Sonntag, 16. Juni 2013

Sehen. Und gesehen werden. - Predigt über Lk 19,1-10




Jesus kam nach Jericho; sein Weg führte ihn mitten durch die Stadt. Zachäus, der oberste Zolleinnehmer, ein reicher Mann, wollte unbedingt sehen, wer dieser Jesus war. Aber es gelang ihm nicht, weil er klein war und die vielen Leute ihm die Sicht versperrten. Da lief er voraus und kletterte auf einen Maulbeerfeigenbaum; Jesus musste dort vorbeikommen, und Zachäus hoffte, ihn dann sehen zu können. Als Jesus an dem Baum vorüberkam, schaute er hinauf und rief: »Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.« So schnell er konnte, stieg Zachäus vom Baum herab, und er nahm Jesus voller Freude bei sich auf. Die Leute waren alle empört, als sie das sahen. »Wie kann er sich nur von solch einem Sünder einladen lassen!«, sagten sie. Zachäus aber trat vor den Herrn und sagte zu ihm: »Herr, die Hälfte meines Besitzes will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand etwas erpresst habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.« Da sagte Jesus zu Zachäus: »Der heutige Tag hat diesem Haus Rettung gebracht. Denn«, fügte er hinzu, »dieser Mann ist doch auch ein Sohn Abrahams. Und der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.«




Die Predigt beginnt von der Empore aus, auf die der Prediger sich im Laufe des Liedes vor der Predigt zurückgezogen hat.


Liebe Gemeinde,

ich sehe euch, aber ihr seht mich nicht. Eigentlich gar nicht so schlecht.

Ich sitze hier oben auf der Empore. Aber ich könnte auch jemand ganz anderes, irgendwo ganz woanders sein:

Ich bin vielleicht ein Zaungast des Elbhochwassers, stehe auf der trockenen Seite eines Deiches, verschwimme in der neugierigen Menge, halte eine Kamera oder ein Fotohandy schützend zwischen mich und die, die Sandsäcke durch die hüfthohe Brühe schleppen.

Ich bin vielleicht der junge Mann, der nachts fiebernd und sehnsuchtsvoll auf den Computerbildschirm starrt.  Nicht das, was Ihr denkt. Keine Schmuddelseiten, nein: Ich klicke auf dem Facebookprofil einer bestimmten Person herum, die mich nachts nicht schlafen lässt, die ich nie im wirklichen Leben ansprechen würde, weil sie mir das Herz bis zum Hals schlagen lässt. Gucke in ihr digitales Fotoalbum, bleibe an einem Bild vom Sonnenuntergang über dem Rhein hängen und träume mich hinein, hätte so gern mit ihr dort gesessen und nach dem Foto ihre Hand genommen.


(c) Andrea Damm / pixelio.de
Ich sehe euch, aber ihr seht mich nicht. Wer ich bin? Eigentlich egal, ich bin einer von vielen, die nicht unbedingt in der ersten Reihe sitzen wollen oder die lieber erst einmal aus sicherer Entfernung gucken, was sie erwartet. Die lieber sehen als gesehen zu werden.

 

Der Prediger verlässt die Empore und spricht von der Kanzel weiter.


Jetzt ist es anders. Ich sehe euch – und ihr seht mich. Wir sehen uns an. Das verändert vieles. Ich bekomme von Euch Reaktionen auf das, was ich sage - ein Stirnrunzeln, ein fragender Blick, ein zustimmendes Nicken oder ein energisches Kopfschütteln – und muss das, was ich sage, plötzlich ganz anders verantworten: Die, die mich kennen, messen das, was ich von der Kanzel erzähle, daran, wie sie mich im Alltag erleben.

Wir sehen uns an. Das verändert vieles. Der Zaungast wird in das Geschehen verwickelt, das distanzierte Beobachten geht auf in einer Beziehung. 



