimmig und "richtig" empfunden - es kann aber Gemeinden geben, denen der Kirchraum insgesamt, vor allem aber der Altarraum heilig ist. Bei uns ist der Anblick von Tischen in der Kirche zwar nicht die Regel, aber auch nichts komplett Unbekanntes, außerdem übernachten alle Nase lang Konfis oder Kindergruppen in der Kirche. Wo der zu erwartende Widerstand gegen das Kochen in der Kirche so groß ist, dass man die ganze Zeit (und sei es unterschwellig) nur mit Apologetik beschäftigt ist, sollte man gut überlegen, ob man diese Gottesdienstform ausprobieren will bzw. ob das wirklich das ist, was die Gemeinde will oder braucht. Ähnliches gilt, wenn die Bestuhlung nicht flexibel genug ist - da wird es schnell zum Showkochen, und das sollte es zumindest nach unserem Konzept nicht sein. 

UNSER FAZIT

Wir erleben, dass die andere Gottesdienstzeit (Samstag, 17 Uhr) die Besucherstatistik mehr beeinflusst als das Setting des Gottesdienstes. Der Erntedankgottesdienst war in den letzten beiden Jahren in etwa so besucht wie ein leicht unterdurchschnittlich besuchter Sonntagsgottesdienst (40-50 Leute) - allerdings ist auch für weniger Leute Platz. Und: Es kommen andere Leute, das Durchschnittsalter ist deutlich jünger. Und: Die Rückmeldungen sind sehr positiv, für das nächste Jahr haben sich bereits mehrere zum Schnibbeln angemeldet. Auch im zweiten Jahr gab es schon mehrere mitgebrachte Kuchen. Für das nächste Mal wollen wir noch stärker überlegen, wie man Kinder besser einbinden oder wenigstens (für die Unter-Dreijährigen) altersgemäßer beschäftigen kann, und sei es mit einer Spielecke. Außerdem fangen wir eine halbe Stunde eher mit dem Schnibbeln an... Das Fazit ist jedenfalls: Wir machen auf jeden Fall weiter!

Freitag, 29. September 2017

Zurück ans Lagerfeuer



Ich mag Abendgottesdienste. Vor allem, weil ich, glaube ich, eher Nachteule als Morgenmensch bin. Aber auch das ganze andere. Das Licht, das anders ist, die Kerzen, die umso heller leuchten. Das gute Gefühl, wirklich Feierabend zu haben, wenn ich die Kirche verlasse. Mit einem Segen in die Nacht zu gehen. Die selten gesungenen Abendlieder, die so viel lebensweiser und so viel poetischer als das (für mich immer halb gelogene) "All Morgen ist ganz frisch und neu" über das Leben mit einem mutmaßlich bewohnten Himmel überm Kopf singen. 


In der evangelischen Landeskirche sind Abendgottesdienste selten. Unter der Woche findet abends trotzdem ein Großteil des kirchlichen Lebens statt: Gruppen und Kreise, aber vor allem auch Gremienarbeit. Was nicht weiter verwundert, da in den Sitzungen überwiegend ehrenamtlich Engagierte sitzen, die hier ihren Feierabend verbringen. 

Letztens bin ich auf die Forschungen der US-amerikanischen Anthropologin Polly W. Wiessner gestoßen. Die hat längere Zeit bei den Ju|'hoansi gelebt, einem indigenen Volk in der Kalahari-Wüste. Sie hat dort die Kommunikationsgewohnheiten untersucht und in einem sehr aufschlussreichen Aufsatz folgendes Ergebnis über den Unterschied der Gespräche am Tag und bei Nacht am Lagerfeuer festgehalten (wer nicht so viel Zeit hat, kann sich auch einen kürzeren Artikel zu Gemüte führen, aus dem das folgende Zitat stammt):

Tagsüber drehen sich die Gespräche vor allem um ökonomische Aktivitäten - Arbeit, Essensbeschaffung, Austausch über Ressourcen. [...] Es hat viel mit sozialen Themen und mit Kontrolle zu tun: Kritik, Beschwerden und Nörgelei. Abends und nachts lassen die Menschen los, werden lockerer und suchen Unterhaltung. Wenn es tagsüber Konflikte gegeben hat, lassen sie diese hinter sich und kommen wieder zusammen. Abendliche Gespräche haben mehr mit Geschichten zu tun, mit der Unterhaltung über die Charaktereigenschaften Dritter, die aber zum weiteren Netzwerk gehören, und mit dem Nachdenken über die Welt der Geister und wie diese die Menschenwelt beeinflussen. Es gibt auch Singen und Tanzen, was innerhalb einer Gruppe verbindet.

