Liebe
Gemeinde,
„Nicht
ins Tiefe“, schärfen wir unseren badenden Kindern ein, wenn sie noch nicht so
gut schwimmen können, nicht zu weit weg vom Ufer, nicht dahin, wo die Füße
nicht mehr den Boden berühren. Zur Urlaubszeit wird immer wieder vor dem
Schwimmen in unbekannten Gewässern gewarnt, wo man die Strömungen unter der
Oberfläche und mögliche Untiefen nicht einschätzen kann.
(c) A. Dreher / pixelio.de |
Rund 65% der Erdoberfläche gehören
zur so genannten „Tiefsee“, also die Abgründe im Meer, in denen es bis zu
10.000 Metern tief hinunter geht. Dort herrscht nahezu vollständige Dunkelheit,
die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt und dem Druck der Wassermassen kann
kein Mensch standhalten. Rund 1% dieser Tiefsee ist erforscht, selbst über die
Rückseite des Mondes wissen wir mehr. Wir wissen, dass es da unten Leben gibt.
Bizarres, seltsames Leben, vielleicht
kennen sie Bilder von Tiefseefischen, die mit riesigen Mäulern und
Zähnen wie die Seeungeheuer aus alten Seefahrergeschichten aussehen.
Der
Volksmund raunt: „Stille Wasser sind tief“, und meint damit, dass sich unter
der Oberfläche so mancher stiller Zeitgenossen Ungeahntes abspielt, schlafende
Hunde, die man besser nicht weckt.
Die
Tiefe ist also nicht ungefährlich, Ungeahntes kann hier zu Tage treten –
vielleicht spielt sie deswegen im heutigen Predigttext eine Rolle. Hören sie
selbst die bekannte Geschichte vom „Fischzug des Petrus“ aus Lukas 5:
Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. Da stieg er in eins der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so daß sie fast sanken. Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken hatte ihn erfaßt und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen (lebendig) fangen. Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.
Wir befinden uns noch am Rand des Sees, relativ am Anfang des
Evangeliums – und doch hat Jesus aus Nazareth schon von sich reden gemacht.
Eine Volksmenge drängt sich um ihn, Menschenmassen, die ihn hören wollen. So
viele, dass er sich Platz schaffen muss; er geht zu den Fischern, die am Rand
des Sees ihre Netze waschen und lässt sich von ihnen wie eine schwimmende Bühne
bereitstellen: Er bat sie, ein wenig vom Ufer wegzufahren. Da steht er dann und
redet, und die Menge hört staunend zu. Das kennen wir: Religiöse Großevents haben Hochkonjunktur, und sicherlich kann man sich fragen, wie tief derartige Massenveranstaltungen überhaupt gehen können.
Vielleicht
kann das nur entscheiden, wer dabei gewesen ist. Unser Bibeltext schweigt sich
darüber aus, die Volksmenge verschwindet irgendwann aus dem Bild an den Rand.
Jesus hat fertig gelehrt. Nun kommt eine Einzelbegegnung inmitten des Trubels
in den Blick, eine Begegnung zwischen Jesus und Petrus, in dessen Boot er
sitzt:
Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon:
Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!
Fahre
hinaus, wo es tief ist. Fahre hinaus, weg vom Ufer und seinen seichten
Gewässern. Fahr dorthin, wo Du den Boden unter den Füßen verlierst, wo Du
keinen Grund siehst, wo Du nicht weißt, was sich unter der Oberfläche abspielt.
Und werft eure Netze dort zum Fang aus.
Und mit der
Antwort von Petrus sind wir schon in tieferen Gewässern unterwegs:
Meister, wir haben die ganze
Nacht gearbeitet und nichts gefangen
Hier
schwankt der Schiffsboden schon ganz gewaltig, hier sind wir nahe am Abgrund:
Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Was dem
Freizeitangler die Urlaubsstimmung vermiest, vielleicht kennen Sie das ja aus
der Familie, bedeutet im professionellen Fischfang eine mittlere Katastrophe –
auch heute noch: Die ganze Nacht gearbeitet, Zeit, Geld und Arbeitskraft
investiert – und der erhoffte Fang bleibt aus, das überlebensnotwendige
Tagesgeschäft ist bedroht. Heute werden keine Fische verkauft, heute kommt kein
Geld rein, heute werden die Familien unter Umständen hungrig ins Bett gehen.
