Zweite Sequenz aus der Performance vom Kirchentag 2017 in der Parochialkirche. Hier gibt es mehr dazu, auch den Link zum Video. Der Text bezieht sich auf den vierten Akt von Ruttmanns Berlin - Sinfonie der Großstadt.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde
und als aus Abend und Morgen der erste Tag wurde,
schuf er, quasi im Vorbeigehen,
ohne hinzusehen,
auch gleich die Zeit
- und er schuf leider viel zu wenig davon.
Und die Terminkalender wurden wüst und voll.
"Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes",
aber zum Glück weiß niemand,
wer die wohin gelegt hat.
Wann sollten wir das denn noch schaffen?!
PC ausmachen
Schreibtisch abschließen
Jacke im Gehen anziehen
Feierabend!
Schnell jetzt… nochmal zurück,
die Autoschlüssel
liegen noch in der Schublade
PULS!
Wer rastet, der rostet
sowieso
aber jetzt
musst du dich beeilen
Du hast noch einen Termin
Die Treppe runter
in die Tiefgarage
rein ins Auto,
Schlüssel rein
der Sicherheitsgurt
kann bis zur nächsten
roten Ampel warten
Ab zur Schranke
fummelst nach der Karte
die Schranke hebt sich
quälend langsam
Du lässt den Motor aufheulen
schießt die Rampe hoch
auf der Straße eine Lawine aus Blech
PULS!
Du trommelst auf dem Lenkrad herum
dein Puls spielt Housemusik
140 Beats per Minute
Irgendwann im Mittelalter
waren es mal 70
aber 140 ist immerhin
nur ein Drittel von dem,
was das Herz einer Spitzmaus als Spitzenleistung
leistet
und man sagt doch immer,
dass beim Atomkrieg das Kleinzeug überlebt
- da geht noch was!
Schickst per Telefon den Sohn zum ALDI
wo die Kassiererin 930 Produkte pro Schicht
über den Scanner zieht
rufst kurz bei Vatter im Heim
schaffst es heute leider wieder nicht
Er ist schon bettfertig gemacht
viereinhalb Minuten dauerte das heute
wegen Krankenstand
Ein Krankenwagen blockiert die rechte Spur.
Du ziehst rüber,
preschst bei Kirschgelb über die Kreuzung
vor dir schon wieder rote Bremslichter
PULS!
du trommelst auf dem Lenkrad
PULS!
die Uhr rast
Du stehst schon wieder
PULS!
biegst endlich in die Straße ein
fährst um den Block
erst ein-, dann zweimal
alles voll
PULS!
Das Auto piept
Sicherheitsgurt
braucht man jetzt auch nicht mehr
stellst dich mit quietschenden Reifen
in die zweite Reihe
das Ordnungsamt wird doch schon Feierabend haben
Du hast noch einen Termin
raus aus dem Auto
um die Ecke
durch die schwere gläserne Eingangstür
suchst auf der Hinweistafel
nach dem richtigen Raum
findest ihn nicht
PULS!
findest ihn doch,
da…
ganz oben…
tausende von Treppen
PULS!
mit klopfendem Herzen bleibst du
vor der Türe stehen
fährst dir durch die Haare
hoffst, dass dein Kopf nicht so rot ist,
wie er sich anfühlt
PULS!
Öffnest die Tür
alle Blicke auf dich
deine Stimme hoch und atemlos...
„Entschuldigung...
Ist das hier der Kurs Entschleunigung im Alltag?“
„Ja“, sagt die Kursleiterin in wallenden Kleidern
und nickt auf einen leeren Stuhl.
„Jetzt aber schnell“, scherzt sie.
Vereinzelte Lacher.
Hahaha.
PULS!
Und dir fällt jetzt erst auf,
dass Entschleunigung
fast so klingt wie Entschuldigung.
Und Oma hat immer gesagt:
Man kann sich selbst nicht entschuldigen,
nur um Entschuldigung bitten.
Vielleicht ist das mit Entschleunigung genauso.
Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volk Gottes.
Dienstag, 30. Mai 2017
Berlin - Symphonie einer Großstadt (II): Volksmassen. Nähe.
Zweite Sequenz aus der Performance vom Kirchentag 2017 in der Parochialkirche. Hier gibt es mehr dazu, auch den Link zum Video. Der Text bezieht sich auf den zweiten Akt von Ruttmanns Berlin - Sinfonie der Großstadt.