Wiessner bestätigt damit die umfangreiche Forschung vor ihr, die die Bedeutung der Kontrolle über das Feuer für die menschliche Entwicklung insbesondere im Blick auf sozial wirksame Narrative herausgestellt hat. Es scheint kein weiter Weg, von dort aus auf die Traditionsprozesse der biblischen Bücher zu schließen, deren Sitz im Leben ja zumal in früher Zeit das nomadische Lagerfeuer war. Wiessners Untersuchung macht deutlich, dass es hierbei nicht nur um bloße Unterhaltung und Wissensweitergabe, sondern auch um die Konstruktion sozialer und spiritueller Identitäten geht. Die Theologie weiß das schon länger, bei der Kirche bin ich mir nicht so sicher. 



Immerhin, eins haben wir behalten: Kerzen. Wiessner misst dem Feuer in der Nacht nicht nur als Schauplatz sozialer Interaktion, sondern auch als Medium große Bedeutung bei: 

Ausreichend heller Feuerschein unterdrückt die Melatoninproduktion und sorgt für Energie zu einer Tageszeit, zu der wenig wirtschaftlich produktive Arbeit geleistet werden kann, dabei gibt es genug Zeit. In der heißen Jahreszeit hilft die Kühle des Abends, aufgestaute Energie zu entladen, in der kalten Jahreszeit rücken die Leute zusammen. Die Gemeinschaft am Feuer setzt sich oft, wenn auch nicht immer, aus Menschen verschiedener Altersstufen und Geschlechter zusammen. Mond und Sterne wecken Imaginationen des Übernatürlichen ebenso wie ein Gefühl der Verwundbarkeit gegenüber bösen Geistern, Raubtieren und Feinden, denen man die Gemeinschaft entgegenhält. Körpersprache wird im Feuerschein weniger deutlich, das Bewusstsein für sich selbst und andere ist geringer. [...] Die Themen des Tages werden fallen gelassen, während kleine Kinder im Schoß von Verwandten einschlafen. [...] Die Sehnsucht nach dem Feuer als Schauplatz sozialer Vertrautheit und Offenheit im Gespräch bleibt in hohem Maße ein Bestandteil modernen Lebens und ein potenzielles Forschungsfeld. Obwohl Gespräche am Lagerfeuer in unserem täglichen Leben selten sind, bleiben sie ein geschätzter Bestandteil von Pfadfinderausflügen, Picknicks, Outdoor-Trips und ökotouristischen Unternehmungen, die auf soziale Intimität und das Teilen von Wissen zielen. Die Macht der Flamme wird in unseren Häusern durch Kamine und Kerzen reproduziert. Der dänische Geist des "hygge" (Gemütlichkeit in Gemeinschaft) ist vom planvollen Platzieren von Kerzen, "lebenden Lichtern" gekennzeichnet, um vertrauliche Gespräche zu ermöglichen.



Schon hier könnte man pausieren und darüber nachdenken, wo solche Erfahrungen im kirchlichen Leben jenseits von Konfifreizeiten ihren Sitz im Leben haben könnten. Wiessner geht aber noch einen Schritt weiter und wirft Fragen auf, die sich an der Möglichkeit der Tagesverlängerung durch elektrisches Licht entzünden - damit ist sie keineswegs allein, zahlreiche Vertreter religiöser und säkularer Spiritualitätsansätze thematisieren das in schöner Regelmäßigkeit: 

Wie Jäger und Sammler wächst unsere Vorstellungskraft, gewinnen neue Perspektiven und erweitert sich unsere Horizont anhand von Geschichten. Nichtsdestotrotz dringen künstliches Licht und digitale Kommunikation weltweit in die Nacht ein, verwandeln Stunden der Dunkelheit in ökonomisch produktive Zeit und überlagern so die Zeit für Geselligkeit und Geschichten. Der Tag endet auf Knopfdruck, ohne dass man sich die Zeit nimmt, Beziehungen zu pflegen, zu entdecken, zu reflektieren oder zu heilen, oder die Themen des Tages mit der Kohle verglühen zu lassen. 