Hier
sind wir auf dem Weg in die Tiefe, denn das Eingeständnis ist kein leichtes: Es
war alles umsonst. Alle Mühen, alle Arbeit – es hat nichts genützt. Vor einigen Wochen standen in NRW die Abiturprüfungen an. Es wird manche Schülerin und
manchen Schüler gegeben haben, der mit genau diesem Gefühl nach Hause gegangen
ist – und mit der Angst, genau diesen Satz zu sagen: Nächtelang gearbeitet, und
es hat nichts genützt.
Aber
Petrus redet weiter. Und seine Reaktion ist doch eher unerwartet:
auf dein Wort will ich die
Netze auswerfen
Wir
wissen nicht, was sich auf diesem Boot zwischen Jesus und Petrus abgespielt
hat, das Petrus, den erfahrenen Fischer, dazu veranlasst hat, sich von einer
Landratte aus Nazareth Tipps geben zu lassen. Noch dazu eigentlich völlig
unsinnige, denn mitten am Tag fährt in Galiläa kein Fischer, der was auf sich
hält, raus. Vielleicht hatte dieser Jesus ein besonderes Charisma. Vielleicht hatte
Petrus einfach nichts zu verlieren. Vielleicht liegt es auch daran, dass Jesus
selbst mit im Boot sitzt. Dass er nicht einfach dabei steht und vom Ufer aus
gute Ratschläge zuwirft, sondern selbst auf den Wellen auf und ab schaukelt und
Petrus auf dem Weg ins Tiefe begleitet.
Liebe
Gemeinde, lassen wir auf dem Weg ins Tiefe hier das Ruder mal einen Moment
ruhen, setzen kurz den Anker und bleiben bei diesem Gedanken. Denn ich glaube,
hier blitzt der Grundgedanke des biblischen Gottesbildes auf: Er sitzt mit im
Boot. Davon weiß das jüdische Volk Geschichten zu erzählen: Gott ist mit ihnen,
er zieht mit ihnen durch turmhohe Meeresfluten und brennend heißen Wüstensand.
Vorhin haben wir uns Worte aus dem Jonapsalm geliehen, aus dem verzweifelten
Hoffnungsgesang, den der in die Irre gegangene Prophet im Bauch des Fisches
anstimmt, in dem er erkennt, dass er auch als Ertrinkender, dem die Luft
ausgeht, dem sich das Schilf wie eine Schlinge um den Hals legt, nicht
dauerhaft von Gott getrennt ist. In Jesus Christus hat Gott seine Sympathie für
uns, sein (wörtlich übersetzt) Mit-Leiden auf die Spitze getrieben, auf die
Spitze des Schädelberges namens Golgatha, um von dort aus in die tiefsten
Tiefen von Tod und Gottverlassenheit hinabzustürzen.
Jesus
sitzt mit im Boot. Das gibt Petrus den Mut, ins Tiefe zu gehen. Das ist doch
auch das, was uns im Leben den Mut gibt, in die Tiefe zu gehen, uns unseren
eigenen Abgründen und den heiklen Fragen zuzuwenden: Nicht der gut gemeinte
Ratschlag, das aufmunternde Zurufen vom Ufer aus, sondern die Hand auf der
Schulter von einem, der mit im Boot sitzt.
Für Petrus zahlt sich der Weg ins Tiefe aus, auch, wenn er alles andere als stress- und risikofrei ist.
Erstens:
Wer in die Tiefe geht, kann einen großen Fang machen, größer als an der
Oberfläche, wo sie alle, Sport- und Freizeitfischer und Gelegenheitsangler,
ihre Ruten und Netzte ins Wasser halten. Weil sich manche Fische in die Tiefe
zurückziehen. Und weil das Flachwasser und die Oberfläche abgefischt sind.
Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge
Fische, und ihre Netze begannen zu reißen,
so der Text.
Wer in die Tiefe geht, der wird etwas hochholen. Das kann etwas so Gewaltiges sein, dass es
die eigenen Kräfte fast übersteigt. Petrus erkennt dieses Risiko und ruft die
anderen Fischer zu Hilfe. Das ist die zweite Einsicht dieses Weges ins Tiefe,
dieses Fischens am Grund: Ich schaffe es nicht allein:
Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot
waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide
Boote voll, so daß sie fast sanken.
