Dienstag, 26. Dezember 2017

Du kleine Stadt... | Predigt in der Christvesper über Mi 5

I. COMING HOME FOR CHRISTMAS 


Kurz vor Weihnachten: Autobahnen zu und Züge überfüllt.
Weihnachten geht es nach Hause.
Söhne und Töchter, die irgendwo in der weiten Welt studieren,
packen ihre Sachen zusammen und fahren ins Elternhaus.
Manche freuen sich darauf.
Auf vertraute Gerüche, 
auf das Lieblingsessen von früher, 
auf das Wiedersehen mit Freunden 
an diesem alljährlich felsenfest stehenden Kneipenabend. 
Andere freuen sich, wenn der Heimaturlaub wieder vorbei ist. 
Sind rausgewachsen. 
Aus dem Bett in ihrem ehemaligen Zimmer, 
aus den Tagesabläufen der Eltern, 
aus den Diskussionen, ob es denn – Vegetarier hin oder her – 
zu Weihnachten nicht doch ein Stückchen Gans sein darf. 



Kurz vor der ersten Weihnacht waren die Straßen auch zu und die Herbergen überfüllt. 
Vor der ersten Weihnacht ging es nach Hause. 
Aus anderen Gründen damals als heute 
- Es begab sich aber zu der Zeit, 
dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, 
dass alle Welt geschätzt würde. 
Und jeder ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. - 
aber vielleicht mit ganz ähnlichen Gedanken und Gefühlen. 

Für viele, die heute hier sind, heißt Weihnachten: Zurück nach Wuppertal. 
Für Maria und Josef hieß es: Zurück nach Bethlehem. 

 II. DU KLEINE STADT… 


O Bethlehem, du kleine Stadt, Dorf neben anderen Dörfern, im Bergland am Rande der Wüste. Ein paar Häuser, eine kleinere Synagoge, überall Zisternen, weil die Stadt noch nicht an die antike Wasserversorgung angeschlossen ist. Die Menschen in Bethlehem leben vom Ackerbau und von ihren Olivenbäumen, aber nicht von dem kleinen Goldrand der Stadtgeschichte: Aus Bethlehem stammt immerhin der legendäre König David. Aber das ist lange her. 

O Wuppertal, du kleine Stadt. Stadt neben anderen Städten, im Bergischen zwischen Rheinland und Westfalen. Es gibt, immerhin, eine Universität, ein Opern- und Schauspielhaus, die Schwebebahn, einen Bahnhof, der gerade aufgehübscht wird, und viele Staus, wenn die Stadt durch Baumaßnahmen auf der B7 oder der A46 wieder einmal so gut wie abgeschnitten ist. Die Menschen leben in Wuppertal leben gut oder schlecht von ihrer Arbeit, von Sozialhilfe oder von Luft und Liebe, aber nicht von den kleinen Goldrändern der Stadtgeschichte: Immerhin war hier eine der ersten Industrieregionen Deutschlands, immerhin gab es immer wieder Prominenz von Friedrich Engels über Johannes Rau bis Pina Bausch, immerhin wurde hier die Barmer Theologische Erklärung verfasst. Aber das ist lange her. 



 III. GOTT FÄNGT KLEIN AN – UND MACHT’S WIE IMMER 


Von Bethlehem hat damals niemand Großes erwartet. Von David auch nicht. Als jüngster von acht Söhnen bleibt ihm das Schafehüten, alle interessanten Tätigkeiten von den älteren, stärkeren Brüdern schon weggeschnappt, so wie wahrscheinlich auch die potenziellen Heiratskandidatinnen. Und trotzdem fällt die Wahl zum König nicht auf die ungleich hochglanzmagazingeeigneteren Brüder, sondern auf David. Die damals noch viel kleinere Stadt Bethlehem erlebt ihr Aschenputtelmärchen, bei dem Gott nicht zum ersten Mal zeigt, wie er so tickt: Der Mensch sieht, was vor Augen ist – Gott aber sieht das Herz an. Und unter diesem Blick Gottes wird das Kleine groß, das Unbedeutende wichtig, und das Vernachlässigte rückt vor in die erste Reihe. Die Letzten werden die ersten sein. Der Jüngste wird König und dereinst einen Riesen mit einer Steinschleuder besiegen. 

An Weihnachten kehrt Gott auch zurück. Nach Bethlehem, und zu sich selbst. Fängt klein an, ganz klein, unscheinbar und verletzlich. Und legt in diesem bescheidenen Anfang der Welt eine neue Zukunft in die Wiege. Vertraut diesen Anfang einer jungen Frau an, die vom Leben noch nicht viel gesehen hat, und einem jungen Mann, der am Liebsten das Weite suchen würde. Lässt sich bestaunen von Hirten mit speckiger Kleidung, schlechtem Ruf und grober Sprache. 
Und so sitzen heute hinter den Wuppertaler Fenstern junge Frauen und Männer in zerbrechlichen Beziehungen, gehen auf Wuppertaler Straßen Menschen, denen man nicht im Dunkeln begegnen will, und wissen vielleicht selbst nicht: Auch sie können es sein. Zeugen von Gottes Wundern und Träger seines Friedens und Geburtshelfer der Weihnachtsbotschaft. 

 IV. JERUSALEM UND BERLIN 


Der Erste, dem so ein Bild vorschwebte, war der Prophet Micha. Einer, den Gott in seine Richtung blicken ließ. In einer Zeit, in der große Teile seines Volkes im Exil waren, träumte er davon, dass sie nach Hause zurückkehren. Dass das Kriegführen verlernt und Waffen zu Werkzeugen umgeschmiedet würden. Dass Friede sei. Und dass dieser Friede von Bethlehem ausgehen würde. Weil er von der Hauptstadt Jerusalem nichts mehr erwartete, von ihren korrupten Beamten, ihrer schwerfälligen Politik und ihrem ausgebluteten Königshaus. So, wie heute in Wuppertal und anderswo Menschen von der Tagespolitik in Berlin oder Düsseldorf nichts mehr erwarten und sich entweder zurückziehen oder denen ihre Stimme geben, die am Lautesten schreien. Aber Micha war, bei aller beißenden Kritik an den Machthabenden, kein Wutbürger. Weil er ahnte: Wirklicher, dauerhafter Frieden wird nicht dadurch kommen, dass die Einen sich gegen die Anderen durchsetzen. Nicht dadurch, dass man ihn absichert und umzäunt. Der Friede von Bethlehem wird gewagt, gesucht – und empfangen. 

V. FRIEDE GABST DU SCHON, FRIEDEN MUSS NOCH WERDEN 


Wenn man heute in Bethlehem unterwegs ist, könnte man meinen: Das hat nicht geklappt. Die Stadt liegt mitten in einer der umstrittensten Gegenden der Welt. Vom restlichen Westjordanland ist sie durch eine Sperrmauer abgetrennt. Die Heiligen Drei Könige hätten heute gehörige Schwierigkeiten, mit ihren Geschenken zum Christkind vorzudringen, wahrscheinlich müssten sie stundenlang bei einem Checkpoint ausharren und ihre Pakete auf Sprengstoff untersuchen lassen. 

Wenn man heute in Wuppertal unterwegs ist, könnte man auch meinen: Das hat nicht geklappt. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander klafft, wenn kleine Säuglinge im Wald vergraben werden, wenn die Stadt den traurigen Rekord von 39 so genannten Angstorten hält. Und trotzdem. 

Trotzdem will ich daran glauben, dass Weihnachten etwas geändert hat und ändern wird und ändert. Auch in diesem Jahr. In Bethlehem. In Wuppertal und anderswo. Und dass der Blick zurück zur Krippe etwas verändert. 

Da stehen wir. 
Gucken zurück, auf die Krippe. 
Gucken verstohlen zur Seite, 
finden uns wieder neben Menschen, 
um wir vielleicht lieber einen großen Bogen machen würden. 
Und teilen doch das Wunder miteinander. 

Hier sitzen wir. 
Geben gleich das Friedenslicht weiter, 
Kerze für Kerze für Kerze. 
Reihen uns ein in eine Kette, 
die von der Geburtskirche in Bethlehem 
bis auf den Uellendahl reicht. 
Und die hier nicht zu Ende sein muss. 
So wie in rund zwanzig anderen Kirchen in der Stadt 
und drum herum. 
Gehen nach Hause – und mit jedem Menschen, 
dem Sie in den nächsten Tagen begegnen, 
haben Sie vielleicht, 
ohne es zu wissen, 
das Licht geteilt. 

Und für jeden Menschen, 
dem Sie in den nächsten Tagen begegnen, 
hat Gott ganz sicher in Bethlehem einen neuen Anfang gesetzt. 
Für den Penner am Döppersberg, 
für die junge Mutter auf der Gathe, 
für den alten Nachbarn am Weinberg. 
Und sogar und ganz sicher für den Menschen, 
der Ihnen aus dem Spiegel entgegenguckt. 

