Jesus kam nach Jericho; sein Weg führte ihn mitten durch die
Stadt. Zachäus, der oberste Zolleinnehmer, ein reicher Mann, wollte unbedingt
sehen, wer dieser Jesus war. Aber es gelang ihm nicht, weil er klein war und
die vielen Leute ihm die Sicht versperrten. Da lief er voraus und kletterte auf
einen Maulbeerfeigenbaum; Jesus musste dort vorbeikommen, und Zachäus hoffte,
ihn dann sehen zu können. Als Jesus an dem Baum vorüberkam, schaute er hinauf
und rief: »Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute in deinem Haus zu
Gast sein.« So schnell er konnte, stieg Zachäus vom Baum herab, und er nahm
Jesus voller Freude bei sich auf. Die Leute waren alle empört, als sie das
sahen. »Wie kann er sich nur von solch einem Sünder einladen lassen!«, sagten
sie. Zachäus aber trat vor den Herrn und sagte zu ihm: »Herr, die Hälfte meines
Besitzes will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand etwas erpresst habe,
gebe ich ihm das Vierfache zurück.« Da sagte Jesus zu Zachäus: »Der heutige Tag
hat diesem Haus Rettung gebracht. Denn«, fügte er hinzu, »dieser Mann ist doch
auch ein Sohn Abrahams. Und der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu
retten, was verloren ist.«
Die Predigt beginnt von der Empore aus, auf die der Prediger sich im Laufe des Liedes vor der Predigt zurückgezogen hat.
Liebe
Gemeinde,
ich
sehe euch, aber ihr seht mich nicht. Eigentlich gar nicht so schlecht.
Ich
sitze hier oben auf der Empore. Aber ich könnte auch jemand ganz anderes,
irgendwo ganz woanders sein:
Ich
bin vielleicht ein Zaungast des Elbhochwassers, stehe auf der trockenen Seite
eines Deiches, verschwimme in der neugierigen Menge, halte eine Kamera oder ein
Fotohandy schützend zwischen mich und die, die Sandsäcke durch die hüfthohe
Brühe schleppen.
Ich
bin vielleicht der junge Mann, der nachts fiebernd und sehnsuchtsvoll auf den
Computerbildschirm starrt. Nicht das,
was Ihr denkt. Keine Schmuddelseiten, nein: Ich klicke auf dem Facebookprofil
einer bestimmten Person herum, die mich nachts nicht schlafen lässt, die ich
nie im wirklichen Leben ansprechen würde, weil sie mir das Herz bis zum Hals
schlagen lässt. Gucke in ihr digitales Fotoalbum, bleibe an einem Bild vom
Sonnenuntergang über dem Rhein hängen und träume mich hinein, hätte so gern mit
ihr dort gesessen und nach dem Foto ihre Hand genommen.
(c) Andrea Damm / pixelio.de |
Ich
sehe euch, aber ihr seht mich nicht. Wer ich bin? Eigentlich egal, ich bin
einer von vielen, die nicht unbedingt in der ersten Reihe sitzen wollen oder
die lieber erst einmal aus sicherer Entfernung gucken, was sie erwartet. Die
lieber sehen als gesehen zu werden.
Der Prediger verlässt die Empore und spricht von der Kanzel weiter.
Jetzt
ist es anders. Ich sehe euch – und ihr seht mich. Wir sehen uns an. Das
verändert vieles. Ich bekomme von Euch Reaktionen auf das, was ich sage - ein
Stirnrunzeln, ein fragender Blick, ein zustimmendes Nicken oder ein energisches
Kopfschütteln – und muss das, was ich sage, plötzlich ganz anders verantworten:
Die, die mich kennen, messen das, was ich von der Kanzel erzähle, daran, wie
sie mich im Alltag erleben.
Wir
sehen uns an. Das verändert vieles. Der Zaungast wird in das Geschehen
verwickelt, das distanzierte Beobachten geht auf in einer Beziehung.