Wiessners Gedanken beschäftigen mich schon eine ganze Weile, weil in der von ihr untersuchten Gemeinschaft am Lagerfeuer Dinge aufscheinen, die mir (und, wenn ich meinen Gemeindegliedern glauben kann, anderen auch) im kirchlichen Alltag fehlen: Das scheinbar ziel- und zwecklose Beisammensitzen, das Teilen von Geschichten und Erfahrungen, das gemeinsame Erleben des Ausgesetztseins und gleichzeitigen Gehaltenseins unter freiem Himmel. Mit Abendgottesdiensten allein ist das sicherlich nicht zu ersetzen, und natürlich lassen sich nicht alle Sitzungen am Abend einfach so abschaffen. Immerhin: In unserem Presbyterium (und in anderen auch) gibt es den klugen Grundsatz, dass nach 22 Uhr keine Beschlüsse mehr gefasst werden. Vielleicht lassen sich durch kleine Akzentverschiebungen bereits Dinge wiedergewinnen, die im Alltag leicht verloren gehen. Zum Beispiel dadurch, dass die unvermeidliche Andacht nicht zu Beginn, sondern am Ende einer Sitzung gehalten wird. Die wird nicht mehr nach dem Muster einer Mini-Predigt zur Tageslosung oder zu einem bestimmten Thema funktionieren, sondern wahrscheinlich zur Entwicklung oder Wiederentdeckung eigener Formen führen, die stärker auf Gemeinschaft, stärker auf Spüren, Erleben und Teilen abzielen.

Bewahre uns, o Herr, wenn wir wachen,
behüte uns, wenn wir schlafen,
auf dass wir wachen mit Christus
und ruhen in Dir.

Sonntag, 24. September 2017

Ja, aber...? | Predigt im Jubiläumsgottesdienst (Mt 6,25-34)

Manchmal erwischt es einen. So wie vor ein paar Tagen. Irgendwo zwischen theologischem Nachmittag und Jugendausschuss ein Anruf. Die Band braucht noch irgendetwas, das wir nicht haben. Weitere Anrufe bei diversen Leuten, wer so etwas haben kann. Niemand. Haut das trotzdem hin? Ein sorgenvoller Blick auf die Wetter-App. Bleibt’s dabei, Sonne und kein Regen? Und die ganzen anderen Fragen: Wie viele Leute kommen wohl heute? Hoffentlich haben wir genug zu essen, und wer wollte nochmal den Getränkestand besetzen? Und mittenrein spricht Jesus: Darum sollt ihr euch nicht sorgen. 

Ein Teil in mir atmet für einen winzigen Moment erleichtert auf. Und ein anderer Teil, der, der in der Regel um einiges größer ist, sagt sofort: Ja, aber… In der Seelsorgeausbildung habe ich gelernt, dass ein Aber immer alles, was davor gesagt wurde, zunichtemacht. Das war ganz beeindruckend, wie laut sie vorhin alle gesungen haben, richtig mitreißend. Aber das waren ja auch bekannte Lieder. 

Ja, aber. Nicht „Ja“ und „Amen“. Ja, aber. 
Wenn ich ehrlich bin, durchzieht das „Ja, aber“ meinen Glauben. Vielleicht ist das zutiefst menschlich. Von der Stelle bringt es allerdings nicht: Ja, aber… ein halber Schritt nach vorn, ein ganzer wieder zurück. 

Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet. Ja, aber satt werden möchte ich schon. 

So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel… unser tägliches Brot gib uns heute. Ja, aber wenn ich davon etwas einfrieren kann, ist auch gut. 

Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Ja, aber auch Vögel sterben doch. Verhungern oder werden gefressen oder knallen gegen Fensterscheiben. 

Sorgt euch nicht. Ja, aber wir sorgen uns doch, wir, die wir hier sitzen, in unserem Teil der Erde vielleicht nicht um Essen und Kleidung, aber Sorgen gibt es weiß Gott genug, Sorgen von der Sorte, die sich nicht einfach so mit einem Blick in den Himmel oder die Botanik wegwischen lassen. 
Woher kommt das Geld für die Stromrechnung in diesem Monat? 
Ist meine Ehe noch zu retten? 
Was steht am Montag rot auf weiß unter der Mathearbeit? 
Was heißt das für mich, wenn in den Nachrichten gesagt wird, dass bei Thyssenkrupp 2000 Stellen gestrichen werden sollen? 
Ist dieser Knoten, den ich da ertaste, echt, und verbirgt sich dahinter etwas Böses? 
Was wird aus uns, wenn sich tatsächlich viele Leute verarschen lassen und die AfD wählen?

