Mittwoch, 11. November 2015

Näher ran! | Mehr analoge Exerzitien.

Wer ab und an hier liest, weiß, dass ich seit etwa einem halben Jahr stolzer Besitzer einer analogen Spiegelreflexkamera bin und darüber das Fotografieren angefangen habe. Seitdem schlage ich mich mit ISO-Zahlenreihen, Objektiven, Brennweiten und Ähnlichem herum, habe eigentlich viel Spaß. Und lerne viel. Zum Beispiel, dass ich nicht der Typ bin, der sich mit Stativ und Thermoskanne in malerische Landschaften setzt und mit langen Belichtungszeiten monumental-zauberhafte Panoramen verewigt. Oder der mit Makrolinse die Schönheit eines Schneckenfühlers zum Leuchten bringt. Was bleibt, ist (erstmal) die Straßenfotografie. 



Dazu gibt es eine Reihe von Ratgebern in digitaler und analoger Form. Beim ersten Lesen eine Enttäuschung: "Lassen Sie Ihr Teleobjektiv zuhause", sagen sie übereinstimmend. "Nähe lässt sich nicht vortäuschen." "Gehen Sie näher ran." Oha. Zum Glück folgen solchen Aufforderungen meist ein paar Aufwärmübungen, Tipps und Tricks im Umgang mit Menschen, denen man buchstäblich im Vorbeigehen begegnet. Nicht alle sind dabei so ermutigend, wie sie wahrscheinlich wirken sollen ("Ich habe fast nie schlechte Erfahrungen gemacht... bis auf das eine Mal, wo mich in Buenos Aires ein Boxer zusammenschlagen wollte..." oder ähnliches). Aber andere sind klug und sinnvoll, sogar sehr pädagogisch aufbereitet - und ich ahne, dass sie auf mehr Bereiche als nur das Fotografieren zu übertragen sind, etwa die von Eric Kim:

GEHEN SIE NÄHER RAN /// ZEIGEN SIE RESPEKT /// BITTEN SIE UM ERLAUBNIS (ERSTMAL). /// IGNORIEREN SIE DIE, DIE SIE FÜR VÖLLIG VERRÜCKT ERKLÄREN. /// MACHEN SIE SICH VORHER GEDANKEN ÜBER ANTWORTEN


Und noch so einiges mehr. Und mich mache mich auf, mal wieder Richtung Mülheim, genauer gesagt auf die Keupstraße. "Klein-Istanbul", wie manche sagen, für mich ist es die Straße, von der ich einen Steinwurf weit weg aufgewachsen bin und wo ich bis heute hinfahre, wenn ich anständige Wassermelonen kaufen will. Früher gab es hier auch noch Kokoreç, aber die Zeit scheint vorbei. Außerdem habe ich hier vor über zehn Jahren mein erstes eigenes Backgammon gekauft erspielt! bei einer Tasse Tee mit dem gemütlichen Ladenbesitzer. Und gutmenschig-abendlandsvergessen, wie ich bin, hoffe ich hier auf ein bisschen bunteres Leben (bei s/w-Fotos gar nicht so unwichtig). Hadi, gidelim...



Stehen und warten.

"Auf keinen Fall irgendwas, das anfängt mit: 'Ich warte auf den Bus'", wurde mir eingeschärft, als ich anfing, Radioandachten zu schreiben. Beim Fotografieren bleibt manchmal nichts anderes übrig, also stelle ich mich dezent an eine Friedhofsmauer, warte und versuche mir vorzustellen, was von dem, was ich da sehe, fotografierenswert wäre. Es dauert eine Zeit, aber irgendwann merke ich: Ich bin jetzt da. Ganz da, an dieser Straßenecke, bleibe mit den Gedanken in Sichtweite - und es wird immer schwieriger, mich für ein Motiv zu entscheiden, für eine Geschichte, die ich erzählen will. Denn es sind so viele! Da ist die alte Frau mit dem Einkaufswagen. Ich frage mich, was sie wohl eingekauft hat, ob sie für sich allein kocht, ob sie das überhaupt kann oder ob sie immer noch in Großfamilienportionen denkt und fühlt und schmeckt und kocht. Da ist der Kioskbesitzer, der mit einer Hingabe, wie ich sie nur bei Kopistenmönchen vorstelle, Getränkedosen in seiner Auslage drapiert. Alle mit dem Etikett nach vorn, Cola, Fanta, Sprite, Uludag, Reissdorf. Immer wieder dreht er eine um ein paar Grad, geht wieder raus und beäugt sein Werk, rennt wieder rein, tauscht zwei Dosen, kontrolliert das Ergebnis. Und lächelt. Die Welt ist voller Geschichten, "überall ist Wunderland", sagt Eric Kim, und ich traue mich noch viel weniger als vorher, irgendwelche Fotos zu machen - weil ich den Geschichten gerecht werden möchte. Und ihren Hauptfiguren.



Heimlich?

