Vla, hagelslag, stroopwaffels, Marco van
Basten, klompen – in den Niederlanden gibt es vieles, das es anderswo
selten bis gar nicht gibt. Unter anderem, wenn man auf die Kirchengeschichte
der letzten Jahrzehnte guckt, ein klares Krisenbewusstsein und eine entwaffnend
optimistische Art, damit umzugehen. Deswegen fand Anfang Juli ein vom
westfälischen Amt für missionarische Dienste organisiertes Pfarrkolleg in den
Niederlanden statt, bei dem Kolleginnen und Kollegen aus EKiR und EKvW
Inspiration und eine Antwort auf eine Frage suchten, die sich vielleicht auch
in Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft stellen könnte wird:
Was passiert eigentlich, wenn alle Möglichkeiten, sich über Relevanz
und Zukunftsfähigkeit der eigenen Volkskirche Illusionen zu machen, erschöpft
sind?
Vor dieser Frage stand, bzw. steht seit einigen Jahren die Protestantse
Kerk in Nederland (PKN). Nachdem 2004 ein langer und schwieriger, unter dem
Motto Samen op weg (gemeinsam unterwegs) unternommener Fusionsprozess der drei größten evangelischen
Konfessionen (hervormd, gereformeerd und luthers- Wikipedia
weiß mehr) zum Ende gekommen war, stellte man bald darauf fest: Ups. Die
Mitgliedszahlen sinken rapide, Kirchen stehen leer und werden veräußert (einen
Einblick in die Praxis bietet ein NRZ-Artikel über eine
auf Kirchengebäude spezialisierte Immobilienfirma), etwa eine Millionen
Niederländer, oft mit einem ethnischen Hintergrund auf einer der ehemaligen
Überseekolonien, sind in sog. Migrantenkirchen organisiert, mit denen es wenige
bis gar keine Kontakte gibt.
Den daraufhin eingeleiteten Umdenk- und
Umprofilierungsprozess beschrieb Dr. Arjan Plaisier, Mitglied der
niederländischen Kirchenleitung, mit der von ihm wesentlich mitverfassten (und
mit 47 Miniseiten erfreulich kurzen) Handreichung
Leben aus der Kraft Gottes (De hartslag van het leven). Am Anfang stand
und steht das ernüchternde Bewusstsein, zu einer „schweigenden Kirche ohne
Zukunft“ geworden zu sein. Dies führte zunächst zu einer Rückbesinnung auf die
Frage, was ‚Kirche‘ eigentlich ist. Die Handreichung gibt eine ebenso simple
wie zu manchen sonstigen Äußerungen großer Volkskirchen quer stehende Antwort:
Es ist ein besonderes
Privileg, zu Glauben und zur Kirche zu gehören. […] In der Kirche werden wir in
das Leben mit Gott eingeführt. Die Kirche ist mehr als nur ein Zusammenschluss
von Menschen. Sie existiert durch die Gnade Christi. Er lebt und gibt Leben.
Jesus ist keine unbestimmte Idee „von früher“, sondern eine Wirklichkeit hier
und jetzt. Wo zwei oder drei in Seinem Namen zusammen kommen, da ist Er mitten
unter ihnen. Da ist Kirche. […] Es gab eine Zeit, in der man meinte, die Kirche
würde ganz selbstverständlich fortbestehen. Aber diese Zeit ist vorbei. Das
kirchliche Leben ist vielerorts arg zusammengeschrumpft. Das Ende der
Selbstverständlichkeit verunsichert viele Menschen und macht unsicher. Fragen
wir Gemeindeglieder heute, wozu die Kirche dient, bleibt es oft still. Und es
wird oft noch stiller wenn wir fragen: „Was glaubst du?“ […] Was wollen wir mit
diesem Positionspapier erreichen? Das Ziel ist, Mut zum Glauben zu machen und
zu zeigen, dass Kirche auch in dieser Zeit (wieder) Sinn macht. Wir denken
dabei nicht an irgendwelche Tricks oder spektakuläre Neuerungen. Das würde nur
kurz helfen. Nein, wir wollen zurück zum Kern, zum Ursprung: zum Herrn der
Kirche.
