Die Ticktack-Oma hatte so ein kleines Adressbuch. Beim Trauergespräch lag es auf dem Tisch, sonst hat es immer da gelegen, wo es hingehört: Neben dem Telefon, das noch ein eigenes Tischchen mit dazugehöriger Sitzbank hatte. Die Namen darin: Alle mit Bleistift reingeschrieben. Nach ihrem 90. Geburtstag hat sie es angeschafft, hat die Namen all derer, die noch lebten, übertragen. Es waren weniger als die, die sie rausgelassen hat. „Ich bin doch eine der Letzten“, hat sie gesagt, „und ich bin es leid, die Namen von denen, die ich überlebt habe, durchzustreichen und jedes Mal, wenn ich eine Postkarte schreiben will oder eine Nummer raussuche, darüber zu stolpern. Jetzt radiere ich sie aus.“ Dann hat sie gelacht. „Und wenn ich doch noch jemand Neues kennen lerne, ist genug Platz!“
Neunzigjährige haben oft diesen Blick auf Leben und Tod. Einige derer, deren Namen wir heute hier genannt haben, hatten schon lange gesagt: „Es ist doch gut. Es reicht mir mit dem Leben.“ Man guckt anders auf das Leben, wenn die Grenze langsam aus dem Nebel auftaucht. Man sortiert, gewichtet vielleicht nochmal neu: Das, was früher so wichtig war, verliert an Bedeutung. Und anderes wird unschätzbar wertvoll. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Der Ewigkeitssonntag gehört den Grenzgängern. Denen, die die Grenze passiert haben, und denen, die auf der anderen Seite stehen geblieben sind und ihnen nachblicken. Am letzten Sonntag des Kirchenjahres, wenn die Tage kürzer und die Menschen dünnhäutig sind, versammeln wir uns und rücken zusammen. Wir teilen das Brot, das wir haben, miteinander, reichen es herum, Hände berühren sich, Blicke werden getauscht, kurz, flüchtig, ein leises „Danke“, ein etwas lauteres „Amen“, eine stille Träne. Wir hören Namen, die etwas in uns zum Klingen bringen: Schmerz. Trauer. Sehnsucht. Dankbarkeit. Erleichterung. Oder irgendetwas anderes, das nur wir fühlen und das wir niemandem verraten. Wir hören Namen wie Abkürzungen für ganze Lebensgeschichten. Manche Geschichten sind länger, andere kürzer. Manche zu kurz. Alle ausnahmslos so vielschichtig und tiefgründig, dass kein Roman der Welt sie ganz erzählen könnte. Wir hören Namen, die von Klingelschildern, aus Kundenkarteien, Telefonbüchern und Geburtstagskalendern verschwunden sind – oder bei denen wir es einfach noch nicht übers Herz gebracht haben, sie aus dem Handy zu löschen.
Am Ewigkeitssonntag blättere ich in der Bibel und suche Trost, Hoffnung, Perspektive, und vielleicht auch eine Antwort auf die Frage: Was ist mit Erwin oder meinetwegen mit Tick-Tack-Oma, jetzt, wo sie tot sind? Ich suche – und finde. Im hinteren Teil des Alten Testaments, im zuletzt hinzugefügten Buch der Hebräischen Bibel, im Buch Daniel. Ganz am Ende lesen wir Visionen, für Menschen geschrieben sind, die an ihre Grenzen kommen. An die Grenzen des Ertragbaren, des Verstehbaren. Um sie herum wütet der Tyrann, sie werden geknechtet, verfolgt, unterdrückt. Sie klagen laut und mit Rech: Es kann doch nicht sein, dass das, was ist, alles gewesen sein soll. Es kann doch nicht sein, dass der Tod und seine weltlichen Handlanger das letzte Wort behalten. Ihnen wird ein Ausblick geschenkt, der über unsere Grenzen hinausführt:
[Denn] es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.
Wieder ein Buch. Ein Buch, in dem Namen verzeichnet sind. Nicht mit Bleistift – damit schreibt man im Himmel nicht. Gott schreibt auf wetterfestes Papier mit dokumentenechter Tinte, die auch unter Tränen nicht verläuft. Namen, die stehen bleiben. Die Lebensgeschichten in sich bergen im Buch des Lebens, das mit jeder Taufe ein neues Kapitel bekommt. „Ja, den Namen, den wir geben, schreib ins Lebensbuch zum Leben“, singen wir dann.
Möglich, dass diese Vorstellung nicht lückenlos tröstlich ist, nicht auf den ersten Blick. Möglich, dass unser Gottesbild sich mit dem Bild vom Nikolaus vermischt, der mit weißem Bart und gerunzelter Stirn streng über den Rand seiner Brille guckt, den Zeigefinger in seinem goldenen Buch, das zwei Spalten hat: Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind? Der alles aufgeschrieben hat, wirklich alles, und bei dem man nicht weiß, ob er ein Geschenk oder die Rute rausholt. Vielleicht hat Daniel sich das so vorgestellt. Dass Gott doppelte Buchführung macht. Es klingt zumindest so: „Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande.“ Ich kann diesen Satz nicht einfach weglassen, aber ich möchte versuchen, ihn zu verstehen. Und vorsichtig weiterdenken. Die Worte sind geschrieben in einer Zeit, die gar nicht so anders ist als unsere eigene. Es gibt Menschen, die anderen Leid zufügen. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Es gibt Verfolgung und Mord, seelische und körperliche Vergewaltigung, häusliche Gewalt und sträfliche Vernachlässigung. Es gibt Opfer und Täter, freiwillig und unfreiwillig.