Im gleichförmigen Strom der Menschenmassen
irgendwann zur Rush Hour
stelle ich fest:
Bei Fischen erhöhen sich im Schwarm Schnelligkeit und Reaktionsvermögen. Bei Menschen nicht unbedingt.
Der Fluss aus Mensch stockt wie das WLAN bei mir im Hotel
stolpert nimmt Umwege, teilt sich rund um einen jungen Mann, der schlecht rasiert, mit Schweißflecken unter den Armen und überaus missmutigem Gesichtsausdruck im Weg steht und ein Schild hochhält wie eine Drohung: „Free Hugs!“ Und jeder stolpert, springt, zuckt zur Seite,
und der Strom von Körpern aus 50% Wasser und ein bisschen Mikroplastik spuckt mich vor einer Kirche aus.
Ich gehe hinein
und finde mich in einer Umarmung aus sakraler Kühle und stillem Ernst.
Die Umarmung bleibt reserviert, es ist eine evangelische Kirche,
und evangelische Kirchen haben eine bestimmte Art, einen zu umarmen.
Ganz anders als so eine alte polnisch-katholische Kapelle, die mich ohne Rücksicht auf irgendwas in einen weichbusig kohlduftigen Arm zieht, in die Wange kneift und fragt, wo ich so lang gewesen bin. Ganz anders als so ein freikirchliches Gemeindezentrum, das mich in den Arm nimmt und abknutscht und festhält mit Haut und Haaren, dass ich schon sagen möchte: Das ist mir zu nah, aber dann habe ich auch schon einen Schrubber oder einen Kollektenbeutel oder einen Aktenordner in der Hand und irgendeinen Dienst übernommen.
Eine evangelische Kirche tut so, als ob sie mich in den Arm nimmt, aber sie tut es doch nicht, sie fasst mich mit den Händen bei den Oberarmen und hält mich dabei auf gehörigem Abstand und lächelt mich an und wünscht mir eine „gute Zeit“, drückt nochmal was fester fürs Herz, weil sie mich nicht überwältigen, mir nicht die Luft abschnüren, mir Raum lassen will und das ist ja auch ganz okay so, aber ich spüre weder ihren Herzschlag, noch höre ich ihren Atem.
Nach den Menschenmassen draußen ist mir das ganz recht und ich setze mich in die sachlich-kühle Heiligkeit, die bald jäh unterbrochen wird von der Stimme eines moppeligen Jungen irgendwo aus Süddeutschland, offensichtlich katholisch sozialisiert, der mit schnodderigem Zeigefinger nach vorne-oben zeigt und quakt: „ Mama, ‘s Greuz is leer, deä Jesus is wech!“ Und seine an interkonfessionell-religiöser Bildung momentan oder grundsätzlich weniger interessierte Mutter sagt etwas theologisch ganz Wertvolles, sie antwortet: „Na, er wird wohl nach drause gegange sein.“ Und ich gehe hin und tue desgleichen und stürze mich in die Menschenmassen vor der Tür und will ihn suchen und finden, damit wir auf einer Parkbank sitzen und philosophieren oder in einem dieser Berliner Hipster-Cafés eine Guave-Liebstöckl-Bionade trinken und dabei die Welt retten können.
Aber ich habe das Gefühl, ich ertrinke beim Bad in der Menge, dass der Strom mich mitreißt, wohin auch immer. Und ich wäre gern Mose, der das Meer teilt – vielleicht sollte ich mir so ein Free-Hugs-Schild anschaffen – oder Jesus, der übers Wasser läuft, über den Dingen schwebt, aber ich bin eher der sinkende Petrus und gehe unter und werde mitgerissen an Parkbänken vorbei und an Hipster-Cafés und der Menschenfluss zieht mich immer weiter Richtung Stadtmitte und Kirchentag, und der Fluss wird orange und vor mir sehe ich, wie er sich teilt, weil da vorne, 100 Meter vor mir, dieser Typ mit dem Schild „Free Hugs“ steht, immer noch unrasiert, immer noch in demselben T-Shirt wie schon vorgestern, und ich versuche, nach rechts zu schwimmen, nach links, während wir unaufhörlich die Straße hinunterstürzen, und es sind keine 20 Meter mehr, und ich treibe geradewegs auf ihn zu, noch zehn Meter, noch fünf...