Und seltsamerweise – wenn die Fragen so hart auf hart kommen, verstehe ich einen Teil von dem, was Jesus sagt. Es gibt ein Zuviel an Sorgen. Es gibt die Gefahr, sich zu versteifen, zu fixieren, nichts mehr zu sehen als das, worüber man sich Sorgen macht, weil alles nur noch darum kreist. Der Mensch ist das Tier, das sich sorgt, hat Robert Gernhardt einmal gesagt. Luther, neben anderen, hat vom in sich selbst verkrümmten Menschen gesprochen. Und Jesus sagt: Ihr seid mehr. Mehr als die Spatzen am Himmel, mehr als die Wildblumen auf dem Feld. Mehr als das krumme Holz, zu dem ihr euch selber macht. Kopf hoch. Wenn Ihr keinen Ausweg mehr seht, wenn Ihr merkt, dass sich all Euer Denken nur um den morgigen Tag dreht, Ihr an nichts anderes mehr denken könnt als an Essen und Anziehen – dann guckt nach oben. Dazu müsst ihr Euch aufrichten. Und guckt in den Himmel und sehr euch die Vögel an. Und atmet einmal tief durch, fühlt, wie die Lungen sich mit Luft füllen und der Kloß im Hals sich ein bisschen bewegt. Und wenn Ihr keine Vögel seht und keine Blumen um Euch herum habt, dann tut es auch der Blick in das unendliche Blau einer sternenklaren Nacht oder auf das kleine Grasbüschel, das sich einen Weg durch eine Ritze im Asphalt bahnt. Alles, was Euch davon abhält, die halbe Nacht darüber nachzudenken, was morgen unter der Mathearbeit steht, oder im Internet in allen möglichen Gesundheitsforen nachzuschlagen, was ein Knoten oder auch nur ein simpler Husten alles für schreckliche Dinge sein können. 

Ja, aber… meldet sich ein Teil in mir, und vielleicht auch in Ihnen, und diesmal bin ich ganz froh darüber, weil er mich davon abhält, die Bergpredigt nur in lauter Kalendersprüche und Wellnessweisheiten zu zerlegen. Jesus sagt nicht: Wenn euch die Welt zu gemein ist, dann guckt euch ein paar Katzenvideos an. Das wäre für eine Antrittspredigt, und das ist die Bergpredigt im Matthäusevangelium, doch ein bisschen zu wenig, und für eine Predigt zum Jubiläum auch. Jesus sagt nicht: Ertränkt eure Sorgen in Kitsch oder Natur oder sonstwo, sondern mutet uns eine ganz andere Logik zu als die, der wir im Alltag folgen – die Logik des Sabbats, wenn man so will. Die Erfahrung: Ich lege die leeren Hände in den Schoß, lasse alle Arbeit ruhen, lege alles zur Seite, was mich die ganze Woche beschäftigt – und die Welt dreht sich doch weiter. Das ist keine Entspannungsübung. Im Judentum gilt das Halten des Sabbats als eines der wichtigsten Gebote überhaupt – und gleichzeitig als eins der schwersten. Vielleicht, weil Ruhe ohnehin schwer auszuhalten ist, vielleicht auch, weil dieses Nicht-Sorgen an den Fundamenten rüttelt, auf denen wir unser Leben aufbauen, weil es ent-täuscht im wahrsten Sinne des Wortes, an der Illusion kratzt, dass wir alle unser Leben selbst in der Hand haben. 

Das wiederum passt sehr gut zu einer Predigt zum Jubiläum. Denn wir feiern nicht uns selbst. Obwohl, doch, ein bisschen tun wir das, und das ist auch gut so. Aber [sic] wir sagen auch Danke dafür, dass wir hier in diesem Haus seit 50 Jahren Gemeinde sein durften und weiterhin dürfen. 