So wie bei Zachäus. Auch so ein Zaungast des Lebens. In mancher Hinsicht kann er selbst nichts dafür, weil er der oberste Zöller ist und klein, weil er schon aufgrund seines Berufs am Rand der Gesellschaft steht und weil viele Menschen zum Zuschauen verdammt werden, wenn sie den Normmaßen der Mehrheit nicht entsprechen. Und gleichzeitig findet sich Zachäus mit dem Dasein am Rand ab, er zieht sich selbst auf die schützenden Zuschauerränge zurück, als es spannend wird:



„Jesus kommt!“ Sein Ruf eilt ihm voraus über das Land: Da ist einer, der heilt Kranke und gibt Menschen ihre Würde zurück. Die einen spüren einen Aufbruch von ausgetretenen Pfaden, andere finden: Er erinnert uns wieder an das, was wichtig ist. Manche sind beeindruckt, wie er sich den Menschen zuwendet. Andere wollen vielleicht nur mal sehen, ob das mit dem Brotteilen und dem Wundertun wirklich funktioniert, manche möchten einfach Teil dieser Gemeinschaft, dieser großen Bewegung sein, und noch andere wollen ausprobieren, ob er auch für ihre Fragen eine Antwort hat. Wir wissen nicht, was davon Zachäus so neugierig auf Jesus macht. Aber wir können selbst vielleicht auch gar nicht immer sagen, was genau uns dazu bewegt hat, an einem bestimmten Sonntag, vielleicht sogar heute, ziemlich früh aufzustehen und in die Kirche zu gehen.



Zachäus wollte Jesus unbedingt sehen. Erst mal nicht mehr, nur sehen, einen Blick draufwerfen und sich eine Meinung bilden. Und stellt sich eben nicht in die erste Reihe, wo ihm ja auch kein anderer den Blick versperren würde, sondern klettert in einen Maulbeerbaum. Zum Zuschauen ist das der ideale Platz:

(c) Wolfgang Dirscherl / pixelio.de
Ein stabiler, nicht allzu hoher Stamm, eine ausladende Krone mit wenigen, aber dicken Ästen, auf denen man bequem sitzen kann, und ein dichtes Blätterwerk, wie eine Wand aus immergrünem Laub, das von innen genug Löcher zum Durchgucken bietet und Blicke von außen abhält. Wie eine natürliche Theaterloge, ideal, wenn man sehen will, ohne gesehen zu werden, wenn man erst mal beobachten will, alles aus sicherer Entfernung.

Bis dann plötzlich alles anders wird.

Zwischen den Blättern des Maulbeerbaums hindurch blicken zwei Augen, die sagen: Ich sehe Dich. Ich weiß, wer du bist. Und Zachäus hört, wie sein Name gerufen wird, zuckt vielleicht zusammen, zieht den Kopf ein, hält den Atem und spannt die Schultern an und wartet auf das, was sonst immer kommt, wenn die Leute ihn, den kleinen, reichen Oberzöllner auf der Straße erkennen: Abfällige Bemerkungen, offene Beschimpfungen, wütende Fragen von denen, die sich ungerecht behandelt fühlen und damit vielleicht sogar Recht haben. Aber – davon kommt nichts. Stattdessen: „Komm runter von deinem Baum – heute muss ich bei Dir zu Gast sein.“


Sehen und gesehen werden. Und das verändert vieles. Der Zaungast, der eigentlich nur gucken wollte, wird hineingezogen, verwickelt in das Geschehen und stellt fest: Es geht um mich, um uns. Hier will jemand mit mir zu tun haben, noch mehr: Er braucht mich. Nicht als Zuschauer, sondern als Mitspieler. Das distanzierte Beobachten geht auf in einer Beziehung.



Zachäus stieg eilends vom Baum herab und nahm ihn auf mit Freuden.



Hier könnte die Geschichte zu Ende sein, wir könnten gleich zum Abendmahl gehen und
(c) Dieter Schütz / pixelio.de
„ihn mit Freuden aufnehmen.“ Wären da nicht die anderen. Die, von denen Zachäus wahrscheinlich auch nicht gesehen werden wollte. Die machen es ja oft schwer, die anderen. Die ihrerseits auf ihren Zäunen oder hinter ihren Gardinen sitzen, mit neugierigen Blicken alles verfolgen und laut oder leise kommentieren, was sie sehen. „Wie kann er sich nur von so einem Sünder einladen lassen.“



In vielen Auslegungen dieser Geschichte kommt die Menge nicht besonders gut weg. Erst versperren sie Zachäus die Sicht, und dann sind sie auch noch so hartherzig, so engstirnig und kleingeistig, dass sie ihm diesen besonderen Augenblick mit Jesus nicht gönnen und weiter an der Vergangenheit kleben.