Und plötzlich scheint alles still zu stehen und einzufrieren und sich in Zeitlupe zu bewegen, und der Lärm der Stadt wird tiefer und leiser und die Polizeisirenen klingen wie Walgesänge, und ein Lichtstrahl fällt vom wolkenverhangenen Himmel genau auf den Typen mit dem Free-Hugs-Schild und eine überirdische Stimme perlt durch die Luft: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, und für eine Sekunde bleibt alles stehen und die Welt wird hell und klar.
Und dann stürzt der Lärm der Stadt wieder auf mich ein, und ich werde nach vorn getrieben und will gar nicht mehr ausweichen, sondern kenne meinen Weg und reiße die Arme auseinander und rufe dem Typ mit dem Schild zu: „Hier bin ich!“, denn ich habe ihn erkannt, und falle ihm um den Hals und spüre, wie sein Herz stockt und rieche seinen Atem und weiß, dass er vorhin Döner gegessen hat, und die Duftruinen seines Deos, das schon lange versagt hat und spüre seine Bartstoppeln am Hals und das schweißnasse Hemd unter meinen Händen und dann reißt er sich los und glotzt mich an und bellt: „Soch mal, host du’n Knoll?!“ Aber mir ist das egal.
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Montag, 29. Mai 2017
Berlin - Symphonie einer Großstadt: Autoerotik und Industrieporno
Zu den spannendsten Projekten, bei denen ich am Kirchentag mitmachen konnte, gehörte die abendliche Performance Berlin - Die Sinfonie der Großstadt, mit der der Liturgische Tag: Großstadt in der Parochialkirche in Mitte endete. Im Zentrum stand der gleichnamige Stummfilm von Walther Ruttmann aus dem Jahr 1927, der auf einer Leinwand in dieser großartigen Kirche gezeigt wurde. Dazu gab es Livemusik am Klavier, die sich auf den Originalsoundtrack von Edmund Meisel bezog und das Geschehen auf der Leinwand kommentierte und voranbrachte. Da der Film in fünf Akte aufgeteilt ist, gab es sinnvolle dramaturgische Zäsuren, an denen ich mit mehr oder weniger poetischen Texten einhaken konnte. Der Arbeitsauftrag war, theologische Dimensionen freizulegen oder, zumindest habe ich es mir so zurechtgebogen, Gott da irgendwie inmitten der Bilder zu finden und/oder reinzumalen.
Kleine Leseanweisung: Den Meisel-Score gibt es meines Wissens nicht einfach so in diesem Internet, von daher geht eine Dimension unweigerlich verloren. Man kann sich etwas Atonales, Bildreiches dazu denken. Und dann den Film bis zum Ende des I. Aktes (das Video sagt einem, wann es soweit ist) gucken und unten weiterlesen.
AUTO-EROTIK UND INDUSTRIEPORNO
Langsam und methodisch arbeitet er sich vor.
Der Handschuh aus Lammfell gleitet über perfekte Rundungen,
mit sanftem Druck in kreisenden Bewegungen
massiert er jeden Quadratzentimeter
pustet in den sich bildenden Schaum
- schneeweiß, verspielt sich auftürmend -
ahnt diesen ganz besonderen Duft
mehr als er ihn riecht
Lack und Leder und warmes Wachs
massiert hier und dort noch ein bisschen extra
nicht weil er müsste,
sondern weil es sich so gut anfühlt
nimmt einen Schwamm und taucht ihn in warmes Wasser
lässt ihn sich vollsaugen und wringt ihn aus
und sieht, wie Wassertropfen abperlen
und langsam die perfekten Rundungen hinabgleiten
und sich auf dem Boden sammeln.
Und seine Frau hängt die Wäsche auf
und beobachtet ihn und wünscht sich,
er würde sie einmal so zärtlich berühren
an allen möglichen und unmöglichen Stellen
so liebevoll ansehen
wie sein Auto bei der Wäsche.