Petrus
sieht, dass er Hilfe braucht – und spricht es aus. Auch das nicht ganz einfach,
auch für uns nicht. Und er macht die wunderbare Erfahrung, dass er nicht allein
ist. Mit Jesus im Boot stellen sich ihm andere an die Seite, um mit vereinten
Kräften gemeinsam den Fang in der Tiefe an Land zu bringen, zu sichern und zu
verarbeiten. Auch das ist nicht ohne Dramatik, der Fang ist so gewaltig, dass
die Boote fast sinken – und wer andere dabei begleitet, wenn es ins Tiefe geht,
der wird erleben, dass man da auch an die Grenzen der eigenen Kraft gehen kann.
Das geht den ehrenamtlichen Mitarbeitenden im Hospiz nicht anders als dem
Freund oder der Freundin, die bis in die Nacht mit am Küchentisch sitzt, Tränen
trocknet und Schweigen erträgt.
Und drittens
lernt Petrus etwas über sich selbst, denn der Weg in die Tiefe bleibt
ambivalent. In dramatischer Sprache fährt der biblische Text fort:
Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und
sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken
hatte ihn erfaßt und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie
miteinander getan hatten.
(c) Lara Dengs / pixelio.de |
Wer in
tiefen Gewässern fischt, holt nicht nur die dicksten glänzenden Speisefische
nach oben, sondern wirbelt vielleicht auch den Schlamm auf dem Grund des Sees
auf – und stößt auf so manch versunkene Überreste, stinkende Fischkadaver oder
rätselhafte, erschreckende Tiefseebewohner. Erkenntnisse über sich selbst, die
nicht ohne Grund im Schlamm auf dem Grund des Sees verschüttet waren,
Einsichten und Erinnerungen, die schwer zu tragen sind. Petrus zwingt es in die
Knie, er sagt zu dem, der ihn in die Tiefe begleitet hat: Geh weg von mir. Ich
bin ein sündiger Mensch. Da unten lauern Dinge, die so fundamental falsch
gelaufen sind. Dinge, die ich getan habe oder die mir passiert sind, die andere
mir getan haben, die so schäbig sind, dass ich mich vor mir selber ekele.
Wir wissen
nicht, was Petrus gesehen hat, als er sich im tiefen Wasser gespiegelt hat. Wir
wissen nicht, welche versunkenen Erfahrungen an die Oberfläche gekommen sind.
Was sieht Petrus in der Tiefe? Was sehen wir, wenn wir uns selbst auf den Grund
gehen?
Es ist
bezeichnend, dass die Bibel die Intimität dieser Begegnung schützt. Lukas berichtet
nur von der Reaktion Jesu – und vielleicht ist das das eigentlich Wundersame,
das Unerwartete, das Heilvolle und das Rettende in dieser Geschichte, viel mehr
als der wundersame Fischfang: Jesus wendet sich nicht ab. Er bleibt im Boot.
Fürchte dich nicht, sagt er. Ich weiß, was Du gesehen hast. Ich weiß, wer Du ist. Aber ich
bleibe bei dir. Mehr noch: Von nun an
sollst Du Menschen fangen, die Übersetzung ist hier etwas missverständlich,
man kann auch lesen: Von nun an sollst Du Menschen das Leben schenken, für das
Leben in den Bann ziehen, zu neuem Leben verhelfen. Jetzt kann Petrus das, weil
er sich mit Jesus an der Hand ins Tiefe gewagt hat, sich selbst auf den Grund
gegangen ist und die Erfahrung gemacht hat, dass dieser sich nicht abwendet.
Diese
Begegnung verändert sein ganzes Leben. Und
sie brachten die Boote an Land, verließen alles und folgten ihm nach.
Man kann
nicht ewig in der Tiefe bleiben. Es geht wieder zurück an Land, zurück auf
festen Boden – und doch ist nichts, wie es war.
Das ist das
Verheißungsvolle an diesem Text, an diesem Tiefgang.
Fahr hinaus,
dorthin, wo es tief ist. Trau dich weg vom Ufer und seinen seichten Gewässern,
weg von der Oberfläche, von den Menschenmassen mit ihren Erwartungen. Fahr
hinaus, dorthin, wo es tief ist. Und fürchte dich nicht, denn, so spricht
Christus: Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis ans Ende der Welt.
Amen.
(c) Lichtkunst.73 / pixelio.de |
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