- Leben aus der Kraft Gottes,
7f.
refdag.nl |
Es lohnt sich, das ganze Positionspapier mal durchzulesen.
Die Rückkehr zum Kern und Ursprung bedeutet in der niederländischen Lesart eben
nicht das Festhalten an alten Formen und irgendwie gesicherten Pfründen,
sondern das kreative Ausprobieren neuer Formen, das Evangelium versteh- und
lebbar zu machen. In der Praxis geschieht das, in Anlehnung an die fresh expressions-Initiative der Church of England,
durch die Förderung exemplarischer „Experimentierfelder“ (pioniersplekken),
die durch ein in der PKN eingerichtetes Amt gecoacht und unterstützt werden um „den
Enthusiasten Raum zu bieten“.
In diesem landeskirchlichen Missionswerk arbeitet Nynke
Dijkstra, unsere zweite Referentin am ersten Abend in den Niederlanden. Seit
2008 hat sie zunächst die bestehenden missionarischen Aktivitäten innerhalb der
PKN eruiert – und uns den guten Rat gegeben: „Don’t start with action.“ Nach
einer einjährigen Tour durch 80 Städte war ihr Fazit: Skeptisch sind vor allem
die Pfarrer, die ihre lang eingeübten und liebgewonnenen Rollenvorstellungen
nicht aufgeben wollen und sich vor allem durch soziologisches Handwerkszeug
überzeugen lassen. Weitaus aufgeschlossener seien die Presbyterien und
Kirchenvorstände gewesen, die allerdings ihre eigenen Fähigkeiten, über den
Glauben zu sprechen, als defizitär einschätzten. Zwei Arbeitsschritte schlossen
sich an diese groß angelegte Untersuchung an: Die Zusammenarbeit mit einem soziologischen
Institut (das mit der SINUS-Milieustudie vergleichbare Informationen lieferte)
und der Herstellung von Material, mit dessen Hilfe in den Presbyterien und
Gemeinden die Auskunftsfähigkeit im Blick auf den eigenen Glauben eingeübt
werden kann, darunter ein Buch mit „zehn schwierigen Fragen“ (tien moeilijke
vragen) und, was ich besonders toll fand, ein Übungs-Set mit DVD und
allem Schnickschnack, um in Presbyterien die religiöse Sprachfähigkeit
einzuüben.
Auf institutioneller Ebene ist die gezielte Förderung
innovativer Projekte angesiedelt, die vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie
müssen explizit missionarisch sein, sie müssen eine besondere Zielgruppe, die
bislang nicht im Focus der Gemeindearbeit steht, anvisieren, sie müssen
kontextbezogen sein – und von anderen protestantischen Kirchen in der Umgebung
unterstützt werden. Diese Bedingungen scheinen mir durchaus sinnvoll zu sein,
denn sie minimieren die Versuchung, die zumindest in Deutschland nicht allzu
klein ist, einfach bestehende Gemeindearbeit mit einem neuen Etikett zu
versehen und mit gutem Gefühl alles beim Alten zu belassen. Dass solche
Projekte nicht einfach so aus dem Bestehenden hervorwachsen, wird nicht
verschwiegen: „You need the pioneer type“.
In einer weiteren Runde durch die Niederlande, die demnächst
ansteht, soll es um das Potenzial des Gottesdienstes gehen – also relativ spät
im Rahmen des Projektes, denn, so Nynke Dijkstra: „The Gottesdienst is the last
thing to think about.“ Das überrascht, gilt doch bei uns oft die Innovation des
Gottesdienstes oft als Startpunkt einer Gemeindeerneuerung, etwa durch die
Einführung der mittlerweile vielerorts etablierten „Gottesdienste im zweiten
Programm“. Den Gedanken finde ich spannend und sinnvoll, wenn klar ist, dass es
auch bei den anderen missionarischen Projekten um geistliche Aktivität geht.