Und der Kameramann
lässt sein Linsenauge durch die Maschinenhalle gleiten
über blank poliertes Kupfer
und glänzenden Stahl
im Licht der Morgensonne
fängt die gleichmäßige Stoßbewegungen ein
perfekte Kurven und Wellen
eisenharte Arme mit geölten Scharnieren
kraftvoll zupackende Hände mit eisernen Greifern
Zahnräder, deren Zacken sich vereinen und wieder trennen
und laufen und laufen und laufen
und es wird gehobelt und gestoßen
und gehoben und geschoben
unter hydraulischem Stöhnen und Pulsieren
und ein Schwall weißer Milch ergießt sich
in hochdruckgereinigte Flaschen aus Glas
und füllt sie bis zum Rand
und die Maschinen bewegen sich wie von Zauberhand
Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.
Früher bauten die Menschen noch Türme
deren Spitze bis in den Himmel reichen sollten
um sich Denkmäler zu setzen und einen Namen zu machen
doch der Herr fuhr hernieder und schuf das erste Weltwunder,
babylonisches Sprachgewirr.
Dann bauten die Menschen Kathedralen
deren Spitzen bis in den Himmel reichen sollten
um dem Ewigen näher zu kommen,
doch der hatte schon längst den Abstieg gewählt
und mischte sich unters Volk
und verwirrte die Sprache
und die Gebete klangen wie Hokuspokus
und die Predigten wie tönendes Erz und klingende Schellen.
Dann ließ man die Kirche im Dorf
und baute in den Städten
noch höher höher als alle Tumkreuze und Wetterhähne
ragen die Fabrikschlote in den Himmel
und wo sie die Wolken nicht berühren,
spucken sie selber welche aus,
wattigweiß wie die verlorene Unschuld.
Die Fabrikglocke schrillt
und ruft zum Schicht-, statt zum Gottesdienst.
Non ora, sed labora
der Vorbeter weicht dem Vorarbeiter,
das Pfeifen und Dröhnen der Maschinen,
das Brausen des Fließbands
ist lauter als die größte Orgel der Welt
ein geseufztes Kyrie eleison,
ein unausgesprochenes Stoßgebet
wenn der Rücken steif geworden ist
wenn der Vorarbeiter seinen Zigarettenatem
in den Nacken der Näherin bläst
die Fürbitte ist was für die Mutigen,
wenn der Chef wieder eine Predigt hält
über Produktionssteigerung und Arbeitsmoral
und den Lehrling am Ohr zieht.
Nimm hin und iss
statt Oblaten aus der silbernen Patene
Kartoffelstampf aus einem abgestoßenen Henkelmann Butterbrot aus rostiger Büchse,
ein Schluck gestreckter Kaffee aus der Thermoskanne
Und am Ende des Tages:
Ite, missa est,
morgen geht es weiter von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Und der Herr fuhr hernieder zur Erde und
verwirrte die Sprache der Menschen
dass sie von Humankapital sprachen statt von Menschen
und statt von Gottesurteilen von betriebsbedingten Kündigungen
und statt von Ferien von vorlesungsfreier Zeit
Die Menschen bauten weiter Bankenhäuser,
die an den Wolken kratzen
und den, der im Himmel wohnt,
unter den Füßen kitzeln
und der im Himmel wohnt, lacht ihrer
zumindest am Anfang,
und dann nervt es
und er seufzt
und fährt wieder hernieder
und verwirrt ihre Sprache
und die Menschen hören nicht auf einander nicht zu verstehen.
Was vom Tage übrig bleibt? #dekt17
Hui. Knappe zehn Stunden für eine Fahrt von Berlin nach Wuppertal, Kirchentagsende, Himmelfahrtswochenende und BVB-Endspiel sei Dank, und ich bin trotzdem blendender Laune. Für mich spricht das mehr als alles andere für den soeben zu Ende gegangenen Kirchentag - das Gefühl dauert an, begleitet in den Westen. Eigentlich zu früh danach und zu spät am Tag, um da noch groß herumzureflektieren, aber what the heck.
ALLES LEBEN IST BEGEGNUNG
Am Abend der Begegnung merke ich, dass ich älter geworden bin. Nicht unbedingt, weil das Laufen schwer fiele, sondern weil ich den Unterschied zu den Jahren davor merke. 2007 (Köln) war erst mein zweiter Kirchentag, an besagtem ersten Abend bin ich u. a. mit älteren Kollegen unterwegs gewesen und war fasziniert bis befremdet von der Grußfrequenz - wir mussten gefühlt alle drei Meter stehen bleiben, weil irgendjemand Bekanntes unseren Weg kreuzte. Jetzt, zehn Jahre später, ging es mir so. Gefühlt alle drei Meter: Ehemalige Komiliton_innen, Kolleg_innen, Studierende, Konfis, Profs, Gemeindeglieder... Toll war das. Und schade, weil natürlich keine Zeit ist für längere Gespräche. Und entlarvend ist es auch: Wer beim Kirchentag in lauter Bekannte rennt / gehört schon zum Establishment.