 VI. COMING HOME FOR CHRISTMAS II 


Weihnachten geht es nach Hause. 
Und wir kehren zurück. 
Zu den neuen Anfängen Gottes, 
der sich klein macht und unsere Anfänge heiligt. 
Auch die ganz kleinen, 
von denen niemand etwas erwartet. 
Auch im Heimaturlaub, 
ob er nun mit freudigem Herzklopfen 
oder mit Magenschmerzen absolviert wird. 
Wer unbequem im Bett im alten Kinderzimmer liegt, 
erinnere sich daran, dass man selbst in einer Krippe schlafen kann, 
wenn es sein muss. 

Wer nicht mehr hören kann, 
dass die Schwester schon zwei Kinder, 
der Cousin einen Job 
und der Nachbarsjunge eine eigene Praxis hat, 
denke an David und daran, 
dass die Letzten die Ersten sein werden. 

Und wer keinen Gänsebraten will, 
der isst keinen. 

Und plötzlich ist Weihnachten. 
O je. 
O ja. 
O nein. 
O doch.
Okay. 
O Gott. 
O du fröhliche. 
O Heiland, reiß die Himmel auf. 
Über Bethlehem, der kleinen Stadt. 
Und über Wuppertal. 
Und über uns. 
Und überhaupt 
und überall 
und über allem 
und allen: 
Friede auf Erden. 
Amen.

Dienstag, 5. Dezember 2017

Weinende Visionäre und großes Kino | Predigt über Offb 5 und BWV 62

Aus dem Kantatengottesdienst in der Kölner Antoniterkirche.
 

GROSSES KINO 

 

Lehnen Sie sich zurück. Greifen Sie in Gedanken in die Tüte mit Popcorn, trinken Sie einen Schluck, was auch immer, denn: Sie erwartet großes Kino. Großes Ohrenkino gleich nach der Predigt mit der Bachkantate, und vorher schon großes Kino für Auge und Herz, ein bisschen auch für den Kopf, mit einem Text aus der Bibel, der es in sich hat. Bei dem es ums Ganze geht. Großes Kino halt, dabei weniger „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, eher „Armageddon“, auch nicht „der kleine Lord“. Am Anfang des Kirchenjahres blättern wir zum Ende der Bibel, schlagen die Offenbarung des Johannes auf. Ein Buch voller Rätsel, voller Bilder, voller Ausrufe- und mindestens so vielen Fragezeichen. Wir gucken dem Seher Johannes über die Schulter. Er bekommt das, was viele Menschen sich wünschen, worauf sie hoffen, wonach sie lautstark verlangen, wenn die Gegenwart zu schwer zu ertragen ist. Johannes bekommt Einblick in die Zukunft. Nicht in die nächste Woche, nicht auf den Rest seines eigenen Lebens, sondern in die Zukunft, die Gott für diese Welt vorgesehen hat. Großes Kino eben, keine Kaffeesatzleserei. Wir treten neben Johannes, als er in Gedanken im Thronsaal steht.  

Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? 


ZEIT DER GEHEIMNISSE – IST DA JEMAND? 

 

Advent ist die Zeit der Geheimnisse. Ein Kalender mit vierundzwanzig Türchen, jedes mit einem kleinen Geheimnis dahinter. Ein kurzer Blick auf verheißungsvoll raschelnde Pakete, bevor sie bis Heiligabend irgendwo verschwinden und in der Zwischenzeit aufgeregt rätseln lassen, was da wohl drin ist. Immerhin: Am Ende der Adventszeit werden wir es wissen. Die Türchen sind aufgemacht, Geheimnisse gelüftet und Pakete ausgepackt. Im himmlischen Thronsaal scheint die Lage anders zu sein. Da ist das Buch, eine kunstvoll gefaltete Rolle, von innen und außen beschriftet. Allem Anschein nach eine Urkunde göttlicher Herrschaft, und damit auch ein Dokument voller Wahrheit und Klarheit über die Zukunft der Welt. Nur eben: Versiegelt. Mit nicht nur einem, sondern gleich mit sieben Siegeln, und die mystische Zahlenspielerei macht deutlich: Dieser Code ist nur mit göttlicher Kraft und Autorität zu brechen. 

Einerseits finde ich das gut. Das mahnt zur Vorsicht bei Zukunftsprognosen und Kaffeesatzleserei aller Art. Die Zukunft liegt bei Gott, und da liegt sie gut. 

Und andererseits macht es mich ungeduldig. Mir geht es wie Johannes. Ich will lesen. Und wissen, wie es ausgeht. Nicht einmal im Detail, will nur wissen, dass es gut ausgeht. Wie wenn ich bei einem unerträglich spannenden Krimi verbotenerweise auf die letzten Seiten blättere, um zu sehen, wer am Ende noch alles am Leben ist. Wie Johannes auf der Insel Patmos, der aus dem Exil heraus sieht und hört, wie seine Schwestern und Brüder im Glauben von den Römern verfolgt und getötet werden. Spürt und weiß: Unfrieden herrscht auf der Erde, und ein gutes Ende ist kaum vorstellbar. Unfrieden herrscht auf der Erde, und Ungeduld sogar im Himmel, wenn ein starker Engel die heilige Stille durchbricht und ruft: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Ja, wer? Wer kann die Siegel aufbrechen, wer versteht die Geheimnisse dieser Welt, und wer kann eigentlich dafür sorgen, dass am Ende alles gut wird? Ist da überhaupt jemand? Ist da jemand, der mein Herz versteht? Und der mit mir bis ans Ende geht? Ist da jemand, der noch an mich glaubt? Ist da jemand? Ist da jemand? Der mir den Schatten von der Seele nimmt? Und mich sicher nach Hause bringt? Ist da jemand? Ist da jemand? -- Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. 

ES IST ZUM WEINEN 

 

Es ist doch zum Weinen. Dass da niemand ist, der dieses Buch öffnen kann. Dass da niemand ist, der weiß, wie es geht, wie es sein wird. Es ist doch zum Weinen, dass allem Anschein nach das Böse, das Tödliche, das Dumme, das Unfaire, das Lebensverachtende in der Welt den Sieg davonträgt. 
Es ist doch zum Weinen, dass wir bald drei Monate immer noch nicht wissen, wer die Regierung stellen wird, und ein Minister im Alleingang gegen den Willen von Millionen von Bürgern und gegen den Willen der Kanzlerin den Einsatz einer hoch umstrittenen Chemiekeule genehmigt. 
Es ist doch zum Weinen, dass mehr als siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Partei die drittmeisten Stimmen bekommt, die die Zeit zwischen 33 und 45 schönreden und vielleicht sogar in Teilen wiederholen will. 
Es ist doch zum Weinen. 
Auch all das, was es nicht in die Zeitung schafft. Gestern Nachmittag war ich bei der Andacht eines Kollegen mit seiner Konfirmandengruppe dabei. In der kleinen kalten Kapelle auf dem Altar das Bild eines Zwölfjährigen. Lukas. Er war in ihrer Konfigruppe. War. In der Nacht von Sonntag auf Montag ist er gestorben. Einfach so. Morgens nicht mehr aufgewacht. „Ich bin sprachlos“, sagte der Kollege, „ich bin sprachlos, auch, wenn ich gerade rede.“ Und wir haben Kerzen angezündet und geweint. Geweint wie jetzt gerade Menschen weinen, überall in der Welt, aus den verschiedensten Gründen. 


Wie Johannes im himmlischen Thronsaal weint, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun. Weint, bis ihm jemand die Hand auf die Schulter legt. 

Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; […]Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. 

GROSSES KINO, EIN UNERWARTETER HAUPTDARSTELLER – VARIATIONEN EINES THEMAS 

 

Mitten im Thronsaal ist der schon da, der die Siegel brechen und die Zukunft in die Hand nehmen kann. Ist schon da, aber kommt erst jetzt in den Blick. Drängt sich nicht vor, ruft nicht laut „hier“, aber lässt sich finden. Wie am Anfang, der kleine Lord in der Krippe auf Stroh, wie am vermeintlichen Ende am Kreuz, wie beim Sequel neben dem beiseite gerollten Stein über seinem leeren Grab. Wie beim großen Finale im himmlischen Thronsaal. Das, was Johannes hier sieht, ist bei Lichte betrachtet eigentlich gar nicht so neu. Glanz und Gloria beiseite lassend, erkennen wir Variationen eines Themas, erleben wir, was Menschen immer und überall erleben, wenn Gott sich sehen lässt: Es wird anders. Anders als gedacht, anders, als wir es machen würden. Und vielleicht kann und wird es gerade deswegen gut. Das Wort wird Fleisch in der gänzlich kitschbefreiten Ungastlichkeit eines Viehstalls – und macht die, an denen die Weltgeschichte meist vorbeigeht, zu Trägerinnen und Boten des Heils. Der König kommt in nieder’n Hüllen. Der, der die Rettung aller Welt bedeutet, behält seinen unmissverständlich jüdischen Stallgeruch. Das Lamm, auf dem Altar politischen Kalküls und menschlicher Irrtümer geopfert, ist stärker als alle irdischen Herrscher, die sich als brüllende Löwen inszenieren. Und sieben Hörner sind und bleiben mehr als die zwei Hörner aller Götterfiguren und angeglichen Heilsbringer, als der Kopfschmuck aller Teufel und Dämonen dieser Welt. 