Die allermeisten von Ihnen sind viel länger in der Gemeinde als ich, aber auch ich habe in zwei Jahren die Erfahrung gemacht, dass alles Planen, alles Vorbereiten, alles Absichern hin nach allen Seiten seine Grenzen hat. Der letzte Sonntag war so ein Beispiel, ein Gottesdienst, der über wochenlange Chorproben und das Bestellen von Stempeln und UV-Farbe und besonderen Lampen sehr ausführlich vorbereitet wurde, und vor dem mindestens der Pfarrer ein bisschen schlecht geschlafen hat wegen all der Unwägbarkeiten. Und die, die nicht dabei gewesen sind, können sich erzählen lassen, wie es war, und wie viel da mit reingespielt hat, das wir weder voraussehen noch planen konnten. Und andersherum – wir haben auch in anderen Zusammenhängen erlebt, dass zum Beispiel Geld allein ein schlechter Ratgeber ist, weil selbst bei gewissenhafter Planung ein Restrisiko bleibt, in welche Richtung auch immer. In dem Vers direkt vor unserem Predigttext sagt Jesus: Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. 

Das hat etwas Frustrierendes und Entlastendes zugleich – letzten Endes können wir als Gemeinde, das hat Jan Hendriks einmal gesagt, nichts anderes tun als Fässer mit Wasser herbeizuschaffen und darauf zu hoffen, dass der Herr sie in Wein verwandelt. Frustrierend, weil so auch unser kirchliches Leben viel weniger planbar ist als wir das gern hätten, als es eigentlich sein müsste angesichts der vielen Menschen, die davon abhängen. Und entlastend zugleich, weil die Zukunft unserer Kirche letzten Endes weder an Verwaltungsstrukturreformen, noch an Rücklagen oder Imagekampagnen hängt. So wichtig das auch alles ist – am Ende liegt die Zukunft dieses Hauses, dieser Gemeinde, liegt unser ganzes Leben in anderen Händen als in unseren. 

Und wem das jetzt zu wenig ist, der gehe nach dem Gottesdienst raus und gucke auf die Vögel am Himmel und die Blumen, die überall wild auf der Wiese wachsen und lasse sich daran erinnern, dass wir in guten Händen sind. Das befreit. Und das verändert den Blick auf die Welt. Interessanter Weise – den Vögeln zugucken, Blumen in Ruhe anschauen… das ist auch das, was einem Sterbende regelmäßig sagen, wenn man sie fragt, was sie anders machen würden. 

Es befreit, und es verändert den Blick auf die Welt In der Bergpredigt, in der Antrittsrede Jesu ist von Essen und Trinken die Rede, und vom Anziehen. In seiner letzten öffentlichen Ansprache wird auch nochmal davon die Rede davon sein, allerdings in einer etwas anderen Tonlage: Ich war hungrig, und Ihr habt mir zu Essen gegeben, ich war nackt, und Ihr habt mich gekleidet. Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, dass habt ihr mir getan... Ich glaube nicht, dass diese Querverbindung ein Zufall ist. Wenn wir die Sorge um das eigene nackte Leben in andere Hände legen, wird der Blick frei, weitet sich der Horizont, und wir entdecken Gemeinschaft. Mit Barbara Brown-Taylor gesagt: Wenn wir uns als das erkennen, was wir sind, als Erdlinge, deren Leben nicht in der eigenen Hand liegt, finden wir uns plötzlich mit allen Menschen der Welt auf dieser Seite von Gottes Theke wieder.

„Ja, aber…“ sagt etwas in mir, aber der Teil ist ein bisschen kleiner als sonst. Und ich denke mir die Antwort: Ja, aber alles wird gut. Jetzt wird gefeiert.

Beten wir mit Worten von Jeremias Gotthelf:

Herr, unser Gott, du hast unzählige Wege, 
auf denen du möglich machst, 
was unmöglich scheint. 
Gestern war noch nichts sichtbar, 
heute nicht viel, 
aber morgen steht es vollendet da, 
und nun erst gewahren wir rückblickend, 
wie du unmerklich schufst, 
was wir unter großem Lärm nicht zustande gebracht haben.
Amen. 

EINGANGSGEBET AUS DEM JUBILÄUMSGOTTESDIENST

Ewiger Gott,

wir sind heute zusammen, um zu feiern und zu danken. 50 Jahre. Für uns ist das eine lange Zeit, für dich nicht mehr als ein Wimpernschlag. Aber wir vertrauen darauf, dass Du Dich auf unsere Maßstäbe einlässt, dass nichts, was wir tun, in deinen Augen zu klein ist. Und so treten wir vor dich, nicht nur mit dem Dank für alles, was wir erreicht haben. Sondern auch mit dem, was uns nicht gelungen ist, mit den dunklen Flecken unserer ganz eigenen Geschichte.