Tick-Tack-Oma wusste das. Hat schnell umgeschaltet, wenn im Fernsehen etwas über die unmittelbaren Nachkriegsjahre kam, über das, was damals so gemacht wurde und über das man nicht spricht. Und hat, als die Demenz die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischte, manchmal leise und unzusammenhängend über die jüdische Familie mit dem Geschäft nebenan gesprochen und den Kopf geschüttelt und sich die Hand vors Gesicht gehalten, als wollte sie nicht, dass man sie ansieht. Ich weiß nicht, ob für Tick-Tack-Oma die Vorstellung ertragbar, ob es gerecht wäre, im Buch des Lebens auch die Namen derer zu lesen, die im Krieg oder kurz danach etwas in ihr kaputt gemacht haben. Und dass sie selbst, wenn Soll und Haben aufgerechnet würden, hart an der Grenze wäre. Wie alle anderen.
Namen bergen Lebensgeschichte.
Und so, wie manche ihren eigenen Namen kaum leiden mögen, bergen die Namen auch die Kapitel unserer Lebensgeschichten, die schwer ertragbar sind. Möglich, dass nicht jeder die Vorstellung mag, dass am Ende jeder Name laut aus dem Buch des Lebens vorgelesen wird, inklusive der ganzen peinlichen zweiten und dritten Vornamen nach irgendwelchen Verwandten, die man zu Lebzeiten, wo es nur ging, verschwiegen hat.
Möglich, dass es selbst im Himmel nicht ohne doppelte Buchführung geht, um der Gerechtigkeit willen. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass dort so gerechnet wird, wie wir es gewohnt sind. Kurz gesagt: Weil Christus einen Strich durch die Rechnung macht. Auf der Soll-Seite. Weil Gott die Ewigkeit nicht ohne uns verbringen will und keine Freude hat an Plätzen, die beim großen Festmahl im Himmel leer bleiben. Er hat das Chaos in Welt verwandelt. Er kann auch unseren Namen einen neuen Klang geben. Kann und wird sie neu durchbuchstabieren und unsere Lebensgeschichten so erzählen, dass wir sie neu und anders hören. Wir sind hier an der absoluten Grenze all dessen, was Theologie und Glauben leisten können. Dorthin wagen wir uns am Ewigkeitssonntag. Halb verschüchtert, halb trotzig. Und lassen Gott nicht. Nicht ohne Hoffnung. Gesät werden Menschen in eine Welt voller Erniedrigung, Erhöhte stehen auf. Gesät werden Zerbrechliche, Menschen voller Kraft von Gott stehen auf. Nicht ohne Versprechen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein.
Irgendwann, wenn dermaleinst die Zeit in Rente gegangen ist, wacht Tick-Tack-Oma auf. Mit einem Mal hell wach, wie man nur mit einem Mal wach ist, wenn man seinen eigenen Namen hört. Und sie steht auf, wundert sich, wie leicht das geht, spürt weder „Knie“ noch „Rücken“, schüttelt sich den Staub aus den Kleidern und fühlt sich überhaupt blendend. Geht langsam in den Flur, hört von irgendwoher leise Musik. Ihr Blick fällt auf ein Telefontischchen, ordentlich, mit Sitzbank, und auf das riesige aufgeschlagene Buch darauf. Namen über Namen, alle feinsäuberlich notiert, mit Tinte, nicht mit Bleistift. „Das ist die Gästeliste“, sagt jemand hinter ihr. Gott ist aus der Küche gekommen und hat die Schürze noch umgebunden und die Ärmel hochgekrempelt. „Gästeliste? Für heute?“ fragt Tick-Tack-Oma, und Gott sagt: „Für ewig.“ Und wieder fällt ihr Blick auf die endlosen Reihen von Namen, manche persönlich bekannt, manche aus Funk und Fernsehen, andere fremd und gänzlich unbekannt. Und ihr eigener natürlich. „Und die kennst du alle?“ fragt sie skeptisch, und Gott strahlt: „Jede und jeden Einzelnen.“
Amen.
Eindrücke aus dem Gottesdienst...
"Tick-Tack-Oma"! Mein bester Sandkastenfreund sagte das immer zu seiner. Und ich dachte, das wäre Familienslang.
AntwortenLöschenIch hatte eine, und hatte das auch gedacht. Aber dann habe ich hier immer wieder welche beerdigt - scheint tatsächlich weit gebräuchlich zu sein.
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