Ich glaube nicht, dass wir uns die anderen so leicht vom Hals halten können, und Zachäus auch nicht, denn ihn holt seine Vergangenheit ein. In dieser Menge steht vielleicht der Händler, dem er sein halbes Tagesgeschäft abgeknöpft hat. Vielleicht eine Frau, deren Mann die Römer ins Gefängnis gesteckt haben, also die, in deren Lohn und Brot Zachäus steht. Vielleicht der Bettler, der an der Straßenecke sitzt und an dem Zachäus jeden Tag auf dem Weg zum Zollhäuschen vorbeikommt und für den er trotz seines Reichtums nicht einmal ein paar kleine Münzen übrig hat. In der murrenden und motzenden Menge stehen all die Leute, die uns beobachten, wenn wir sonntags in die Kirche gehen und kritisch fragen, woran man unseren Glauben denn im täglichen Leben erkennt.



Zachäus stellt sich den Fragen der anderen, stellt sich seiner Vergangenheit und zieht seine Konsequenzen: Die Opfer seiner Machenschaften werden entschädigt, die Hälfte seines Besitzes geht an die, die es nötiger brauchen als er. Das kommt für Manchen vielleicht zu spät, aber: Es kommt.

Und wahrscheinlich hätte sich Zachäus seiner Vergangenheit nicht stellen können, wenn ihm nicht vorher gesagt worden wäre: Ich sehe dich, und ich will bei dir zu Gast sein, trotz allem.



„Heute ist diesem Haus Rettung (Luther: Heil) wiederfahren“, so fasst Jesus das Geschehene zusammen, das hinter diesem nicht ganz einfachen theologischen Spezialwort steckt: Ich sehe - und werde gesehen, gebe den sicheren Platz am Rand auf und trete ein in eine Beziehung zu dem, der mich sieht. Und kann nur staunen, was das mit meinem Leben macht.



Ein Zaungast des Elbhochwassers steht auf der trockenen Seite des ächzenden Damms, hält schützend die Kamera zwischen sich und das nasse Chaos – und spürt plötzlich, wie ihn der Blick von einem trifft, der auf der anderen Seite Sandsäcke schleppt, ein Blick, der ihn aus der Menge der Schaulustigen herauszieht und sagt: Wir brauchen Dich.



An irgendeinem Computerbildschirm sitzt ein junger Mann und betrachtet sehnsuchtsvoll die Fotos der Person, die ihn nachts nicht schlafen lässt. Verfolgt ihre Aktivitäten – und wäre so gern dabei. Hört plötzlich ein leises Tonsignal, blickt erstaunt zum oberen linken Bildschirmrand, liest: Sie haben eine Nachricht. Die Maus tastet sich vorsichtig zu dem kleinen Symbol mit dem Briefumschlag – und das Herz überschlägt sich, klopft schneller, als er die Zeilen von der Person liest, die offensichtlich auch nicht schlafen kann, ihm eine Nachricht schickt und fragt: „Wollen wir mal was trinken gehen? Nur wir zwei?“



Irgendwo in einer Kirche lässt sich jemand von der Menge mitreißen, steht langsam von dem neugierig-distanzierten Beobachterposten irgendwo am Rand auf den hinteren Kirchenbänken auf,

findet sich plötzlich mit anderen Menschen um den Altar versammelt, blickt in Gesichter, manche fremd, manche bekannt, und spürt in seiner Hand die kleine Oblate, die ihm ein Pfarrer in die Hand gedrückt hat. Er hatte nicht darum gebeten, nur die Hand aufgehalten, nicht einmal bewusst. Blickt auf die kleine Scheibe aus Esspapier, in seinen Ohren klingt ein Satz, der ihm dabei gesagt worden war, oder der ihm vielleicht aus der Predigt noch nachhängt: Heute muss ich bei dir zu Gast sein.



Und nichts ist, wie es war.



Amen.

(c) Andrea Damm / pixelio.de



Donnerstag, 13. Juni 2013

Ciao, Kasten!

Das Fenster der Kirche zur Welt, ihr Aushängeschild, ihre Visitenkarte ist...? 
www.lutherverlag.de
Richtig, der Schaukasten! Zumindest, wenn man den zahlreichen Hilfsangeboten im Internet und den Professionalisierungsmöglichkeiten durch kirchliche Medienwerkstätte Glauben schenken darf. Wer noch zweifelt, dass die Kirchen mit diesem spezifischen Angebot medial ganz weit vorne liegen, gefolgt höchstens noch von den Schulen, der möge das einfach googlen - unter den etwa 5.240 Treffern für "Schaukastengestaltung" liegen kirchliche Angebote auf den vordersten Plätzen und lassen die Unterrichtsmethodenpakete für Sachkunde und Politik in der Mittelstufe weit hinter sich. 