ALLE JAHRE WIEDER 

 

Wirklich neu ist das nicht, was Johannes sieht. Tröstlich, ja, ohne Zweifel. Alles wird gut, und im Spannungsbogen der biblischen Geschichte dürfte das kaum überraschen. Alles wird gut. Am Ende einer Predigt am ersten Advent dürfte auch das kaum überraschen. Aber die mächtige Dynamik dieser Welt und ihrer Geheimnisse bringt es mit sich, dass wir es immer wieder neu hören müssen. Auch am ersten Advent hier in Köln können wir großes Kino gebrauchen, mit Bildern, die mächtiger sind als die Schreckensszenarien der Nachrichten, und brüchiger und deshalb wahrer als unsere heimelige Adventsromantik. Auch am ersten Advent gibt es Menschen, auch hier in der Kirche, die Grund haben zu weinen, zu fragen: „Ist da jemand?!“, und mit Ambrosius und Luther und Bach und den Sängerinnen und Sängern aus Rösrath zu rufen: Nun komm, der Heiden Heiland. Komm und nimm die Geschichte in die Hand. Komm und mach uns frei. Komm und streite und siege und richte uns auf. Komm. Wir müssen es neu gesagt bekommen, es uns neu sagen lassen. Und mit der Frage im Hinterkopf: „Ist da jemand?“ hören wir die Kantate des fünften Evangelisten als großes, klingendes, uns bis in die tiefsten Fasern berührendes und veränderndes: JA, AMEN! 


Sonntag, 26. November 2017

Tick-Tack-Oma und Adressbuch | Predigt über Dan 12,1b-3 am Ewigkeitssonntag

Die Ticktack-Oma hatte so ein kleines Adressbuch. Beim Trauergespräch lag es auf dem Tisch, sonst hat es immer da gelegen, wo es hingehört: Neben dem Telefon, das noch ein eigenes Tischchen mit dazugehöriger Sitzbank hatte. Die Namen darin: Alle mit Bleistift reingeschrieben. Nach ihrem 90. Geburtstag hat sie es angeschafft, hat die Namen all derer, die noch lebten, übertragen. Es waren weniger als die, die sie rausgelassen hat. „Ich bin doch eine der Letzten“, hat sie gesagt, „und ich bin es leid, die Namen von denen, die ich überlebt habe, durchzustreichen und jedes Mal, wenn ich eine Postkarte schreiben will oder eine Nummer raussuche, darüber zu stolpern. Jetzt radiere ich sie aus.“ Dann hat sie gelacht. „Und wenn ich doch noch jemand Neues kennen lerne, ist genug Platz!“ 


Neunzigjährige haben oft diesen Blick auf Leben und Tod. Einige derer, deren Namen wir heute hier genannt haben, hatten schon lange gesagt: „Es ist doch gut. Es reicht mir mit dem Leben.“ Man guckt anders auf das Leben, wenn die Grenze langsam aus dem Nebel auftaucht. Man sortiert, gewichtet vielleicht nochmal neu: Das, was früher so wichtig war, verliert an Bedeutung. Und anderes wird unschätzbar wertvoll. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ 

Der Ewigkeitssonntag gehört den Grenzgängern. Denen, die die Grenze passiert haben, und denen, die auf der anderen Seite stehen geblieben sind und ihnen nachblicken. Am letzten Sonntag des Kirchenjahres, wenn die Tage kürzer und die Menschen dünnhäutig sind, versammeln wir uns und rücken zusammen. Wir teilen das Brot, das wir haben, miteinander, reichen es herum, Hände berühren sich, Blicke werden getauscht, kurz, flüchtig, ein leises „Danke“, ein etwas lauteres „Amen“, eine stille Träne. Wir hören Namen, die etwas in uns zum Klingen bringen: Schmerz. Trauer. Sehnsucht. Dankbarkeit. Erleichterung. Oder irgendetwas anderes, das nur wir fühlen und das wir niemandem verraten. Wir hören Namen wie Abkürzungen für ganze Lebensgeschichten. Manche Geschichten sind länger, andere kürzer. Manche zu kurz. Alle ausnahmslos so vielschichtig und tiefgründig, dass kein Roman der Welt sie ganz erzählen könnte. Wir hören Namen, die von Klingelschildern, aus Kundenkarteien, Telefonbüchern und Geburtstagskalendern verschwunden sind – oder bei denen wir es einfach noch nicht übers Herz gebracht haben, sie aus dem Handy zu löschen. 

Am Ewigkeitssonntag blättere ich in der Bibel und suche Trost, Hoffnung, Perspektive, und vielleicht auch eine Antwort auf die Frage: Was ist mit Erwin oder meinetwegen mit Tick-Tack-Oma, jetzt, wo sie tot sind? Ich suche – und finde. Im hinteren Teil des Alten Testaments, im zuletzt hinzugefügten Buch der Hebräischen Bibel, im Buch Daniel. Ganz am Ende lesen wir Visionen, für Menschen geschrieben sind, die an ihre Grenzen kommen. An die Grenzen des Ertragbaren, des Verstehbaren. Um sie herum wütet der Tyrann, sie werden geknechtet, verfolgt, unterdrückt. Sie klagen laut und mit Rech: Es kann doch nicht sein, dass das, was ist, alles gewesen sein soll. Es kann doch nicht sein, dass der Tod und seine weltlichen Handlanger das letzte Wort behalten. Ihnen wird ein Ausblick geschenkt, der über unsere Grenzen hinausführt: 

[Denn] es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. 

Wieder ein Buch. Ein Buch, in dem Namen verzeichnet sind. Nicht mit Bleistift – damit schreibt man im Himmel nicht. Gott schreibt auf wetterfestes Papier mit dokumentenechter Tinte, die auch unter Tränen nicht verläuft. Namen, die stehen bleiben. Die Lebensgeschichten in sich bergen im Buch des Lebens, das mit jeder Taufe ein neues Kapitel bekommt. „Ja, den Namen, den wir geben, schreib ins Lebensbuch zum Leben“, singen wir dann. 

Möglich, dass diese Vorstellung nicht lückenlos tröstlich ist, nicht auf den ersten Blick. Möglich, dass unser Gottesbild sich mit dem Bild vom Nikolaus vermischt, der mit weißem Bart und gerunzelter Stirn streng über den Rand seiner Brille guckt, den Zeigefinger in seinem goldenen Buch, das zwei Spalten hat: Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind? Der alles aufgeschrieben hat, wirklich alles, und bei dem man nicht weiß, ob er ein Geschenk oder die Rute rausholt. Vielleicht hat Daniel sich das so vorgestellt. Dass Gott doppelte Buchführung macht. Es klingt zumindest so: „Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande.“ Ich kann diesen Satz nicht einfach weglassen, aber ich möchte versuchen, ihn zu verstehen. Und vorsichtig weiterdenken. Die Worte sind geschrieben in einer Zeit, die gar nicht so anders ist als unsere eigene. Es gibt Menschen, die anderen Leid zufügen. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Es gibt Verfolgung und Mord, seelische und körperliche Vergewaltigung, häusliche Gewalt und sträfliche Vernachlässigung. Es gibt Opfer und Täter, freiwillig und unfreiwillig. 

Tick-Tack-Oma wusste das. Hat schnell umgeschaltet, wenn im Fernsehen etwas über die unmittelbaren Nachkriegsjahre kam, über das, was damals so gemacht wurde und über das man nicht spricht. Und hat, als die Demenz die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischte, manchmal leise und unzusammenhängend über die jüdische Familie mit dem Geschäft nebenan gesprochen und den Kopf geschüttelt und sich die Hand vors Gesicht gehalten, als wollte sie nicht, dass man sie ansieht. Ich weiß nicht, ob für Tick-Tack-Oma die Vorstellung ertragbar, ob es gerecht wäre, im Buch des Lebens auch die Namen derer zu lesen, die im Krieg oder kurz danach etwas in ihr kaputt gemacht haben. Und dass sie selbst, wenn Soll und Haben aufgerechnet würden, hart an der Grenze wäre. Wie alle anderen. Namen bergen Lebensgeschichte. 