Insbesondere am Tag darauf verstärkte sich das auf eine schöne Weise: Dankenswerterweise wurde eine Podiumsdiskussion zu #smartchurch per Livestream übertragen - eine Diskutantin stellte beim Blick ins Publikum fest: "Meine Timeline materialisiert sich gerade!" Ähnlich ging es mir beim Preacher Slam am Abend.
KLASSENTREFFEN, KLASSE KAMPF
Donnerstagabend war der erste Aktionspunkt für mich: Preacher Slam in einer bis auf den letzten Platz besetzten (und leider etwas schwer zu beschallenden) Gethsemanekirche. Ich durfte als Opferlamm den Publikumsanheizer für ein erlesenes Line-Up mit grandiosen und sehr unterschiedlichen Texten spielen (nachzulesen zum Beispiel hier und hier und hier) und endlich auch einfach nur mal Zuschauer sein. Gewonnen hat der Beitrag, der am deutlichsten auf Pointe geschrieben war und der deswegen aus homiletischer Sicht besonders interessant ist - und weil sich hier eine (auch nur so halb wahre) Tendenz aus dem "richtigen" Poetry Slam abzuzeichnen scheint: "Es gewinnen ja eh die lustigen Texte." Musik gab es von der grandiosen Miriam Buthmann, die jede_r kennen sollte!
Der Abend war dann auch so eine Gelegenheit, viele neue Lieblingsmenschen aus den sozialen Medien kohlenstofflich kennen zu lernen, zum Teil erstmalig dreidimensional zu erleben - ich freu mich sehr aufs nächste Timeline-Klassentreffen! Aber vielleicht sollte ich auch dem Rat des WELT-Kolumnisten Matthias Kamann folgen, der der Meinung ist, ich sollte besser was mit Medien machen?
Der Abend war dann auch so eine Gelegenheit, viele neue Lieblingsmenschen aus den sozialen Medien kohlenstofflich kennen zu lernen, zum Teil erstmalig dreidimensional zu erleben - ich freu mich sehr aufs nächste Timeline-Klassentreffen! Aber vielleicht sollte ich auch dem Rat des WELT-Kolumnisten Matthias Kamann folgen, der der Meinung ist, ich sollte besser was mit Medien machen?
FREITAG - FEIERTAG - STATT - FREIER TAG
Ungleich voller war mein Terminplan am Freitag. Zuerst zwei kurze Auftritte in der liebevoll und regionenspezifisch aufgebauten Westfalenhalle, in der zwischen Buden und Süßigkeitenregalen ein Hauch von Ruhrgebiet mitten durch Berlin zog - und in der die Bühne leider ein bisschen publikums- und auftretendenunfreundlich am Rand platziert war. Sowieso war die Messe, wie der gesamte Kirchentag, sehr weitläufig - manche Abstecher blieben dann doch nur Theorie.
Der Abend bot den Programmpunkt, auf den ich selbst am gespanntesten war: Die Vorführung des bombastischen Stummfilms "Berlin - Symphonie der Großstadt" von 1927 mit Livemusik und kurzen eingeschobenen Zwischentexten. Schon die Location, die Parochialkirche in Mitte, hätte ich am liebsten mitgenommen...
Die Parochialkirche war Schauplatz des Liturgischen Tages Großstadt, für den unter anderem das Theologische Labor Berlin und einige Protagonist_innen der deutschsprachigen fresh-x-Bewegung verantwortlich zeichneten. Auch diese Kirche war mit einem überaus wachen und begeisterten Publikum fast voll besetzt, Film, Musik und Texte passten überraschend gut zusammen - und am Ende des Tages ist mir bewusst, dass ich das Thema "Urbane Theologie" gern weiterdenken möchte.
SKANDAAAAAL!
