Kantate - 1. Teil (BVW 39,I-III)
I. Coro
Brich dem Hungrigen dein Brot
und die, so in Elend sind, führe ins Haus!
So du einen nackend
siehest, so kleide ihn und entzeuch dich nicht von deinem Fleisch.
Alsdenn wird dein Licht herfürbrechen wie die Morgenröte,
und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit
wird für dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dich
zu sich nehmen.
II. Recitativo
Der reiche Gott wirft seinen Überfluss
Auf uns, die wir ohn ihn auch nicht den Odem haben.
Sein ist es, was wir sind; er gibt nur den Genuss,
Doch nicht, dass uns allein
Nur seine Schätze laben.
Sie sind der Probestein,
Wodurch er macht bekannt,
Dass er der Armut auch die Notdurft ausgespendet,
Als er mit milder Hand,
Was jener nötig ist, uns reichlich zugewendet.
Wir sollen ihm für sein gelehntes Gut
Die Zinsen nicht in seine Scheuren bringen;
Barmherzigkeit, die auf dem Nächsten ruht,
Kann mehr als alle Gab ihm an das Herze dringen.
III. Aria
Seinem Schöpfer noch auf Erden
Nur im Schatten ähnlich werden,
Ist im Vorschmack selig sein.
Sein Erbarmen nachzuahmen,
Streuet hier des Segens Samen,
Den wir dorten bringen ein.
Predigt
Liebe Gemeinde,
ganz leise geht
es los. Kein mächtiges Orgelbrausen, keine aufgeregt zuckenden Streicher, keine
schallenden Posaunen. Leise Töne schlägt Bach in dieser Kantate an, Flötentöne,
um genau zu sein. Klagend, unaufgeregt, aber unsagbar traurig spielen die
Flöten ihr Lied. Auch der Chor setzt
erst ganz leise ein, mit Aufforderungen, die mehr nach Feststellungen klingen,
weil sie eigentlich selbstverständlich sind: Brich (brich) / dem Hungrigen (dem
Hungrigen) / dein Brot; die im Elend sind / führe ins Haus; wenn du einen
nackend siehst / so kleide ihn.
Vielleicht
entstehen schon bei solchen Sätzen, in der Kantate, in der Predigt oder
irgendwann in diesem Gottesdienst, Bilder vor Ihrem inneren Auge.
Nehmen Sie das ruhig ernst. Denn dann kann es sein, dass hier jemand ganz
persönlich zu Ihnen spricht: Der, dessen Gegenwart wir zu Anfang eines jeden Gottesdienstes
bejahen, der uns in dieser Stunde dient – durch sein Wort, durch die Stärkung
an Brot und Traubensaft, und womöglich durch einen guten Gedanken, wie die
Botschaft dieses Gottesdienstes in unserem, in ihrem Leben Wurzeln schlagen und
Frucht bringen kann…
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Quelle: en.wikipedia.org |
Still und leise
geht es los, aber unsere Sängerinnen und Sänger haben bei der Probenarbeit
festgestellt: Diese Kantate hat es in sich, ist ein komplexes Gebilde aus
Worten und Tönen, Text und Musik, Stimmen und Instrumenten, die ineinander
verflochten sind. Und ich glaube, dass sich hier in der Musik andeutet, was wir
selbst erleben: Auf der einen Seite ist es doch ganz simpel, um was es geht,
was notwendig ist: Gib denen zu essen, die Hunger haben, gib denen ein Dach,
die im Regen stehen, gib denen etwas zum Anziehen, die schutzlos sind. Und auf
der anderen Seite: So einfach ist es dann doch nicht. Sei es, weil wir selbst
genug um die Ohren haben. Sei es, weil es manchmal gar nicht so einfach ist, zu
erkennen, was in einer konkreten Situation das Richtige ist. Sei es, weil wir
gut darauf trainiert sind, das Elend um uns herum auszublenden.