Und so, wie manche ihren eigenen Namen kaum leiden mögen, bergen die Namen auch die Kapitel unserer Lebensgeschichten, die schwer ertragbar sind. Möglich, dass nicht jeder die Vorstellung mag, dass am Ende jeder Name laut aus dem Buch des Lebens vorgelesen wird, inklusive der ganzen peinlichen zweiten und dritten Vornamen nach irgendwelchen Verwandten, die man zu Lebzeiten, wo es nur ging, verschwiegen hat. 

Möglich, dass es selbst im Himmel nicht ohne doppelte Buchführung geht, um der Gerechtigkeit willen. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass dort so gerechnet wird, wie wir es gewohnt sind. Kurz gesagt: Weil Christus einen Strich durch die Rechnung macht. Auf der Soll-Seite. Weil Gott die Ewigkeit nicht ohne uns verbringen will und keine Freude hat an Plätzen, die beim großen Festmahl im Himmel leer bleiben. Er hat das Chaos in Welt verwandelt. Er kann auch unseren Namen einen neuen Klang geben. Kann und wird sie neu durchbuchstabieren und unsere Lebensgeschichten so erzählen, dass wir sie neu und anders hören. Wir sind hier an der absoluten Grenze all dessen, was Theologie und Glauben leisten können. Dorthin wagen wir uns am Ewigkeitssonntag. Halb verschüchtert, halb trotzig. Und lassen Gott nicht. Nicht ohne Hoffnung. Gesät werden Menschen in eine Welt voller Erniedrigung, Erhöhte stehen auf. Gesät werden Zerbrechliche, Menschen voller Kraft von Gott stehen auf. Nicht ohne Versprechen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. 

Irgendwann, wenn dermaleinst die Zeit in Rente gegangen ist, wacht Tick-Tack-Oma auf. Mit einem Mal hell wach, wie man nur mit einem Mal wach ist, wenn man seinen eigenen Namen hört. Und sie steht auf, wundert sich, wie leicht das geht, spürt weder „Knie“ noch „Rücken“, schüttelt sich den Staub aus den Kleidern und fühlt sich überhaupt blendend. Geht langsam in den Flur, hört von irgendwoher leise Musik. Ihr Blick fällt auf ein Telefontischchen, ordentlich, mit Sitzbank, und auf das riesige aufgeschlagene Buch darauf. Namen über Namen, alle feinsäuberlich notiert, mit Tinte, nicht mit Bleistift. „Das ist die Gästeliste“, sagt jemand hinter ihr. Gott ist aus der Küche gekommen und hat die Schürze noch umgebunden und die Ärmel hochgekrempelt. „Gästeliste? Für heute?“ fragt Tick-Tack-Oma, und Gott sagt: „Für ewig.“ Und wieder fällt ihr Blick auf die endlosen Reihen von Namen, manche persönlich bekannt, manche aus Funk und Fernsehen, andere fremd und gänzlich unbekannt. Und ihr eigener natürlich. „Und die kennst du alle?“ fragt sie skeptisch, und Gott strahlt: „Jede und jeden Einzelnen.“ 

Amen.

Eindrücke aus dem Gottesdienst...








Freitag, 24. November 2017

Der berühmte Fragebogen - abschiedliches Leben üben


Vor ein paar Tagen hat die EKiR-Onlineredaktion einen Artikel geschrieben, in dem es, im weitesten Sinne, um Beerdigungsvorsorge und damit auch um Tod, Trauer und abschiedliches Leben generell geht (hier kann man den lesen). Und darum, wie damit individuell und kollektiv umgegangen wird. 

In dem Artikel ist von einem Fragebogen die Rede, die ich manchmal mit Gemeindegruppen ausfülle. "Wie stelle ich mir meine eigene Beerdigung vor?" ist eine Frage, die für Konfis einen anderen Sitz im Leben hat als für den Seniorenkreis, die aber in jedem Fall zu interessanten Gesprächen Anlass bietet. Wer das Ende plant, kommt nicht umhin, über das Davor nachzudenken, zu gewichten und zu entscheiden: Was soll bleiben, was geht mit mir, was hinterlasse ich? Für die juristischen Seiten dieser Frage, mittlerweile auch für die elektronischen, gibt es Daten- und sonstige Testamente. In Schweden bin ich in einem Praktikum auf das Weiße Archiv (vita arkivet gestoßen), ein Portal, wo man sein "spirituelles Testament" hinterlassen kann, so etwas wie ein "Drehbuch für den eigenen Tod" (Deutschlandfunk). Eine alte Dame aus der Gemeinde hatte einen Termin dafür mit meiner Mentorin gemacht, ich saß dabei und fand es mit 22 Jahren so mittelnachvollziehbar. Einerseits fand ich die Idee gut, vorzusorgen. Andererseits fand ich die Vorstellung, so abgeklärt über das eigene Ableben nachzudenken, befremdlich bis erschreckend. Mittlerweile bin ich lange genug an der Lebensgrenze unterwegs gewesen, um aus vollem Herze zu sagen: Das ist gut! Sich über die inhaltliche Seite der Bestattung Gedanken zu machen, kann so etwas wie ein spiritueller Kassensturz sein, weil man sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegt darüber, was trägt. Welche Bilder und Texte, welche Lieder und Gedanken. 

Deswegen nutze ich den Fragebogen auf zwei Arten: Einmal, um Menschen, die sich vielleicht alters- oder krankheitsbedingt sehr viel gedanklich mit dem eigenen Tod beschäftigen, aber deren Angehörige solche Gespräche kategorisch verweigern, einen Gesprächsraum zu bieten. Und die Möglichkeit, ihre Wünsche zu formulieren und festzuhalten. Und einmal, um mit Menschen oder Gruppen, die sich damit überhaupt noch nicht befasst haben, das Thema näher ranzuholen. Beides braucht Vertrautheit, Zeit und Raum. Die Tabuisierung des Todes bringt es mit sich, dass es vielleicht eine gewisse Wegstrecke miteinander braucht, um so etwas besprechen zu können. Die Form des Fragebogens, bei der ich in weiten Teilen dem schwedischen Original folge, hat dabei Vor- und Nachteile: Sie zwingt zur Klarheit. Und tut gleichzeitig so, als gäbe es nur die vorgeschlagenen Varianten. Man darf und muss also ein bisschen Freiheit mitbringen, und gleichzeitig das Wissen: Es geht um so viel mehr, als nur um die Beantwortung einiger Fragen. Deswegen, und weil ich hier keine pdfs hochladen kann, kommen hier einfach nur die Fragen, an einigen Stellen mit ein paar weiterführenden Fragen dort, wo erfahrungsgemäßg Gesprächsbedarf besteht. Außerdem sollte in dem Prozess auch klar werden, dass eine Bestattung nicht den Verstorbenen allein gehört, sondern auch eine seelsorgliche Funktion für die Angehörigen hat. Das ist vor allem dann wichtig, wenn jemand so einen Fragebogen ausgefüllt und Wünsche angemeldet hat, die die Angehörigen nicht erfüllen können oder wollen. Hier sind wir, auch, weil so ein "spirituelles Testament" keine juristische Bedeutung hat, als Pfarrerinnen und Pfarrer freier als die Bestattungsunternehmen - und haben auch die Aufgabe, die Fragen und/oder Schwierigkeiten, die wir mit bestimmten Wünschen sehen, offen anzusprechen. Deswegen sind manche Fragen so formuliert, wie sie nicht im Fragebogen stehen würden, aber Hintergründiges sichtbar machen und damit als Gesprächseinstiege dienen können.

Im Folgenden habe ich meine Wünsche für meine Bestattung aufgeschrieben. Sie sollen meinen Angehörigen und dem Pfarrer/der Pfarrerin eine Orientierung bieten und Hilfe sein, um Entscheidunge in meinem Sinne zu treffen. In den Fällen, in denen ich nichts notiert habe, sollen meine Angehörigen entscheiden, was sie für angemessen und hilfreich halten.