Gott, du suchst das Verlorene und bringst es heim.
Wir klagen dir die vielen Male, an denen wir Menschen verloren haben,
um die wir nicht genug gekämpft haben,
bei denen wir versäumt haben, genauer hinzuhören und zu verstehen.
Wir bitten dich auch für die blinden Flecke, die wir heute haben.
Die Menschen, die wir aus dem Blick verlieren,
nicht sehen, um die wir uns nicht kümmern.
Lass sie nicht allein, wo wir versagen,
und mach unsere Herzen weit
unsere Augen offen,
unsere Ohren hellhörig.

Gott des Friedens,
wir klagen dir das, wovon wir auch nicht frei sind.
Streit, Konflikte und Zwietracht um Dinge, die es nicht wert sind.
Wir bringen die Menschen vor dich,
die uns im Streit verlassen haben,
wir lassen die Frage los, ob sie recht hatten oder wir,
und legen sie Dir einfach ans Herz,
dass Du ihre Wege begleitest und sie segnest.

Gott, du sorgst für uns wie für die Vögel am Himmel und die Lilien auf dem Feld.
Wir klagen dir die falschen Entscheidungen,
die wir aus Angst getroffen haben.
Weil es uns schwerfällt, zu glauben, dass du für uns sorgen willst.
Weil es nicht einfach ist, uns einzugestehen,
dass letzten Endes alles in deiner Hand liegt.
Hilf uns, die Balance zu finden
zwischen Loslassen und Anpacken.
Und lass auch dort, wo wir falsch entscheiden,
aus deiner Gnade Gutes wachsen.

Gott, wir haben Grund zum Feiern und zum Danken.
Und Grund, einzusehen:
Wir haben keine Zuflucht als dein unergründliches Erbarmen.
Darum bitten wir dich.
Für uns und alle Welt:
Herr, erbarme dich.

Mittwoch, 20. September 2017

Wenn Du am Sonntag AfD wählen willst...

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Text veröffentlichen soll. Weil ich der Meinung bin, dass die Botschaft der Bibel zwar immer und unmissverständlich auch politische Bedeutung hat, Pfarrerinnen und Pfarrer sich aber in Sachen Parteipolitik zurückhalten sollen. Ich könnte jetzt sagen, dass das hier private Äußerungen sind, aber das wäre irgendwie auch Quatsch - nichts, was ich als Pfarrer in der Öffentlichkeit sage, wird einfach so als Privatmeinung abgetan, ob ich dabei jetzt Talar oder Badehose trage. Aber ich glaube, dass wir vor einer Weggabelung stehen, wenn in Deutschland erstmals eine rechtsextreme Partei ins Parlament gewählt werden kann. In solchen Situationen blitzt etwas auf, das man in der Kirchengeschichte den status confessionis nennt: Ein Moment, in dem der Glaube zu Reden und Handeln und Stellungnahme zwingt, in dem Schweigen schuldig macht. 



Vielleicht überlegst Du, bei der nächsten Wahl, wenn Du überhaupt hingehst, die AfD zu wählen. Und - weißt Du was? Ich glaube, Du hast gute Gründe dafür, das zu wollen. Vielleicht bist Du angepisst von der Politik. Vielleicht hast Du das Gefühl, dass unser Land von Politikerinnen und Politikern geführt wird, die die Bodenhaftung verloren haben, die eigene Interessen verfolgen und sich nicht um Dich und deine Probleme kümmern. Ich glaube nicht, dass das so ist, zumindest nicht in der Regel. Aber ich kann verstehen, dass das Gefühl da ist und Dich wahnsinnig macht. Hey, ich fahre selber Diesel, habe bewusst ein Auto gekauft, das der Hersteller als besonders umweltfreundlich anpreist und frage mich jetzt, ob ich nächstes Jahr damit noch in die Innenstadt darf. Ich war in den letzten Jahren viel in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg unterwegs und habe Dörfer gesehen, in denen Geschäfte, Kirchen und ganze Straßen verrammelt und verlassen waren, bin Menschen begegnet, die von der Gesellschaft im Großen und Ganzen im Stich gelassen wurden. Auch von der Politik. Ich habe mit Menschen gesprochen, die in den Neunziger Jahren aus Russland oder Kasachstan hierher kamen und höchstens die kalte Schulter gezeigt bekommen haben und bis heute noch gezeigt bekommen. Und die jetzt das unglaubliche Engagement für die Geflüchteten aus Syrien mitbekommen und fragen: Wo wart Ihr damals? Wo seid Ihr jetzt? Ich freue mich, dass wir es dieses Mal besser hinbekommen haben, unsere Arme zu öffnen - und was Ihr erlebt habt, tut mir leid. Und ich sehe in unserem Stadtteil auch die Probleme, die es gibt. Die Schwierigkeiten, die Geflüchtete beim Einleben haben. Aber ich glaube nicht, dass wir das durch Verbote, Diskriminierung und dichte Grenzen lösen werden.