All das ist
nicht neu, all das war schon vor zweieinhalbtausend Jahren so, als in Israel
ein Prophet in der Tradition Jesajas auftritt und die Worte spricht, mit denen
Gott selbst sich an sein Volk richtet und mit denen uns Johann Sebastian Bach
und sein unbekannter Textdichter heute in diesem Gottesdienst bedrängen (Jes
58,3b-12):
Siehe, an dem Tag, da
ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure
Arbeiter. Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit
gottloser Faust drein. Ihr sollt nicht so fasten, wie ihr jetzt tut, wenn eure
Stimme in der Höhe gehört werden soll. Soll das ein Fasten sein, an dem ich
Gefallen habe, ein Tag, an dem man sich kasteit, wenn ein Mensch seinen Kopf
hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet? Wollt ihr das ein
Fasten nennen und einen Tag, an dem der HERR Wohlgefallen hat? Das aber ist ein
Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast,
lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst, reiß
jedes Joch weg! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach
sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh
dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die
Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine
Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen
Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du
schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand
unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den
Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht
in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der
HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein
stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine
Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder
aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten,
was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert
und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«.
Liebe Gemeinde,
in unseren deutschen Bibeln steht dieser Abschnitt unter der Überschrift: „Vom
wahren und falschen Fasten“. Es geht um die Gefahren einer fehlgeleiteten
Frömmigkeit, die zwar mit großer Ernsthaftigkeit geübt wird, aber letztendlich
doch nur spirituelle Nabelschau ist, die allein die eigenen Befindlichkeiten im
Blick hat. Dadurch wird der Menschen zu dem, was Luther als den Prototypen des
Sünders schlechthin erklärt hat: Zu einem in sich selbst verkrümmten Menschen,
der weder die Menschen um sich herum, noch den offenen Himmel Gottes im Blick
hat.
Gegen diese
Verkrümmung ruft der Prophet an, gegen unsere Scheuklappen und Rückzugsversuche
angesichts des Leides um uns herum setzt Bach seine Musik, die unter die Haut geht
und uns förmlich zwingt, den Kopf zu heben. Darum geht es, im Predigttext und
in der Kantate. Es geht nicht darum, uns in die Knie und in den Staub zu
singen, wenn wir so ganz unmittelbar daran erinnert werden, dass es Menschen
schlecht geht. Es geht darum, den Blick zu heben und den Rücken gerade zu
machen, und unsere Verantwortung füreinander wahrzunehmen, für all diejenigen,
mit denen wir gemeinsam diese Erde bewohnen:
Brich dem Hungrigen dein Brot. Das klingt simpel und banal – wer Hunger
hat, braucht etwas zu essen. Selbstverständlich ist das nicht. Alle drei
Sekunden stirbt irgendwo ein Mensch an Unterernährung… jetzt… 1… 2…3… jetzt
wieder… 1… 2… 3… und wieder einer. Wir können uns nicht daraus herauswinden, das
Problem ist vielschichtig und facettenreich, wie die Musik der Kantate: Wir
haben natürlich einen Anteil daran, mit unserem Biosprit, für den irgendwo auf
der Erde überlebensnotwendiger Ackerboden belegt wird. Mit den 80 kg Lebensmittel,
die hier in Deutschland pro Kopf und Jahr im Müll landen. Mir ist gerade bei
den ersten Takten der Kantate zum Beispiel eingefallen, dass ich immer noch,
obwohl ich es schon lange auflösen wollte, ein Konto bei einer Bank habe, die
wie kaum eine andere Lebensmittelspekulation betreibt, und die
Lebensmittelpreise auf Kosten der Ärmsten der Welt in die Höhe treibt.
Brich dem
Hungrigen dein Brot, das geht auf Kosten unserer Bequemlichkeit: Brich dein
Brot, sprich: Gib etwas ab von dem, was Du hast, und zwar nicht nur von deinen
Lebensmitteln - „das Brot brechen“,
dieser Ausdruck meint immer eine gemeinsame Mahlzeit. Und vielleicht ist das
die Form von Hunger, mit der wir in unseren Breitengraden am ehesten zu tun
haben: Dem Hunger nach Gesehenwerden, nach Gemeinschaft, nach einem Gespräch am
Esstisch und der simplen Frage: „Wie geht’s Dir, wie war Dein Tag?“ Und wieder:
Vielleicht haben Sie jetzt Bilder im Kopf, Gesichter von Menschen, die solchen Hunger
haben. Dann wissen Sie doch, was zu tun ist.