1. Wer soll meine Beerdigung organisieren? Wem vertraue ich meinen letzten Weg an?
2. Was will ich im Sarg tragen? Mein Lieblingskleid, einen bequemen Jogginganzug, ...?
3. Wie soll mein Sarg/meine Urne aussehen?
4. Sollen die, die das wollen, sich irgendwann am offenen Sarg verabschieden können? Warum/Warum nicht?
5. Welche Bestattungsform wünsche ich mir? Und warum? Was verbinde ich mit bestimmten Formen?
6. Wo will ich begraben werden?
7. Wer soll die Trauerfeier gestalten? Was an dieser Person macht sie für mich vertrauenswürdig?
8. Wer soll alles zur Trauerfeier eingeladen werden? Wen könnte meine Familie übersehen?
9. Habe ich bestimmte Vorstellungen über die Gestaltung meines Grabsteins? Will ich damit irgendetwas ausdrücken?
10. Welche Lieder sollen gesungen oder abgespielt werden? Was daran berührt mich?
11. Welche Bibelverse/Gedichte/Gedanken... sind mir besonders wichtig? Was bedeuten sie für mich?
12. Was ist mir sonst rund um meine eigene Trauerfeier wichtig? 
13. Was für Ideen habe ich für die Feier hinterher? Gibt es ein Restaurant, dass ich empfehlen kann?
14. Gibt es Anliegen oder Initiativen, die mir am Herzen liegen, und für die anlässlich meines Todes gespendet oder bei der Trauerfeier gesammelt werden könnte? 
15. Was soll die Trauerfeier für meine Angehörigen bedeuten, was wünsche ich mir für sie?
16. Welche positiven oder negativen Beerdigungserfahrungen habe ich gemacht? Gibt es "Dos" und "Donts"?
17. Was ist offen geblieben? 

Ich freue mich über Rückmeldungen und Erfahrungsberichte zum Fragebogen! Und würde mir wünschen, dass das nur ein Anfang einer Entwicklung ist, in der die Kirche die ars moriendi wiederentdeckt. War das Thema "Tod und Sterben" über mehrere Jahrzehnte gesamtgesellschaftlich irgendwo in eine Ecke abgeschoben, scheint sich momentan, mit einer Pluralisierung von Bestattungs- und Trauerkulturen und einer zunehmenden Medialisierung (und Digitalisierung) aller Lebensbereiche eine Trendwende abzuzeichnen. Wir haben in unserer Tradition unglaubliche Schätze, die abschiedliches Leben lehren, ohne den Tod zu beschönigen. Wir sitzen auf Jahrhunderten, teils Jahrtausenden von Erfahrungen mit der Gestaltung und Begleitung der letzten Wege, mit dem Versprachlichen von dem, was eigentlich unsagbar ist, wir haben Symbole und Riten, die vielleicht abgestaubt und behutsam aktualisiert werden müssen, die aber zukunftsfähig in jedem nur erdenklichen Sinne sein können. Und wir haben den Glauben auf den Sieg über den Tod und die Hoffnung auf das Kommen Gottes - das prädestiniert uns doch geradezu, hier zu Pionier_innen einer neuen Trauerkultur zu werden, die das gesamte Leben positiv und heilsam beeinflussen kann.


Sonntag, 5. November 2017

Paradoxe Interventionen. | Mt 5,38-42

Eigentlich bin ich ganz anders – ich komme nur so selten dazu. Sagt Ödön von Horváth. Sagt auch Udo Lindenberg. Könnte ich ganz oft sagen, und Ihr und Sie vielleicht auch. Ich lebe ein Leben mit viel Würde. Und viel Könnte und Sollte und Müsste und Wollte. Eigentlich wollte ich heute die Welt retten… aber es soll ja regnen! Und eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu. 

Die gute Nachricht: Jetzt ist die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann? Siehe, jetzt ist die Zeit des Heils, schreibt Paulus. Es gibt in der ganzen Weltgeschichte immer nur eine bedeutsame Stunde – die Gegenwart. Schreibt Dietrich Bonhoeffer. Jetzt ist die Gelegenheit, sagt Jesus: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Und Jesus malt in der Bergpredigt Bilder davon, wie es sein könnte, wenn alles anders werden sollte könnte würde, wie es sein muss, damit es anders wird. Und das sind Bilder, die auf den ersten Blick verstoren – ich weiß nicht, wie Sie die Lesung gerade gehört haben? 

Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dein Gewand zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer nötigt, eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei. 

Wir sind im Laufe unserer Geschichte sehr unterschiedlich mit diesem Text umgegangen. Da gab es den, der gesagt hat: Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen. Da gab es die, die gesagt haben: Richtig so, Christinnen und Christen haben sich aus militärischen Aktionen rauszuhalten und keine Waffen anzufassen. Die waren kaum überraschend so lange in der Mehrheit, wie das Christentum in Rom noch nicht Staatsreligion war und Christen sowieso keinen Militärdienst geleistet haben. Da gibt es die, die genau hingucken (und die mit rechts und links mehr anfangen können als ich), die sagen: Moment – stellt euch das mal bildlich vor (liebe Kinder zuhause, bitte nicht nachmachen): Es geht hier um die rechte Backe. Ein Rechtshänder, und das waren auch in der Antike die Mehrheit, schlägt aber nicht auf die rechte, sondern auf die linke Backe. Ein Schlag auf die rechte Backe wird mit dem Handrücken ausgeführt und ist also nicht eine Ohrfeige im eigentlichen Sinne, sondern ein Schlag ins Gesicht, der Verachtung ausdrückt, der eher als Beleidigung gedacht ist. Was Jesus also eigentlich meint, ist, dass wir drüber stehen sollen, wenn uns jemand beleidigt oder mit Verachtung straft. 
Ich finde das klug und bedenkenswert, aber ich finde auch verbale Schläge manchmal schmerzhaft genug. Und ich möchte versuchen, Jesus zu verstehen ohne „eigentlich“, auf dass ja bekanntlich immer ein „aber“ folgt, das wiederum bekanntlich immer alles verneint, was vorher gesagt wurde. 

II. Jemand schlägt dich – und du forderst ihn quasi auf, das nochmal zu tun. Jemand will vor Gericht von einem Armen das Untergewand pfänden lassen – und der gibt ihm direkt noch den viel wertvolleren und vor allem wärmeren Mantel dazu. Und jemand zwingt einen anderen, eine Meile mit ihm zu gehen. Das konnten im römischen Reich zum Beispiel Beamte oder Militärs sein, die von der Zivilbevölkerung Weggeleit oder Proviant einfordern konnten. Und dieser andere sagt: Super, klar komme ich mit, aber warum nur eine Meile, wenn wir schon dabei sind – ich gehe gleich zwei mit. Das sind, bei Licht betrachtet, alles ziemlich verrückte Ideen. Und ich glaube, sie sind genauso gemeint. 


In der Psychotherapie, auch in der Seelsorge, gibt es die sogenannte paradoxe Intervention. Das sind Maßnahmen, die scheinbar genau das Gegenteil von dem verursachen, was man eigentlich erreichen will, aber dann genau dahin führen. Vielleicht ist Ihnen das schon einmal in Erziehungsratgebern begegnet: Wenn Ihr Kind sich partout weigert, den Broccoli zu essen und nur Nudeln will, dann machen Sie die klare Ansage: Du bekommst erst wieder Broccoli, wenn du alle deine Nudeln aufgegessen hast! Und staunen Sie, was sie für ein broccoligieriges Kind zuhause haben! 
Paradoxe Interventionen überraschen das Gegenüber, bringen es aus dem Konzept und sollen den Trotzkopf in uns wecken, der immer das Gegenteil von dem tun will, was andere von ihm verlangen. Vielleicht schlägt Jesus auch hier paradoxe Interventionen vor – Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben ihn so verstanden und damit großen Erfolg gehabt. Ich glaube aber, dass es Jesus nicht um psychologische Taschenspielertricks geht. Ich glaube, es geht ums Prinzip. 

Paradoxe Intervention – das könnte fast sowas wie Gottes Handschrift in der Lebensgeschichte Jesu sein. Das fängt ganz am Anfang an: Das Volk erwartet den Messias. Wunderrat, Ewig-Vater, Friede-Fürst – und Gottes Sohn kommt als kleines Kind in einem Stall abseits der Weltgeschichte zur Welt. Als es erwachsen geworden ist, geht ebendieses Kind auf verhasste Outsider zu und sagt: Heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein. Wenn er über den Himmel befragt wird, erzählt er von der Erde und vom Ackerbau. Und am Ende seines Lebens lässt sich Jesus verhaften, auspeitschen und umbringen – und verhilft gerade dadurch dem Leben zum Sieg. 