So
wie bei Zachäus. Auch so ein Zaungast des Lebens. In mancher Hinsicht kann er
selbst nichts dafür, weil er der oberste Zöller ist und klein, weil er schon aufgrund seines Berufs am Rand der Gesellschaft
steht und weil viele Menschen zum Zuschauen verdammt werden, wenn sie den
Normmaßen der Mehrheit nicht entsprechen. Und gleichzeitig findet sich Zachäus
mit dem Dasein am Rand ab, er zieht sich selbst auf die schützenden
Zuschauerränge zurück, als es spannend wird:
„Jesus
kommt!“ Sein Ruf eilt ihm voraus über das Land: Da ist einer, der heilt Kranke
und gibt Menschen ihre Würde zurück. Die einen spüren einen Aufbruch von
ausgetretenen Pfaden, andere finden: Er erinnert uns wieder an das, was wichtig
ist. Manche sind beeindruckt, wie er sich den Menschen zuwendet. Andere wollen
vielleicht nur mal sehen, ob das mit dem Brotteilen und dem Wundertun wirklich
funktioniert, manche möchten einfach Teil dieser Gemeinschaft, dieser großen
Bewegung sein, und noch andere wollen ausprobieren, ob er auch für ihre Fragen
eine Antwort hat. Wir wissen nicht, was davon Zachäus so neugierig auf Jesus
macht. Aber wir können selbst vielleicht auch gar nicht immer sagen, was genau
uns dazu bewegt hat, an einem bestimmten Sonntag, vielleicht sogar heute,
ziemlich früh aufzustehen und in die Kirche zu gehen.
Zachäus
wollte Jesus unbedingt sehen. Erst mal nicht mehr, nur sehen, einen Blick
draufwerfen und sich eine Meinung bilden. Und stellt sich eben nicht in die
erste Reihe, wo ihm ja auch kein anderer den Blick versperren würde, sondern
klettert in einen Maulbeerbaum. Zum Zuschauen ist das der ideale Platz:
(c) Wolfgang Dirscherl / pixelio.de |
Ein
stabiler, nicht allzu hoher Stamm, eine ausladende Krone mit wenigen, aber
dicken Ästen, auf denen man bequem sitzen kann, und ein dichtes Blätterwerk,
wie eine Wand aus immergrünem Laub, das von innen genug Löcher zum Durchgucken
bietet und Blicke von außen abhält. Wie eine natürliche Theaterloge, ideal,
wenn man sehen will, ohne gesehen zu werden, wenn man erst mal beobachten will,
alles aus sicherer Entfernung.
Bis
dann plötzlich alles anders wird.
Sehen
und gesehen werden. Und das verändert vieles. Der Zaungast, der eigentlich nur
gucken wollte, wird hineingezogen, verwickelt in das Geschehen und stellt fest:
Es geht um mich, um uns. Hier will jemand mit mir zu tun haben, noch mehr: Er
braucht mich. Nicht als Zuschauer, sondern als Mitspieler. Das distanzierte
Beobachten geht auf in einer Beziehung.
Zachäus
stieg eilends vom Baum herab und nahm ihn auf mit Freuden.
Hier
könnte die Geschichte zu Ende sein, wir könnten gleich zum Abendmahl gehen und
„ihn mit Freuden aufnehmen.“ Wären da nicht die anderen. Die, von denen Zachäus
wahrscheinlich auch nicht gesehen werden wollte. Die machen es ja oft schwer,
die anderen. Die ihrerseits auf ihren Zäunen oder hinter ihren Gardinen sitzen,
mit neugierigen Blicken alles verfolgen und laut oder leise kommentieren, was
sie sehen. „Wie kann er sich nur von so einem Sünder einladen lassen.“
(c) Dieter Schütz / pixelio.de |
In
vielen Auslegungen dieser Geschichte kommt die Menge nicht besonders gut weg.
Erst versperren sie Zachäus die Sicht, und dann sind sie auch noch so
hartherzig, so engstirnig und kleingeistig, dass sie ihm diesen besonderen
Augenblick mit Jesus nicht gönnen und weiter an der Vergangenheit kleben.