Die im Elend sind,
führe ins Haus. Unser deutsches Wort „Elend“ kommt bekanntlich von „Ausland“. Der
„Elende“ ist in erster Linie der Heimatlose, jemand, der sich fremd fühlt und
fremd ist, ein „Ausländer“ im umfassenden Sinn. Die Präses unserer benachbarten
Landeskirche in Westfalen hat dieser Tage einen offenen Brief an alle Gemeinden
geschrieben. Anlass waren die Unruhen und die erschreckend unverblümt
rassistischen Proteste in Berlin-Hellersdorf, wo ein Asylbewerberheim gebaut
werden soll. Ich lese Ihnen ein paar Sätze aus diesem Brief
vor, weil dort eigentlich alles gesagt ist: „Wir Christen sind selbst
Fremdlinge, Dazugekommene. Wir wurden von Gott mit offenen Armen in sein
auserwähltes Volk aufgenommen. Deshalb dürfen wir nicht wegsehen, wo Fremden
Unrecht geschieht. Es ist unaufgebbarer Ausdruck unseres christlichen Glaubens,
Flüchtlingen, die bei uns Schutz vor Verfolgung und Not suchen, beizustehen. Sie
brauchen nicht nur Schutz vor Verfolgung und Not; ihre Würde verlangt auch eine
gleichberechtigte Teilhabe am Gemeinwesen.“ Wir selbst sind Fremde
gewesen. Darum sind uns die Fremden ans Herz gelegt, nicht nur die Flüchtlingsfamilie
aus dem Kongo oder die Spätaussiedler aus Alma Ata, sondern alle diejenigen,
für die unsere Gesellschaft von sich aus keinen Platz frei hält. Und deswegen,
entschuldigen Sie, wenn es jetzt ganz handgreiflich wird, ist es auch
unaufgebbarer Ausdruck christlichen Glaubens, am Sonntag in einer Woche KEIN Kreuz
bei der NPD, bei Pro-Köln/Deutschland und ihresgleichen zu machen.
Wenn Du einen
nackt siehst, so kleide ihn. Liebe Gemeinde,
es kommt in unseren Breitengraden einigermaßen selten vor, dass wir nackte
Menschen sehen, und wenn, dann sind die das freiwillig: In der Umkleidekabine
nach dem Sport, in der Sauna, meinetwegen am FKK-Strand oder wenn mal wieder
jemand über ein Fußballfeld flitzt. Aber Menschen können auch anderweitig nackt
sein, können in der sozialen Kälte frieren, können ihrer Intimsphäre beraubt
werden, können schutzlos inmitten einer gaffenden, grölenden Menge stehen, die
mit dem Finger auf sie zeigt. Wer solch einen Nackten kleiden will, sich
schützend vor jemanden stellt, der ins soziale Abseits gedrängt wird, muss
selbst die eigene Deckung verlassen – es ist so einfach, aber kann doch so
schwer sein.
Mir fällt beim
Stichwort „Kleidung“ ein Erlebnis aus meinem Vikariat ein, am wohlsituierten
Stadtrand von Düsseldorf. Es war im Oktober oder November, trocken, aber
bitterkalt. An der Wand neben dem Schaufenster eines kleinen Gemischtwarenkaufhauses
lehnte eine Frau mittleren Alters, sehr dick, halb saß sie, halb lag sie, und
rührte sich nicht. Die Menschen eilten an ihr vorbei, es war kurz vor
Geschäftsschluss. Irgendwann blieben zwei Menschen aus der Gemeinde, die sich
zufällig getroffen hatten, stehen. Die Frau war nicht ansprechbar, lallte so
vor sich hin, es war auch mit nicht möglich, sie mit zwei Leuten hochzuhieven,
dazu war sie zu schwer. Mit der Zeit kamen andere Leute dazu, das geht ja oft,
wenn erst einmal ein Anfang gemacht ist. Einer rief den Notarzt, ein anderer
stellte fest: Es ist viel zu kalt, wir müssen die irgendwie wärmen. Die
Apotheke gegenüber machte gerade zu und der Apotheker wollte uns keine
Rettungsfolien verkaufen. Irgendwann zog einer seine Jacke aus und legte sie
der Frau über die Schultern. Und dann ein zweiter und ein dritter. Und plötzlich
kam die Verkäuferin aus dem Kaufhaus mit eingepackten Wolldecken, riss die
Verpackungen auf und verteilte die Decken, und aus der Imbissbude nebenan kam
der Besitzer mit einer Kanne Kaffee und ein paar Bechern. Nachdem der Notarzt
die Frau abgeholt hatte, standen wir noch eine Weile da, und es war warm. Nicht
wegen der Decken, nicht wegen des Kaffees. Und ich glaube, in dem Moment ist
das passiert, was in unserem Predigttext versprochen wird, die Sätze, die
irgendwie schön, aber schwer verständlich klingen und die auch in unserer
Kantate mit so wunderschönen Harmonien unterlegt sind, dass man das Gefühl hat:
Irgendwo oben reißen die Wolken ein Stück auf und ein einzelner Sonnenstrahl
fällt einem aufs Gesicht und wärmt und irgendwo über den Wolken sitzt einer und
nickt und lächelt.