So verstehe ich diese Sätze aus der Bergpredigt. Als paradoxe Interventionen. Als Ratschläge, die völlig abseits von dem stehen, was wir sinnvoll, zielführend oder rechnerisch richtig finden würden. Es ist Ihnen ja vielleicht aufgefallen, dass wir diese Woche das Reformationsjubiläum gefeiert haben. Vor 500 Jahren hat Luther genau das gemacht, als er ein funktionierendes System angegriffen hat. Und der Ablasshandel war ein funktionierendes System – und aus psychologischer Sicht sogar eigentlich sehr sinnvoll: Wenn ich mein Seelenheil erkaufen kann, dann gibt mir das das gute Gefühl, dass ich mein Leben selbst in der Hand habe. Und warum sollte Gott anders funktionieren als der Rest der Welt? Was nichts kostet, ist nichts, jeder ist seines Glückes Schmied, und umsonst ist nur der Tod. Und Luther sagt: Lasst das Geld in der Tasche. Lasst das Schachern und das Feilschen und das Vorsorgen. Gottes Gnade wird in einer tränentreibenden Verschwendung ausgegossen, im Himmel gibt es keine doppelte Buchführung. Darum: Sündige tapfer! Hat Luther auch gesagt. Und: Ich bin frei in allen Dingen – und Jedermanns Knecht. Und in seiner Folge Nikolaus Herrmann: Gott wird der Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein! Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Und Christoph Lichtenberg sagt: Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders ist. Ich weiß aber, dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll. 

III. In den paradoxen Interventionen öffnen sich Räume. Wenn dich einer nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei. Geh mit ihm drei Kilometer statt anderthalb. Und guck zu, wie die Strecke sich ändert. Wie sich auf der zweiten Meile auf einmal ein Weg eröffnet, den keiner von euch geplant hat. Ihr müsst euch über das Ziel verständigen. Geht nebeneinander her, vielleicht schweigend. Ab dem dritten Kilometer ungefähr passen sich eure Schrittlängen einander an. Die Grenzen verschwimmen zwischen dem, der vorangeht und dem, der nachläuft. Vielleicht durchbricht irgendwann jemand das Schweigen, und Ihr kommt ins Gespräch. Vielleicht reicht auch einfach nur einer dem anderen den Schlauch mit dem Wasser, ist plötzlich eine Hand da, wenn einer stolpert, vielleicht braucht es weder Worte noch Gesten, weil miteinander gehen auch ohne das alles etwas mit Menschen machen kann. Interventionen eröffnen Räume, wo es anders wird. 

IV. Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen, hat Helmut Schmidt gesagt. Oder Karl Carstens. Oder wer auch immer. Und eigentlich haben sie Recht. Eigentlich. Aber ich glaube nicht, dass Jesus seine Beispiele hier als TO-DO-Liste gemeint hat, die man abhaken kann, um sich als besonders guter Christ zu fühlen. Ich glaube, dass manche Sätze für manche Leute gar nicht gedacht sind – es gibt Menschen, die beigebracht bekommen haben, Schläge einzustecken. Alles runterschlucken, nur nicht aufmucken, sich bespucken lassen, niemand in die Augen gucken. Vielleicht geht es einigen von Ihnen so. Und wissen Sie was? Ich glaube nicht, dass Sie mit dem Satz mit der rechten und der linken Backe gemeint sind. Die Berpredigt ist keine Anleitung zum Unglücklichsein, keine Liste zum Abhaken, sondern eine Einladung zum Weiterspinnen und zum Sehen, wie Gottes Reich die offenen Räume zu füllen beginnt. 

Wenn alle über einen lästern, sag was Nettes über ihn. 
Wenn dir jemand einen Vorwurf macht, gesteh ihm noch zwei-drei weitere Unzulänglichkeiten deinerseits. 
Wenn jemand ein Kompliment braucht, gib ihm zwei. Und ein Stück Schokolade. 
Wenn jemand dein Geld will, gib ihm das Handy gleich mit. 
Wenn dich jemand zwingt, ihm eine Stunde zuzuhören, schenke ihm auch eine zweite. 
Wenn Du kein Geld hast, lade jemanden zum Essen ein. 
Wenn Du jemanden auf den Tod nicht leiden kannst, dann bete für ihn. 

Nur Sie wissen, wie es weitergeht. 

Amen.

Samstag, 30. September 2017

Erntedankmalanders



ANFÄNGLICHE ÜBERLEGUNGEN


Am Anfang stand das Stadtkindsein. Und die Erkenntnis, dass es wenig Sinn ergibt, für einen Tag im Jahr Strohballen zu mieten, nur um wenigstens eine Andeutung der Hochstimmung herzuzaubern, in denen in ländlichen Gebieten mit noch echten Bauern und Feldern und so der Erntedankgottesdienst mit großem Besteck und pomp and circumstances begangen wird. Am Anfang stand also die Frage, wie man Erntedank mit einer Gemeinde feiern kann, in der Saat und Ernte außer bei Geranien keinen wirklichen Sitz im Leben mehr hat und man also auf umfangreiche und z. T. intellektuell recht anspruchsvolle Transferleistungen vertrauen muss. Philipp Beyhl schreibt dazu in seiner Dissertation von 2007: "Es bleibt ein unmögliches Fest, wenn es als Modifikation alter Ernte- oder vergangener Erntedankfeste verstanden wird". Auswege hieraus bietet sicherlich Brot für die Welt, wo jedes Jahr kluge und vielseitige Arbeitshilfen und Gottesdienstentwürfe herausgegeben werden - die aber bei uns in der Gemeinde schon in einer Kirche gut umgesetzt werden. 

Am Anfang stand auch Thanksgiving. Genauer gesagt, die Abschlussszene aus dem schlimm-großartigen Film Latter Days von C. Jay Cox, in dem es um das Coming-Out eines jungen Mormonenmissionars geht. Am Ende laufen die Fäden zusammen, und je öfter ich die Szene sehe, desto mehr entdecke ich Dinge, bei denen ich denke: So stelle ich mir Kirche vor, so soll Gemeinde sein. 

A toast, an affirmation, a prayer of thanks. I want you to know that, wherever we find ourselves in this world, whatever our successes or failures, come this time of year, you will always have a place of my table. And a place in my heart. 

Überhaupt, Jacqueline Bisset alias Lila Montagne würde eine ziemlich gute Pfarrerin abgeben. Die Schlussszene kann man übrigens hier angucken. 

Am Anfang stand auch ein Gemeindeprojekt, das Menschen unterschiedlicher Altersgruppen, Herkünfte und Milieuzugehörigkeit ein anderes Verhältnis zum Säen und Ernten beschert hat: Der Gemeinschaftsgarten Uellendahl, über den Stadtteil verteilte Hochbeete, die von Grundschulklassen, KiTa-Gruppen, Konfis mit Seniorinnen und Geflüchteten bewirtschaftet werden. Am Anfang war auch mal die Idee, draußen rund um die Beete zu feiern - aber in Wuppertal sind die Wetteraussichten im Frühherbst dann doch alles andere als sonnig...




DIE IDEE


Aus diesen Anfängen, und den übergeordneten Zielen, den Abend als gottesdienstliche Zeit zurückzuerobern und nochmal neu über das Abendmahl nachzudenken, entstand die Idee, im Gottesdienst aus den Ernteerträgen der letzten Saison etwas zu kochen. Und wenn schon, dann natürlich auf dem Altar Abendmahlstisch. Die Idee ist nicht neu, Thomas und Gabi Erne haben das u. a. 2012 schon einmal gemacht, aber wir wollten es ein bisschen weniger ostentativ haben, als es schnittbedingt im Video den Anschein hat: Das Kochen sollte ein natürlicher Teil des Gottesdienstes sein - gleichzeitig ging es natürlich auch, in bester Kirchentagstradition, um den "Ruf in die Gemeinschaft der Christinnen und Christen mit Christus, das Gedächtnis an sein Leben und Wirken für uns, die Vergebung von Schuld, de[n] Ruf zur Einheit, die körperliche Wahrnehmung mit allen Sinnen, die Heiligung des alltäglichen Essens und Trinkens, die Gegenwart des Auferstandenen unter uns, de[n] Blick in das Reich Gottes". Wir wollten dabei keinen ausdrücklichen Abendmahlsgottesdienst feiern - aber unter diesen Vorzeichen verschwimmen die Grenzen ohnehin. Die theologische Fachliteratur zum Thema "Essen und Glauben" ist, zumal im englischsprachigen Bereich, enorm breit gefächert - an dieser Stelle sei exemplarisch das wunderbare Buch "The Theology of Food. Eating and the Eucharist" von Angel F. Méndez Montoya (Hoboken NJ u. a. 2009) empfohlen - schon allein deswegen, weil der Verfasser öfters schon einmal in Wuppertal zu Gast war.