Ich
glaube nicht, dass wir uns die anderen so leicht vom Hals halten können, und
Zachäus auch nicht, denn ihn holt seine Vergangenheit ein. In dieser Menge
steht vielleicht der Händler, dem er sein halbes Tagesgeschäft abgeknöpft hat.
Vielleicht eine Frau, deren Mann die Römer ins Gefängnis gesteckt haben, also
die, in deren Lohn und Brot Zachäus steht. Vielleicht der Bettler, der an der
Straßenecke sitzt und an dem Zachäus jeden Tag auf dem Weg zum Zollhäuschen
vorbeikommt und für den er trotz seines Reichtums nicht einmal ein paar kleine
Münzen übrig hat. In der murrenden und motzenden Menge stehen all die Leute,
die uns beobachten, wenn wir sonntags in die Kirche gehen und kritisch fragen,
woran man unseren Glauben denn im täglichen Leben erkennt.
Zachäus
stellt sich den Fragen der anderen, stellt sich seiner Vergangenheit und zieht
seine Konsequenzen: Die Opfer seiner Machenschaften werden entschädigt, die
Hälfte seines Besitzes geht an die, die es nötiger brauchen als er. Das kommt
für Manchen vielleicht zu spät, aber: Es kommt.
Und
wahrscheinlich hätte sich Zachäus seiner Vergangenheit nicht stellen können,
wenn ihm nicht vorher gesagt worden wäre: Ich sehe dich, und ich will bei dir zu
Gast sein, trotz allem.
„Heute
ist diesem Haus Rettung (Luther: Heil) wiederfahren“, so fasst Jesus das Geschehene zusammen, das
hinter diesem nicht ganz einfachen theologischen Spezialwort steckt: Ich sehe -
und werde gesehen, gebe den sicheren Platz am Rand auf und trete ein in eine
Beziehung zu dem, der mich sieht. Und kann nur staunen, was das mit meinem
Leben macht.
Ein
Zaungast des Elbhochwassers steht auf der trockenen Seite des ächzenden Damms,
hält schützend die Kamera zwischen sich und das nasse Chaos – und spürt
plötzlich, wie ihn der Blick von einem trifft, der auf der anderen Seite
Sandsäcke schleppt, ein Blick, der ihn aus der Menge der Schaulustigen
herauszieht und sagt: Wir brauchen Dich.
An
irgendeinem Computerbildschirm sitzt ein junger Mann und betrachtet
sehnsuchtsvoll die Fotos der Person, die ihn nachts nicht schlafen lässt.
Verfolgt ihre Aktivitäten – und wäre so gern dabei. Hört plötzlich ein leises
Tonsignal, blickt erstaunt zum oberen linken Bildschirmrand, liest: Sie haben
eine Nachricht. Die Maus tastet sich vorsichtig zu dem kleinen Symbol mit dem
Briefumschlag – und das Herz überschlägt sich, klopft schneller, als er die
Zeilen von der Person liest, die offensichtlich auch nicht schlafen kann, ihm
eine Nachricht schickt und fragt: „Wollen wir mal was trinken gehen? Nur wir
zwei?“
Irgendwo
in einer Kirche lässt sich jemand von der Menge mitreißen, steht langsam von
dem neugierig-distanzierten Beobachterposten irgendwo am Rand auf den hinteren
Kirchenbänken auf,
findet
sich plötzlich mit anderen Menschen um den Altar versammelt, blickt in
Gesichter, manche fremd, manche bekannt, und spürt in seiner Hand die kleine
Oblate, die ihm ein Pfarrer in die Hand gedrückt hat. Er hatte nicht darum
gebeten, nur die Hand aufgehalten, nicht einmal bewusst. Blickt auf die kleine
Scheibe aus Esspapier, in seinen Ohren klingt ein Satz, der ihm dabei gesagt
worden war, oder der ihm vielleicht aus der Predigt noch nachhängt: Heute muss
ich bei dir zu Gast sein.
Und
nichts ist, wie es war.
Amen.
(c) Andrea Damm / pixelio.de |