Gleichzeitig zeigt sich bei vielen Projekten und in vielen lebendigen Gemeinden
auch in den Niederlanden, dass das nicht der Königsweg sein muss.
Auf die Frage nach den wichtigsten Grundsätzen für
erfolgreiche missionarische Neuorientierung antwortete Dijkstra wie aus der
Pistole geschossen: „Three things: Prayer. Communication. Leadership. – Drei Dinge:
Gebet, Kommunikation, Leitung.“ Sehr eindrücklich erzählte sie von den
Reaktionen, wenn sie in Gemeinden fragt, ob man dort für einen Aufbruch beten
würde – und in der Sitzung vorschlägt, gemeinsam zu beten. Und zwar, und das
machte sie für mich nicht nur sympathisch, sondern auch glaubwürdig, ganz ohne
evangelikales Pathos, weil sie, wie sie sagte, dies auch erst neu einüben
musste. Jedenfalls frage ich mich im Stillen, wie oft wohl in Presbyterien (vom
obligatorischen Vaterunser am Ende jeder Sitzung) gemeinsam gebetet wird und ob
und wie sehr wir glauben, dass das irgendetwas ändern würde.
Am Ende eines langen, gleichermaßen inspirierenden wie
herausfordernden ersten Abends sind mir drei Eindrücke besonders im Gedächtnis
geblieben:
1.
Das ungeschönte
Krisenbewusstsein, ein „sense of urgency“ und das Eingeständnis, mit den über
Jahrzehnte selbstverständlichen und gleichermaßen diffusen Konzepten von „Volkskirche“
an einem Ende angekommen zu sein. Das vermisse ich in Deutschland, wo die
Situation sicherlich weniger prekär als in den Niederlanden ist. Aber es kann
durchaus auch nur eine Frage der Zeit sein, bis auch wir gar keine andere Wahl mehr
haben. Vielleicht sind wir noch nicht so weit – bekanntermaßen ist Leiden ja
einfacher als Verändern. Und vielleicht ist unser Leidensdruck noch nicht groß
genug, vielleicht sind die pseudotheologischen Beschwichtigungsformeln, mit
denen wir unsere Statistiken schön reden, noch zu wolkig und zu mächtig. Vielleicht
kommen wir erst dann an diesen Punkt, wenn die letzte Generation, die noch
durchgehend von kirchlichen Riten und Symbolen begleitet aufgewachsen ist und für
die wir mit den üblichen Gottesdienstzeiten und –formen, Geburtstagsbesuchen,
Gemeindebriefen und diversen Gruppen und Kreisen gefühlte 80% unsere Ressourcen
verwenden, ausgestorben ist.
2.
Die erfrischende Klarheit,
mit der die Vortragenden die Sachlage, ihre Impulse und ihre Inspirationen
schilderten: „Die Kirche ist vielleicht am Ende – aber Gott nicht.“ Das mag an
der Struktur der niederländischen Sprache liegen, das mag auch daran liegen,
dass beide in einer ihnen fremden Sprache referierten – es soll ja auch eine
gute Übung für Predigten sein, weil begrenzte Sprachkompetenz zur Klarheit
nötigt.
3.
Die Rückbesinnung auf das
Wesentliche, auf das, was Kirche im Kern ausmacht. Das würde, zumal in
Deutschland, möglicherweise einen Abschied von vielen liebgewonnenen
Aktivitäten unter den Dächern der Gemeindehäuser bedeuten – bei den
Niederländern standen jedoch nicht die „notwendigen Abschiede“, sondern der Blick
auf das Neue im Vordergrund.
Soweit also die (natürlich schon etwas verdauten und
zusammengefassten) Eindrücke vom ersten Abend. Wie all das in der Praxis
aussehen kann, welche Eindrücke sich bei unseren Besuchen in niederländischen
Gemeinden bestätigt haben und welche Fragen dort neu aufgebrochen sind – morgen
gibt es hier mehr dazu!
Rustikales Wohnen in Amerongen...
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