Also haben wir zu einem Koch-und-Ess-Gottesdienst am Samstag vor Erntedank eingeladen und über die verschiedenen Kanäle um Zutatenspenden gebeten - vorzugsweise Selbstgezogenes oder -geerntetes. In beiden Jahren kam jeweils genug zusammen. Beim ersten Versuch vor einem Jahr gehörte der Samstag den Konfis, mit ihnen haben wir das bewährte Abendmahlsbrot gebacken. Das hatte den Vorteil, dass die Konfis, die dann auch im Gottesdienst waren, sich sehr schnell als Gastgeber_innen verstanden haben. Dieses Jahr hatten wir nochmal eigens zum vorbereitenden Schnibbeln eine Stunde vor Beginn eingeladen. Einerseits aus Gründen der Arbeitsökonomie, andererseits machen wir auch die Erfahrung, dass die praktische Mithilfe vor allem in der Küche für viele eine Möglichkeit des (Wieder-)Einstiegs in das Gemeindeleben bietet. Wenn das Format erst einmal ein bisschen routinierter geworden ist, könnte man darüber nachdenken, diese Punkt auch nochmal religionspädagogisch zu unterfüttern, z. B. mit Gesprächsanregungen, Geschichten oder kleinen Inputs zu den jeweiligen Lebensmitteln oder zum Thema "Essen und Glauben".

Vielleicht vor dem Ablauf nochmal kurz etwas zum Setting: In der Kirche sind Esstische für jeweils 7-8 Personen aufgestellt und eingedeckt, inkl. einer Suppenterrine. Auf einem niedrigeren Tisch vor dem Abendmahlstisch (oben drauf zu kochen wäre wegen der Höhe arbeitssicherheitsmäßig problematisch) steht ein großer Topf mit Gemüsebrühe auf einer Induktionsplatte, daneben oder drum herum die vorbereiteten Zutaten - die Deko wird also fast komplett verwendet. Während der Lieder kommen die Zutaten je nach Garzeit in die Suppe; hier kann man gut Kinder beteiligen. In der Küche wartet außerdem ein weiterer vorbereiteter Topf - nach unseren Erfahrungen braucht man für 40 Leute zwei randvolle 10-Liter-Töpfe Suppe. Wenn es ans Essen geht, kommt von jedem Tisch eine Person mit der Terrine nach vorn - allein das ist ein zutiefst rührender und theologisch sehr stimmiger Anblick: Die Leute kommen zum Altar, um satt zu werden. Das Brot wird von den Konfis ausgeteilt. 




Es gibt noch einige andere interaktive Elemente, hier erstmal der Ablauf:


DER ABLAUF

  • Musik zum Eingang (fängt schon 5 Minuten vor Beginn an
  • Begrüßung und entfaltetes Votum, dabei strophenweise Lied: "Du bist da, wo Menschen leben/lieben/hoffen"; währenddessen: Kerzen auf den Tischen anzünden
  • Eingangsgebet (ist auf dem Liedblatt abgedruckt und wird von einer/einem Freiwilligen gelesen)
  • Lied
  • Lesung
  • Lied
  • Predigt 
  • Meditative Reflexion
  • Lied
  • Fürbitte/Sharing, dazwischen Liedstrophe
  • Unser Vater
  • Essen (nach 30 Minuten mal checken, wie weit die Leute sind)
  • Kurzes Dankgebet
  • ggf. Abkündigungen
  • Lied
  • Segen
  • Musik
Liedblatt: Auf dem Liedblatt ist der gesamte Ablauf notiert und kommentiert.
Meditative Reflexion: Die Predigt endet mit einer Frage. Letztes Jahr, als es um das Säen und Ernten ging, mit der Frage: "Für welche Ernte bin ich dankbar? Welche steht noch aus? Um welche Saat, die noch nicht aufgegangen ist, trauere ich?" Dieses Jahr, wo es um Menschen ging, von denen man etwas über das Leben und/oder den Glauben gelernt hat: "Was habe ich über Leben und Glauben gelernt? Wem bin ich dafür dankbar? Was habe ich selbst weiterzugeben?" 
Nebenbei: Das gottesdienstliche Aufschreiben von Dingen auf Zettel ist in den letzten Jahren in der Liturgiewissenschaft ein bisschen in Ungnade gefallen. Wir machen aber in der Gemeinde durchgehend die Erfahrung, dass Menschen ein Bedürfnis haben, etwas dazulassen und etwas weiterzugeben - allen voran die Generation der Ü70er, die so oft als Argument für traditionelle Gottesdienstgestaltung herhalten müssen. Im Kern geht es uns dabei außerdem in die Führung zum Gebet und damit um liturgisches Lernen:
Sharing: Auf dem Liedblatt steht die lapidare Anweisung: "Wer mag, liest etwas von seinem Zettel vor. Etwas, wofür wir danken. Etwas, worum wir bitten. Niemand muss. Aber wir beten gern. Dazwischen singen wir..." Zwei Handmikros werden zu diesem Zweck an den Tischen rumgereicht. Das klappt überraschend gut, je nach Fragestellung verschwimmen die Redeintentionen ein bisschen zwischen Mitteilung und Gebet, aber die Erfahrung ist, dass die Gemeinde das gut aushalten und mittragen und gestalten kann. 

ZU BEACHTEN

Nach zwei Versuchen ist es noch etwas früh, um hier handfeste Tipps zu geben. Aber ein paar Hinweise, wo wir selbst nachbessern wollen bzw. es nach dem ersten Gottesdienst schon getan haben: 
Das veränderte räumliche Setting bringt es mit sich, dass der_die liturgisch Verantwortliche und/oder Predigende seinen/ihren Platz neu suchen muss. Möglich ist, etwa die Predigt im Stehen am Platz zu halten - das setzt aber voraus, dass man nicht mit dem Rücken zu einigen Tischen steht. Andere Dinge funktionieren im Sitzen, etwa (in gut reformierter Tradition) die Gebete.
Moderative Ansagen müssen klar sein, damit die Gemeinde sich in dem fremden Ablauf und dem ungewohnten Setting leicht zurecht findet. Die unterschiedlichen Elemente des Gottesdienstes müssen zusammen gehalten werden, das setzt einiges an Vorüberlegen und eventuell auch an Ausprobieren voraus. Insbesondere beim Sharing muss die Ansage klar sein: Alle dürfen, niemand muss, es ist aber schon schön, wenn ein paar sich laut äußern. Das kennt unsere Gottesdienstgemeinde vom Bibliolog, ein bisschen Vorerfahrung mit dem Mit-Teilen eigener Sichtweisen und Erfahrungen ist also auf jeden Fall von Vorteil.
Die Technik muss vorher klar sein. Beim ersten Mal haben wir eine Viertelstunde rumprobiert, bis uns aufgefallen war, dass irgendjemand den ursprünglich bereitstehenden Topf gegen nicht-induktionsfähiges Kochgeschirr ausgetauscht hatte. Im Zweifelsfall: Magnet bereithalten, um das schnell kontrollieren zu können. Wenn man den richtigen Topf hat, reicht die Zeit auf jeden Fall, um die Zutaten weichzukochen. Es ist aber sinnvoll, jemanden auszugucken, der_die die Verantwortung für den Kochvorgang hat, damit man nicht während der Predigt die ganze Zeit zum Kochtopf schielen muss. 
Die Hilfstruppe beim vorbereitenden Schnibbeln braucht, wenn es sich hier nicht um ganz alte Hasen handelt, die sich in der Gemeindeküche zuhause fühlen und die Arbeitsabläufe kennen, irgendjemanden, der_die sie anleitet und neben den Aufgaben auch die Zeit im Blick hat. Das kann auch eine Möglichkeit sein, engagierte Gemeindeglieder an das Thema "Leitung" heranzuführen und ausprobieren zu lassen.
Das Kochen in der Kirche wurde von der Gemeinde durchgehend als sehr schön und stimmig und "richtig" empfunden - es kann aber Gemeinden geben, denen der Kirchraum insgesamt, vor allem aber der Altarraum heilig ist. Bei uns ist der Anblick von Tischen in der Kirche zwar nicht die Regel, aber auch nichts komplett Unbekanntes, außerdem übernachten alle Nase lang Konfis oder Kindergruppen in der Kirche. Wo der zu erwartende Widerstand gegen das Kochen in der Kirche so groß ist, dass man die ganze Zeit (und sei es unterschwellig) nur mit Apologetik beschäftigt ist, sollte man gut überlegen, ob man diese Gottesdienstform ausprobieren will bzw. ob das wirklich das ist, was die Gemeinde will oder braucht. Ähnliches gilt, wenn die Bestuhlung nicht flexibel genug ist - da wird es schnell zum Showkochen, und das sollte es zumindest nach unserem Konzept nicht sein. 

UNSER FAZIT

Wir erleben, dass die andere Gottesdienstzeit (Samstag, 17 Uhr) die Besucherstatistik mehr beeinflusst als das Setting des Gottesdienstes. Der Erntedankgottesdienst war in den letzten beiden Jahren in etwa so besucht wie ein leicht unterdurchschnittlich besuchter Sonntagsgottesdienst (40-50 Leute) - allerdings ist auch für weniger Leute Platz. Und: Es kommen andere Leute, das Durchschnittsalter ist deutlich jünger. Und: Die Rückmeldungen sind sehr positiv, für das nächste Jahr haben sich bereits mehrere zum Schnibbeln angemeldet. Auch im zweiten Jahr gab es schon mehrere mitgebrachte Kuchen. Für das nächste Mal wollen wir noch stärker überlegen, wie man Kinder besser einbinden oder wenigstens (für die Unter-Dreijährigen) altersgemäßer beschäftigen kann, und sei es mit einer Spielecke. Außerdem fangen wir eine halbe Stunde eher mit dem Schnibbeln an... Das Fazit ist jedenfalls: Wir machen auf jeden Fall weiter!