Ich habe auch keine Lösungen parat. Und das ist das einzige, was mich mit der AfD verbindet: Sie hat sie auch nicht. Sie tut so. Und sie tut das auf eine Art und Weise, die viele Leute anspricht, weil sie einfache Lösungen verspricht und auf die Leute zeigt, die angeblich schuld sind. Dabei scheut sie auch vor Lügen nicht zurück - überall in sozialen und sonstigen Medien findet Ihr gerade vor der Wahl Faktenchecks, die Aussagen von hochrangigen Parteivertretern sehr glaubhaft widerlegen. Ich weiß, dass es manchmal einfach ist, Lügen zu glauben, selbst wenn man sie als solche erkennt. Weil wir Menschen halt so ticken. Aber das ist das Blöde am Leben: Es ist nie einfach. Nie. Wer das Gegenteil behauptet, ist blind. Oder betrügt die Leute, die ihm zuhören. Schon deswegen sollte man vorsichtig sein, wenn die AfD sich als besonders "christlich" aufspielt, wenn auf Pegida- und sonstigen Demos Kreuze getragen werden. Jesus hat einmal gesagt: "Die Wahrheit wird euch freimachen" (Johannes 8,32). Die Wahrheit, so schmerzhaft und kompliziert und vernebelt sie manchmal ist. Und bestimmt haben auch in der Vergangenheit Politikerinnen und Politiker gelogen, bestimmt stehen in manchen Zeitungen Dinge, die nicht stimmen. Das ist aber kein Grund, das bei der AfD zu akzeptieren. Wenn sie alles besser machen will, sollte sie hier anfangen. Das tut sie aber nicht. 

Vielleicht hast Du das Gefühl: Wenigstens sagen die mal was! Auch das kann ich verstehen. Ja, es hat in unserer Gesellschaft, gerade in den Kreisen, in denen ich mich bewege, Tabus gegeben, Probleme, die man nicht beim Namen genannt hat. Vielleicht war das wichtig, weil die AfD zeigt, dass es schwierige Themen sind, bei denen man oft in brutalsten Populismus verfällt. Aber gerade in ihrer Anfangszeit hat die AfD auch zwischendurch mal richtige Fragen gestellt - ihre Antworten sind aber scheiße. Was die einfachen Lösungen angeht: Siehe oben. 

Vielleicht hast Du Vertrauen in die AfD, weil so viele Wirtschaftsprofessoren Mitglied sind. Oder eher früher mal waren. Vielleicht denkst Du deswegen: Früher hab ich für mein Geld viel mehr bekommen, und die müssen doch wissen, wie man das wieder ändern kann. Dann informier' Dich mal über die Vertreterinnen und Vertreter der AfD, wie viele von ihnen Unternehmen in den Sand gesetzt haben, wer alles vor Gericht steht wegen Betrug, Volksverhetzung und Körperverletzung. Es sind nicht alle, aber es sind erschreckend viele. Und überleg Dir, ob Du wirklich glaubst, dass sie es anders machen werden, wenn sie an der Macht sind. Nochmal Jesus: "Wer im Kleinen unzuverlässig ist, der ist auch im Großen unzuverlässig" (Lk 16,10).

Vielleicht bist Du schwul und hast Angst, dass Du mit deinem Freund nicht mehr Hand in Hand durch die Straßen gehen kannst, insbesondere dort nicht, wo viele Menschen aus anderen Kulturkreisen wohnen, die das nicht verstehen oder verstehen wollen. Auch das kann ich nachvollziehen. Rechte Parteien, von PRO-NRW bis zur AfD, haben auch diese Angst aufgegriffen und damit schwule Wähler geködert. Wenn Du mutig bist, probier mal ein Experiment: Schnapp Dir deinen Freund (wenn Du keinen hast, darf es auch ein anderer Angehöriger des gleichen Geschlechts sein), und dann geht zu einer AfD-Wahlveranstaltung. Und guck mal, wie es da mit der Toleranz aussieht. Wie gesagt, Du musst ein bisschen mutig sein. Oder wahnsinnig. Und denk dran: Das Verständnis, was Du von anderen für Dich einforderst, haben Generationen vor Dir hart erkämpft. Und andere können es von Dir genauso verlangen. 