Liebe Gemeinde,
ganz leise geht es los in unserer Kantate, die uns buchstäblich die Flötentöne
beibringt, die Klänge dieses Instrument, das in den geistlichen Werken Johann
Sebastian Bachs als ein klingendes
Symbol für Armut, Elend und Bedürftigkeit steht. Die Musik geht zu
Herzen, eindrücklich, wie sie ist. Gebe Gott, dass sie wie ein Ohrwurm hängen
bleibt und uns keine Ruhe lässt, oder dass sie uns dann wieder ins Ohr dringt,
wenn es nötig ist:
Wenn an der
Kasse der alte Mann nach Kleingeld sucht, um seine Sardinenbüchse und sein Paket
Knäckebrot zu bezahlen – brich dem Hungrigen dein Brot.
Wenn auf der
Geburtstagsfeier bei Kaffee und Kuchen lautstark verkündet wird, das Boot sei
nun mal voll, Deutschland kein Hotelbetrieb und die meisten Asylbewerber wollen
ohnehin nur unser Geld – die im Elend sind, führe ins Haus.
Wenn im Büro
eine Kollegin den Raum betritt und schlagartig alle Gespräche verstummen,
manche sich einen wissenden Blick zuwerfen, einer eine eindeutige Geste macht
und die Kollegin mit hängenden Schultern und gesenktem Blick zu ihrem
Arbeitsplatz schleicht – wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und
entziehe dich nicht deinem Fleisch und Blut.
Dann wird dein Licht
hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten,
und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN
wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir
antworten. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine
Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
Amen.
Kantate - 2. Teil (BWV 39, IV-VIII)
IV. Aria
Wohlzutun und mitzuteilen vergesset nicht;
denn solche Opfer gefallen Gott wohl.
V. Aria
Höchster, was ich habe,
Ist nur deine Gabe.
Wenn vor deinem Angesicht
Ich schon mit dem meinen
Dankbar wollt erscheinen,
Willt du doch kein Opfer nicht.
VI. Recitativo
Wie soll ich dir, o Herr, denn sattsamlich vergelten,
Was du an Leib und Seel mir hast zugutgetan?
Ja, was ich noch empfang, und solches gar nicht selten,
Weil ich mich jede Stund noch deiner rühmen kann?
Ich hab nichts als den Geist, dir eigen zu ergeben,
Dem Nächsten die Begierd, dass ich ihm dienstbar werd,
Der Armut, was du mir gegönnt in diesem Leben,
Und, wenn es dir gefällt, den schwachen Leib der Erd.
Ich bringe, was ich kann, Herr, lass es dir behagen,
Dass ich, was du versprichst, auch einst davon mög tragen.
VII. Coro
Selig sind, die aus Erbarmen
Sich annehmen fremder Not,
Sind mitleidig mit den Armen,
Bitten treulich für sie Gott.
Die behülflich sind mit Rat,
Auch, womöglich, mit der Tat,
Werden wieder Hülf empfangen
Und Barmherzigkeit erlangen.