Freitag, 29. September 2017

Zurück ans Lagerfeuer



Ich mag Abendgottesdienste. Vor allem, weil ich, glaube ich, eher Nachteule als Morgenmensch bin. Aber auch das ganze andere. Das Licht, das anders ist, die Kerzen, die umso heller leuchten. Das gute Gefühl, wirklich Feierabend zu haben, wenn ich die Kirche verlasse. Mit einem Segen in die Nacht zu gehen. Die selten gesungenen Abendlieder, die so viel lebensweiser und so viel poetischer als das (für mich immer halb gelogene) "All Morgen ist ganz frisch und neu" über das Leben mit einem mutmaßlich bewohnten Himmel überm Kopf singen. 


In der evangelischen Landeskirche sind Abendgottesdienste selten. Unter der Woche findet abends trotzdem ein Großteil des kirchlichen Lebens statt: Gruppen und Kreise, aber vor allem auch Gremienarbeit. Was nicht weiter verwundert, da in den Sitzungen überwiegend ehrenamtlich Engagierte sitzen, die hier ihren Feierabend verbringen. 

Letztens bin ich auf die Forschungen der US-amerikanischen Anthropologin Polly W. Wiessner gestoßen. Die hat längere Zeit bei den Ju|'hoansi gelebt, einem indigenen Volk in der Kalahari-Wüste. Sie hat dort die Kommunikationsgewohnheiten untersucht und in einem sehr aufschlussreichen Aufsatz folgendes Ergebnis über den Unterschied der Gespräche am Tag und bei Nacht am Lagerfeuer festgehalten (wer nicht so viel Zeit hat, kann sich auch einen kürzeren Artikel zu Gemüte führen, aus dem das folgende Zitat stammt):

Tagsüber drehen sich die Gespräche vor allem um ökonomische Aktivitäten - Arbeit, Essensbeschaffung, Austausch über Ressourcen. [...] Es hat viel mit sozialen Themen und mit Kontrolle zu tun: Kritik, Beschwerden und Nörgelei. Abends und nachts lassen die Menschen los, werden lockerer und suchen Unterhaltung. Wenn es tagsüber Konflikte gegeben hat, lassen sie diese hinter sich und kommen wieder zusammen. Abendliche Gespräche haben mehr mit Geschichten zu tun, mit der Unterhaltung über die Charaktereigenschaften Dritter, die aber zum weiteren Netzwerk gehören, und mit dem Nachdenken über die Welt der Geister und wie diese die Menschenwelt beeinflussen. Es gibt auch Singen und Tanzen, was innerhalb einer Gruppe verbindet.

Wiessner bestätigt damit die umfangreiche Forschung vor ihr, die die Bedeutung der Kontrolle über das Feuer für die menschliche Entwicklung insbesondere im Blick auf sozial wirksame Narrative herausgestellt hat. Es scheint kein weiter Weg, von dort aus auf die Traditionsprozesse der biblischen Bücher zu schließen, deren Sitz im Leben ja zumal in früher Zeit das nomadische Lagerfeuer war. Wiessners Untersuchung macht deutlich, dass es hierbei nicht nur um bloße Unterhaltung und Wissensweitergabe, sondern auch um die Konstruktion sozialer und spiritueller Identitäten geht. Die Theologie weiß das schon länger, bei der Kirche bin ich mir nicht so sicher. 



Immerhin, eins haben wir behalten: Kerzen. Wiessner misst dem Feuer in der Nacht nicht nur als Schauplatz sozialer Interaktion, sondern auch als Medium große Bedeutung bei: 

Ausreichend heller Feuerschein unterdrückt die Melatoninproduktion und sorgt für Energie zu einer Tageszeit, zu der wenig wirtschaftlich produktive Arbeit geleistet werden kann, dabei gibt es genug Zeit. In der heißen Jahreszeit hilft die Kühle des Abends, aufgestaute Energie zu entladen, in der kalten Jahreszeit rücken die Leute zusammen. Die Gemeinschaft am Feuer setzt sich oft, wenn auch nicht immer, aus Menschen verschiedener Altersstufen und Geschlechter zusammen. Mond und Sterne wecken Imaginationen des Übernatürlichen ebenso wie ein Gefühl der Verwundbarkeit gegenüber bösen Geistern, Raubtieren und Feinden, denen man die Gemeinschaft entgegenhält. Körpersprache wird im Feuerschein weniger deutlich, das Bewusstsein für sich selbst und andere ist geringer. [...] Die Themen des Tages werden fallen gelassen, während kleine Kinder im Schoß von Verwandten einschlafen. [...] Die Sehnsucht nach dem Feuer als Schauplatz sozialer Vertrautheit und Offenheit im Gespräch bleibt in hohem Maße ein Bestandteil modernen Lebens und ein potenzielles Forschungsfeld. Obwohl Gespräche am Lagerfeuer in unserem täglichen Leben selten sind, bleiben sie ein geschätzter Bestandteil von Pfadfinderausflügen, Picknicks, Outdoor-Trips und ökotouristischen Unternehmungen, die auf soziale Intimität und das Teilen von Wissen zielen. Die Macht der Flamme wird in unseren Häusern durch Kamine und Kerzen reproduziert. Der dänische Geist des "hygge" (Gemütlichkeit in Gemeinschaft) ist vom planvollen Platzieren von Kerzen, "lebenden Lichtern" gekennzeichnet, um vertrauliche Gespräche zu ermöglichen.



Schon hier könnte man pausieren und darüber nachdenken, wo solche Erfahrungen im kirchlichen Leben jenseits von Konfifreizeiten ihren Sitz im Leben haben könnten. Wiessner geht aber noch einen Schritt weiter und wirft Fragen auf, die sich an der Möglichkeit der Tagesverlängerung durch elektrisches Licht entzünden - damit ist sie keineswegs allein, zahlreiche Vertreter religiöser und säkularer Spiritualitätsansätze thematisieren das in schöner Regelmäßigkeit: 

Wie Jäger und Sammler wächst unsere Vorstellungskraft, gewinnen neue Perspektiven und erweitert sich unsere Horizont anhand von Geschichten. Nichtsdestotrotz dringen künstliches Licht und digitale Kommunikation weltweit in die Nacht ein, verwandeln Stunden der Dunkelheit in ökonomisch produktive Zeit und überlagern so die Zeit für Geselligkeit und Geschichten. Der Tag endet auf Knopfdruck, ohne dass man sich die Zeit nimmt, Beziehungen zu pflegen, zu entdecken, zu reflektieren oder zu heilen, oder die Themen des Tages mit der Kohle verglühen zu lassen. 




Wiessners Gedanken beschäftigen mich schon eine ganze Weile, weil in der von ihr untersuchten Gemeinschaft am Lagerfeuer Dinge aufscheinen, die mir (und, wenn ich meinen Gemeindegliedern glauben kann, anderen auch) im kirchlichen Alltag fehlen: Das scheinbar ziel- und zwecklose Beisammensitzen, das Teilen von Geschichten und Erfahrungen, das gemeinsame Erleben des Ausgesetztseins und gleichzeitigen Gehaltenseins unter freiem Himmel. Mit Abendgottesdiensten allein ist das sicherlich nicht zu ersetzen, und natürlich lassen sich nicht alle Sitzungen am Abend einfach so abschaffen. Immerhin: In unserem Presbyterium (und in anderen auch) gibt es den klugen Grundsatz, dass nach 22 Uhr keine Beschlüsse mehr gefasst werden. Vielleicht lassen sich durch kleine Akzentverschiebungen bereits Dinge wiedergewinnen, die im Alltag leicht verloren gehen. Zum Beispiel dadurch, dass die unvermeidliche Andacht nicht zu Beginn, sondern am Ende einer Sitzung gehalten wird. Die wird nicht mehr nach dem Muster einer Mini-Predigt zur Tageslosung oder zu einem bestimmten Thema funktionieren, sondern wahrscheinlich zur Entwicklung oder Wiederentdeckung eigener Formen führen, die stärker auf Gemeinschaft, stärker auf Spüren, Erleben und Teilen abzielen.

Bewahre uns, o Herr, wenn wir wachen,
behüte uns, wenn wir schlafen,
auf dass wir wachen mit Christus
und ruhen in Dir.