Eine im Internet von einer der evangelischen Freikirche nahe stehenden Privatperson bestückte Schaukastenwerkstatt nimmt potenziellen Kritikern gleich am Anfang den Wind aus den Segeln: "Schaukasten - wozu brauchen wir sowas?" Na, ganz einfach:
Wenn wir durch unsere Städte gehen, sehen wir viele professionell gestaltete Schaufenster. Die Besitzer wollen etwas verkaufen und uns Kunden mit diesen Schaufenstern anlocken.
Auch wir haben etwas zu „verkaufen“.
Das Leben!
Leben mit und durch unsern Herrn Jesus Christus.

Nutzen wir die Chance die sich uns mit dem Schaukasten bietet? Gestalten wir ihn so interessant, das Menschen stehen bleiben, neugierig werden auf unsere Gemeinde und unseren Glauben? Oder ist unser Schaukasten nur ein Aushang von Terminen?
Ein wenig stolpere ich ja. Über Formulierungen wie "wir haben etwas zu 'verkaufen'". Noch mehr allerdings über "professionell gestaltet". Bei den meisten Gemeindeschaukästen denke ich eher: "Professionell... naja... Aber ganz viel Mühe haben sie sich gegeben!"

Damit sind eigentlich die Themen benannt, die mich beim Anblick eines Schaukastens (ich muss allerdings gestehen, dass ich oft dran vorbei renne) jucken:  

Wie ist das eigentlich mit der Werbung? Oder meinentwegen: Mit dem Anlocken? Der Predigttext letzten Sonntag hat ja den Predigenden aufgebürdet, sich geradezu marktschreierisch von der Kanzel zu gebärden. Und wo Luther und andere in Jeremia 20,7 den müden Propheten sagen lassen: Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen, könnte man eigentlich übersetzen: Du hast mich verführt... 
Ich tue mich mit dem Gedanken, dass wir eine Ware zu verscheuern haben, trotzdem schwer, selbst wenn man das Verb in Anführungszeichen gewandet, dieses schriftliche "Augenzwinkern" des "kleinen Mannes", das "verschmitzte" Signal: "Vorsicht, jetzt wirds 'geil'!" Oder, im besten aller Fälle, das leise Eingeständnis, dass die Formulierung doch "blöd" war, man aber zu faul ist, sich selbst was auszudenken. 

Aber nehmen wir doch, nur für den kurzen Moment, mal an, dass ja. Und bleiben wir bei für einen kurzen Moment bei dem wahnwitzigen, abwegigen, ja, fast ketzerischen Gedanken, die evangelische Kirche hätte hier etwas nachzuholen - tut es denn so ein Schaukasten wirklich? Egal, wie viele Moosgummiplatten oder Aquarelle man dort hineintackert, egal, wie viele Kalendersprüchlein oder mahnende Aufforderungen zum Glauben einem einfallen mögen - wahrscheinlich sagen dann am Ende doch nur die, die sowieso schon mit dabei sind, lächelnd: "Ach, schön."

Auf dem Weg durch die Gemeinde bin ich heute an der benachbarten Neuapostolischen Kirche vorbei gekommen. Von der mag man theologisch halten, was man will - ihre Öffentlichkeitsarbeit ist nicht die schlechteste. Zumindest hat mich ihr Schaukasten dazu gebracht, im strömenden Regen stehen zu bleiben, das Handy zu zücken und zu fotografieren und mir den ganzen Nachhauseweg lang Gedanken über das Thema "Werbung" zu machen. 

Es ist nicht so ganz gut lesbar, weil irgendein Plackfissel (kölsch für "schäbiger Mensch") mit einem Stift in der Hand drauf rumgeschmiert hat, aber was sie meinen, wird doch deutlich:


Ich find's irgendwie gut.

Was sagt Ihr zum Thema "Glaube und Werbung?" (Die Anführungszeichen sind hier erlaubt, weil sie der Hervorhebung dienen.) 