Nicht weniger spannend ging der Kirchentag zu Ende, weil auf dem Programm noch eine Podiumsdiskussion zum Thema "Gottesdienst als Skandal" stand. Ich durfte vorne sitzen neben lauter Menschen, die ich bewundere und mag - mein alter Lehrer Peter Bukowski, Birgit Mattausch und Christina Brudereck, fach- und sachkundig moderiert von Johannes Michael Modeß. Alles Leute, mit denen ich gern über Gottesdienst nachdenke und mit denen ich noch lieber zusammen feiere - auch das stand auf dem Programm. Skandalöser wäre das Ganze sicherlich gewesen, wenn wir als Panel uns nicht in eigentlich allem so rührig einig gewesen wären... Evangelisch.de hat dem Ganzen einen sehr ausführlichen Bericht gewidmet, und auch an diesem Abend war die Gethsemanekirche fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Fast schon überraschend angesichts des Veranstaltungsformats, aber auf jeden Fall sehr fein!
DER LANGE WEG NACH HAUSE
Nach diesem Nachmittag war der Kirchentag für mich zumindest offiziell beendet, auch wenn der Abend mit weiteren kohlenstofflichen Begegnungen noch lang wurde. Zum Abschlussgottesdienst nach Wittenberg haben weder Benzin noch Lust gereicht, aber ein Stau kurz vor Magdeburg (der sich wundersamer Weise auflöste, als der Ratsvorsitzende die Einsetzungsworte sprach...) machte es möglich, das Ganze live im Radio zu verfolgen und irgendwie doch auch das offizielle Ende noch mitzunehmen.
Die Fahrt war noch deutlich länger, Zeit genug, um beim nächsten längeren Totalstau den ernüchterten Rückblick von Sebastian Baer-Henney zu lesen und zu fragen: Was ist eigentlich mein Fazit, was nehme ich mit?
WAS VON DEN TAGEN ÜBRIG BLEIBT
KIRCHENTAG VON INNEN IST NICHT KIRCHENTAG VON AUSSEN
Bei der Berichterstattung über den Kirchentag dominieren in aller Regel die gesellschaftspolitischen Themen. So auch in diesem Jahr: Spaltenmeter um Spaltenmeter über Obama, von der Leyen und alle anderen wahljahresaktiven Politiker_innen, Käßmanns verkürzt wiedergegebene AfD-Kritik, AfD sowieso und so weiter. Das ist nicht unproblematisch, weil sich so in der Öffentlichkeit der Eindruck festigt, die evangelische Kirche sei vor allem eine Gesinnungsanstalt. Das entspricht nicht der unglaublichen Breite an Angeboten, die tatsächlich so ziemlich jede Facette evangelischen Lebens abzubilden vermag. Es lässt sich kaum vermeiden, weil eben mit berühmten Gesichtern bessere Schlagzeilen zu machen sind. Es ist aber trotzdem schade, wenn der aufwändig gestaltete Abschlussgottesdienst diesen Eindruck verstärkt. Bei aller Vorsicht angesichts des nicht-vor-Ort-gewesen-Seins: Die Predigt des südafrikanischen Bischofs Thabo Makgoba war aus homiletischer Sicht streckenweise eine Enttäuschung. So gut die Idee, jemanden aus der weltweiten lutherischen Ökumene einzuladen, so spannend die afrikanische Perspektive auf die Geschichte von Hagar, so faszinierend die Performance - am Ende bleiben Appelle hängen, die zwar engagiert vorgetragen wurden, deren Nachhaltigkeit aber noch zu beweisen ist.
Aber, wie gesagt: Kirchentag von innen ist nicht Kirchentag von außen. Das macht mich vorsichtig beim Urteilen über Programmpunkte, die ich gar nicht oder nur durch externe Berichterstattung vermittelt erlebt habe. Und mir bleiben neben den vielen Begegnungen auch die gottesdienstlichen Momente im Gedächtnis, die Abendsegen nach den Veranstaltungen: Ich wurde gesegnet und durfte segnen, mit Lieblingsmenschen im Arm und Tränen in den Augen Der Mond ist aufgegangen und Der Lärm verebbt singen, mit vielen anderen zusammen beten und Gottesdienst feiern in Formen und zu Tageszeiten, die mir näher liegen als mancher Sonntagsgottesdienst.