Ein Tipp aus meinem Street-Photography-Ratgeber, der mir mehr und mehr wie ein Exerzitienbuch vorkommt, lautet: "Tun Sie so, als würden Sie irgendetwas anderes fotografieren." Ich probiere es ein paar Mal - und es gelingt mir nicht. Weil ich analog fotografiere, merke ich das natürlich auch erst ein-zwei Wochen später. Aber auch dann trägt die Einsicht: Heimlich ist scheiße. Wie im Gottesdienst auch: Man kann eh nichts verstecken, also sollte man es möglichst gleich offen machen. Und wie sonst im Leben eigentlich auch. Die Bilder werden schlecht, verwackelt (and not in a good way), nichtssagend, leer, irgendwie, und flach. Trotz Tiefenschärfe und Festbrennweite und so. 


Ansprechend.

"Sprechen Sie Leute an, fragen Sie, ob Sie sie fotografieren können", so geht eine Aufwärmübung (hust) im Fotografierratgeber. Einen Teufel werde ich tun, denke ich. Wer weiß, wie die Leute reagieren. Wer weiß, was die dann für Fotos sehen wollen. Und ich kann sie noch nicht einmal zeigen. Also versuche ich weiter, mich möglichst unauffällig zu verhalten, heimlich unterwegs zu sein, eins mit dem Ort zu werden (auch so ein Tipp), mit der Menge zu verschmelzen... "Eeeey, fotografierst Du uns?!?!" röhrt es mir plötzlich entgegen, und mir bleibt fast das Herz stehen. "Äh, nein", rufe ich instinktiv in die Richtung, aus der das Rufen kam und aus der mir jetzt ein Vater mit seinem Sohn entgegen kommen. Kacke. "Nee, keine Angst", sage ich wieder beschwichtigend. "Warum nicht?!" fragt der Vater, fast ungehalten, "wir sind doch gut!" Und eigentlich hat er recht. Also wird eine kleine Fotosession eingelegt, mit der Exklusiverlaubnis traue ich mich,  näher ranzugehen. Ein bisschen gestellt wirkt es schon, aber wenn ich mir die Fotos angucke, sehe ich dahinter Geschichten. Vielleicht auch nur, weil ich sie kenne. Ich weiß, warum der Junge sein Trabzonspor-Trikot trägt, obwohl es zerrissen und ein bisschen zu klein ist. Ich weiß, was sie gerade in Köln machen, wo sie eigentlich irgendwo im Mittelfränkischen wohnen. Und ich weiß vor allem, wie tierisch stolz der Vater auf seinen Sohn ist. 

Nein, hier kommen jetzt keine Fotos, weil ich natürlich keine schriftliche und juristisch wasserdichte Erlaubnis habe, die Bilder, die mehr Portraits sind, zu veröffentlichen. Mit den Horden von Abmahnanwälten da draußen, die raubvogelgleich ihre Kreise ziehen, ist mir das zu haarig. Nächstes Mal. Vielleicht. 

Die beiden bleiben nicht die einzigen, die mir buchstäblich und in vollem Bewusstsein vor die Linse laufen, bei weitem nicht. Ganz ehrlich: Das hätte ich nicht gedacht. Denn, postmoderne Zeigewut hin oder her - sich von jemandem auf der Straße fotografieren zu lassen, ist etwas anderes als ein Selfie, denn es beinhaltet Kontrollverlust, und es heißt auch, den Blick von außen zuzulassen. Auch nach längerem Nachdenken ist mir nicht klar, was es für sie bedeutet, das Fotografiertwerden. Aber nach längerem Nachdenken ist mir immerhin aufgefallen, dass ich sie das ja auch einfach hätte fragen können. 

Dönüşte / bugün, dört ay sonra.

Auf dem Nachhauseweg rumort es in mir. Die Geschichten klingen nach, die Leute, die ich getroffen habe, die Erfahrungen mit dem missglückten Heimlichsein. Vor allem aber wird mir eins bewusst, und das nagt auch ein paar Monate später noch: Seit drei Jahren bin ich Pfarrer. Vorher war ich Vikar. Ich bin in diesen fünf Jahren nie (lies: überhaupt! kein! einziges! Mal!) in einer Situation gewesen, in der ich von Berufs wegen ungeschützt auf mir fremde Menschen hätte zugehen müssen, mir von ihnen eine Erlaubnis abgeholt oder ihnen einfach gesagt hätte: Ich möchte etwas von dir. Mit dir. Vielleicht auch für dich.
Selbst bei Angeboten oder Tätigkeiten, die sich durch vermeintliche Niederschwelligkeit auszeichnen sollten, ging es im Kern immer nur darum, dass die Leute schon von sich aus irgendwie kommen würden. Und ich frage mich, ob ein Großteil von dem, was wir so von "Offenheit", "Niederschwelligkeit" und dergleichen erzählen, in Wahrheit ganz, ganz großer Bullshit ist...

A propos #Mülheim: Da gibt es auch ein Kirchenprojekt, dass das mit der "Geh"-Struktur tatsächlich macht - die beymeister sind einer der ersten Versuche in Deutschland, fresh expressions zu gestalten. Hingucken lohnt sich, unterstützen auch!