Montag, 10. Juni 2013

"Hilfe, ich soll eine Fürbitte halten...!" Erste Hilfe für Betroffene

„… dann halten Sie doch einfach eine Fürbitte!“ Das sagen wir Pastorinnen und Pastoren gern, wenn bei Gesprächen vor Taufen und Trauungen der Wunsch nach Mitwirkung von Verwandten und Freunden geäußert wird. Es ist auch eine schöne Möglichkeit: Ein Gottesdienst gewinnt dadurch, wenn mehr Stimmen als nur die der Liturgen in ihm laut werden. Und das Beten mit- und füreinander gehört ohnehin zum Wichtigsten, was man mit- und füreinander tun kann, auch in Familien - a family that prays together stays together war der vielleicht etwas vereinfachende, aber sehr eingängige Slogan einer katholischen Kampagne im England der 1950erjahre. 

Foto von blog.prinz.de
Allerdings: Einfach ist so eine Fürbitte wahrscheinlich in erster Linie für uns selbst, die wir fast jeden Sonntag neue verfassen, von uns selbst aus alten Gottesdiensten klauen oder aus dem geschätzten Regalmeter mit Gebetsliteratur abschreiben, der in jedem pastoralen Arbeitszimmer zu finden sein dürfte. Für die betroffenen Paten oder „Trauzeugen“ (in Anführungszeichen deswegen, weil in evangelischen Gottesdiensten nicht getraut, sondern eine bereits vollzogene Eheschließung gesegnet wird) ist da manchmal guter Rat teuer. Nicht jede betet selbst so regelmäßig und selbstbewusst, dass sie sich ohne weiteres nach vorne stellt und stellvertretend für die Anwesenden das Wort ergreift. Mancher ist sich womöglich unsicher, ob er nicht Gefahr läuft, irgendwelche ungeschriebenen Regeln zu brechen, und seien es die der Grammatik kirchlicher Binnensprache. Kein Wunder also, dass die Frage nach Fürbitten manche online-Diskussion entfacht und manchen Websites durchaus unterschiedlicher Qualität Besucherinnen und Besucher zutreibt. 

Bei der Suche im Internet stellt sich heraus, dass es von „offizieller“ Seite keinen Leitfaden gibt – weder die Evangelische, noch die Katholische Kirche bieten leicht zugängliche Orientierungs- und Formulierungshilfen an. Das finde ich äußerst schade, zumal ich glaube, dass das Formulieren einer Fürbitte auch ein interessanter geistlicher Prozess sein kann.


Aber, genug der Vorrede, hier nun meine sieben Schritte für Betroffene als ein Weg zur eigenen Fürbitte – entscheiden Sie selbst, welche für Sie brauchbar und wichtig sind.

1. Nehmen Sie sich Papier, Stift - und Zeit!

(c) Lupo / pixelio.de
Das sei an dieser Stelle gesagt: Sie haben eine schöne, aber eben doch eine Arbeit vor sich. Das braucht Zeit und Ruhe. Setzen Sie sich irgendwo hin, wo Sie ungestört sind und wo Sie sich entspannen und gleichzeitig konzentrieren können - bei manchen ist das der Schreib-, bei anderen der Küchentisch, der Lieblingssessel oder eine Bank im Garten unter der Birke. Stellen Sie Ihr Smartphone auf lautlos und nehmen Sie Papier und Stift mit - so mancher guter Einfall ist schon sang- und klanglos im Nirwana des Gedankenwirrwarrs, das leicht entsteht, wenn wir erst ans Überlegen kommen, wieder untergegangen.

2. Fragen Sie sich: Um was bitte ich? 

Gönnen Sie sich ein bisschen Zeit und Ruhe, um sich diese Gedanken zu machen. Was wünschen Sie dem Brautpaar und seiner Familie, was hoffen Sie für das Leben des Täuflings und seiner Eltern? Was befürchten Sie, bzw. was wollen Sie auf gar keinen Fall? Und was brauchen Sie als Angehörige/r, um ihnen in den verschiedenen Lebenssituationen beizustehen? Schreiben Sie auf, was Ihnen in den Sinn kommt, ohne gleich danach auszusortieren, welche Formulierungen im Gottesdienst „schön klingen“.

Gönnen Sie sich die Zeit für diesen ersten Schritt, Sie ahnen es vielleicht schon: Hier geht es durchaus ans Eingemachte, genauer gesagt: Um Ihre Vorstellungen von einem gelingenden Leben - und um Ihre Erfahrungen, wo solche Vorstellungen nicht erfüllt worden, Träume geplatzt sind und wo Ihr Leben unerwartete Wendungen genommen hat. Und um die Frage, wie solche Erfahrungen Ihren Glauben beeinflusst, Ihre Vorstellungen von und Ihre Beziehung zu Gott verändert haben. 