PERSONENKULT
Im Vorfeld wurde mehrfach und zu Recht eine einseitige Reduzierung des Reformationsjubiläums auf die Person Martin Luthers kritisiert. Auf dem Kirchentag habe ich das sehr anders wahrgenommen, in Berlin waren wenige bis gar keine Luthersocken, -enten und andere Devotionalien zu sehen. Trotzdem bleibt (oder entsteht) nach vielen Gesprächen, Artikel- und Tweetslesen der Eindruck, dass wir nicht ohne Held_innen können. Für die Einen ist es Obama, für die Anderen Fulbert Steffensky. In meiner Filterbubble vor allen anderen Nadia Bolz-Weber. Was das für die Kirche der Reformation, für unser Gedenken und Handeln bedeutet, müsste noch mal diskutiert werden.
DIE DA DRAUSSEN...
"Was ich in den vergangenen Tagen erlebt habe, war Binnenkirche. Es waren viele Menschen unterwegs, die sich flotte Ideen für ihre Kirche angesehen haben – dabei aber in ihrer Welt dermaßen gefangen sind, dass sie nicht wahrnehmen, dass die Menschen von außen das Allermeiste davon nicht interessiert. [...]
Diese Art von Kirche nimmt so viel Raum ein. Hunderttausend Menschen zelebrieren sie und sehen dabei gar nicht, wie viele andere sie damit ausschließen. Es ist ein Missverhältnis, dass diese Binnenkirchlichkeit uns so unverhältnismäßig viel beschäftigt. Unsere theologisch korrekten Antworten, unsere politisch korrekten Aussagen – all das ist richtig. Aber all das erstickt uns. Betäubt von dem Glauben, dass die, die nicht kommen, ein Problem haben, dass doch alles so gut und makellos ist, was wir machen, fehlt uns der Zugang zu denen da draußen. Wir rudern und rudern, wollen uns nicht angreifbar machen, gelähmt von der Angst, politisch inkorrekt oder oberflächlich zu werden. Und ertrinken in einem Strom binnenkirchlicher Leitkultur."
So fasst Sebastian Baer-Henney im oben erwähnten Blogpost seine Kirchentagserfahrung zusammen. Ich bin geneigt, ihm zuzustimmen, auch, wenn mir weniger zum Heulen ist, weil ich in meinem Gemeindealltag sehr binnenkirchlich unterwegs bin und glaube (oder glauben möchte), dass diejenigen, die gestärkt vom Kirchentag zurückkehren, in ihren Kontexten vor Ort mit neuer Energie wirken können. Trotzdem bleibt ein schales Gefühl, weil so viele Programmpunkte auf dem Kirchentag geschlossene Veranstaltungen sind - und zwar nicht nur milieumäßig: Zutritt zu den Veranstaltungsräumen haben nur diejenigen, die eine Eintrittskarte besitzen. Das war für einige Freunde von mir ärgerlich, weil sie vorbeikommen wollten, das aber nicht konnten. Mir ist vollkommen klar, dass der Kirchentag irgendwie finanziert werden muss. Mir ist auch klar, dass es Abendkarten gibt - die sind aber sehr schwer zu bekommen: Wer sich nicht vorher mit einem recht aufwändigen Prozedere anmeldet, hatte in Berlin nur an ausgewählten Vorverkaufsstellen die Chance, eine Abendkarte zu erwerben. Mit Abendkassen wäre das Problem zu lösen - und, ja, mir ist auch klar, was das an organisatorischem Mehraufwand bedeuten würde. Aber es ist doch schade, wenn die gastgebende Stadt weitestgehend bloße Kulisse bleibt und die Menschen dort den Eindruck haben, dass, wer mit Gott unterwegs sein will, einen orangefarbenen Schal braucht.
Ich wünsche mir, dass wir in Dortmund mehr wagen. Dass im Nachgang dieses Kirchentages Wege gefunden werden, das Engagement der vielen, vielen Leute zu würdigen und gleichzeitig offen zu fragen, ob die Idee eines "Kirchentages auf dem Weg" und eines Abschlussgottesdienstes in Wittenberg so gut war. Dass wenigstens ein Preacher Slam nicht in einer Kirche mit Pfadfindertürstehern, sondern irgendwo an einer öffentlich zugänglichen Speakers' Corner stattfindet, ohne Kulleraugen und sonstige Banner, ohne anstrengende Anmoderation. Dass wir uns der Stadt aussetzen, nicht die Stadt uns. Ich freu mich drauf! #dnkgtt
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