Vielleicht hast Du die Schnauze voll vom ganzen Gerede über die Nazizeit und findest deshalb gut, was Alexander Gauland und Björn Höcke sagen. Dann frag Dich mal ernsthaft, ob Du in deinem Leben jemals dadurch Nachteile hattest. Oder ob deine Abneigung gegenüber dem Thema damit zusammenhängt, dass man Dich in der Schule damit bis zum Erbrechen genervt hat. Mir ging das so. Und ich kann auch nicht garantieren, dass ich das in den Zeiten, als ich an Schulen gearbeitet habe, besser rüberbringen konnte. Aber ein Teil meiner Familie kommt aus Schlesien (deswegen zähle ich in allen Statistiken als "Deutscher mit Migrationshintergrund"), ich hatte Verwandte in Auschwitz. Und glaub' mir: Die Leute wussten, was da abging. Alle. Und die allermeisten haben zugesehen. Am Ende hat das 80 Millionen Menschen das Leben gekostet. Zum Teil auch die, die dachten, sie wären aus dem Schneider. 

Vielleicht bist Du Christin oder Christ und denkst: Die schreiben sich das wenigstens auf die Fahnen. Das tun sie. Aber sie meinen es nicht ernst. Oder sie haben ein paar ganz entscheidende Dinge nicht verstanden. Das "christliche Abendland" zum Beispiel ist keine Erfindung von Jesus, sondern der Romantik und der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Die ersten Gemeinden kurz nach Jesu Tod waren auch deswegen so erfolgreich, weil sie erkannten, dass der Glaube Menschen über die Kulturgrenzen hinweg verbindet: "Es spielt keine Rolle mehr, ob Ihr Juden seid oder Griechen" (Galater 3,24). Und die größte Bedrohung für Christentum und Kirche geht nicht von "dem Islam" aus - im Gegenteil, bei uns in der Stadt erlebe ich es, dass gerade der Kontakt zu Muslimen Christen dabei hilft, über ihren Glauben zu sprechen. Die größte Bedrohung für Christentum und Kirche ist nicht eine andere Religion, sondern geht von denen aus, die sich zu einem Glauben bekennen, von dem sie nichts wissen, und dessen Schätze sie missbrauchen, um Wählerstimmen zu fischen. 

Ich weiß nicht, ob Du bis hierher gelesen hast. Wenn ja: Danke! Für deine Zeit, für deine Aufmerksamkeit. Bestimmt bist Du in ganz vielen Dingen nicht meiner Meinung, vielleicht stempelst Du mich jetzt als dämlichen Gutmenschen ab. Damit kann ich leben, Jesus hat ja mal gesagt, man soll auch noch die andere Backe hinhalten, wenn man eine Ohrfeige bekommt, und sei es mit Worten. Aber ich finde das Wort "Gutmensch" sehr okay - in der Bibel steht auch: "Gutes zu tun vergesst nicht" (Hebräer 13,16). Und ich vertraue lieber einmal zu viel, als dass ich meine Stimme einer Partei gebe, die dieses Land, unsere Kultur, unseren Sozialstaat, unser Grundgesetz und unseren Glauben verraten und vernichten will. In dieser Frage lässt mir mein Glaube keine Wahl. Lässt mir Jesus keine Wahl.

Wenn Du am Sonntag AfD wählen willst: Bitte, tu es nicht. Sei weiter wütend, wenn Du Grund dazu hast, aber mach was Positives draus. Und denk immer dran: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe - und der Besonnenheit. 

Und wenn Du Dich am Sonntag für die AfD in ein Amt wählen lassen willst: Tu Buße. Und kehr um. Es gibt Ausstiegshilfen, und es gibt Kirchen und Gemeinden, die Dich mit offenen Armen empfangen werden. Und im Himmel ist die Freude über einen Verlorenen, der zurückfindet, sowieso größer als über 100 Gutmenschen. 

Gottes Segen Dir.