3. Machen Sie sich klar: Wen bitte ich?


Es klingt überflüssig, sei aber trotzdem noch einmal gesagt: Beten ist Reden mit Gott. Das heißt: Mein Ansprechpartner auch in der Fürbitte ist Gott, niemand anderes. Das schließt etwa folgenden gute Wünsche aus: „Mein liebes Patenkind, ich möchte immer für dich dasein…“ und so weiter. Das ist ein schönes und wichtiges Versprechen – aber das sollten Sie Ihrem Patenkind an einer anderen Stelle (und, gerade bei Säuglingen) auch zu einem Zeitpunkt (nochmal) geben, wenn das Kind es versteht. Auch Glückwünsche an das Brautpaar kommen später beim Essen besser. 

Das führt gleichzeitig eine besondere Art der Sprache mit sich – wir reden nicht über Gott und über das Beten („ich bitte Gott um…“), sondern mit ihm („Gott, ich bitte dich um…“). Das heißt auch, dass man nicht unter der Hand Appelle an die Anwesenden richtet – schon allein deswegen nicht, weil die Angesprochenen in dieser Situation nicht reagieren können.

Und das hat Auswirkungen auf das, um was Sie bitten. Ein kluger Mensch hat mal gesagt: "Man soll den lieben Gott nicht um das bitten, was man selbst tun kann." Es gibt Fälle, in denen das eindeutig ist und in denen die genaue Unterscheidung nicht nur unser Beten, sondern auch unser Handeln beeinflussen kann: Man kann Gott um gerechte Arbeitsbedingungen für die Kinder in den Textilfabriken von Bangladesh bitten. Man kann auch erst einmal aufhören, selbst die Kleidung zu kaufen, die genau dort für Centbeträge produziert wird. Aber natürlich ist das pauschal, und natürlich ist die Unterscheidung nicht immer so einfach. 
Vielleicht hilft hier das Konkrete: „Gott, stell' NN Menschen an die Seite, die für ihn da sind und ihm zuhören“ ist eine häufig vorgetragene Fürbitte bei Taufen, gerade bei kleinen Kindern. Das ist in hohem Maße wünschenswert. Aber: Bei der Taufe versprechen mindestens die Eltern und Paten, im Rahmen ihrer Möglichkeiten für das Kind da zu sein. Damit soll dieser Aspekt gar nicht ganz rausfallen, aber ein bisschen erweitert werden. Zum Beispiel, indem man für diese Menschen um Geduld bittet, um das richtige Maß, das Gefühl für die eigenen Grenzen und um den langen Atem, den es braucht, wenn man ein Kind auf seinem Weg begleiten will.

4. Probieren Sie es aus!

Klingt vielleicht zunächst komisch, aber: Wenn Sie im Gottesdienst eine Fürbitte halten, dann tun Sie nichts anderes als das, was Sie zuhause abends vor dem Schlafengehen, sonntags in der Kirche, in schwierigen Situationen stoßseufzend ohnehin tun: Beten.

(c) Isinor / pixelio.de
Vielleicht tun Sie das aber auch gar nicht so regelmäßig. Vielleicht gehören Sie zu denen, die in einem vollen Alltag Schwierigkeiten haben, dafür Platz zu reservieren, oder die von sich sagen: "Ich weiß gar nicht richtig, wie das geht". Das ist überhaupt nichts Schlimmes, Sie sind auch nicht allein damit - und haben jetzt eine Supergelegenheit, damit anzufangen! 

Probieren Sie Ihre Bitten, von denen jetzt einige auf Ihrem Zettel stehen dürften, aus: Lesen Sie sie laut - und gehen Sie mal davon aus, dass der, den Sie ansprechen, Ihnen auch jetzt schon zuhört. Und seien Sie ruhig offen für die Vorschläge, die Ihnen dabei in den Mund gelegt werden.

5. Fragen Sie sich: Mit wem bitte ich?


Wenn Sie im Gottesdienst eine Fürbitte vortragen, dann tun Sie das stellvertretend für alle anderen, die idealer Weise am Ende laut und einstimmend „Amen“ sagen können. In einem Trau- oder Taufgottesdienst sind eine Menge Menschen mit dabei, die sehr unterschiedliche Lebensgeschichten und Lebensentwürfe haben. Auch deswegen ist eine Fürbitte mehr als eine Auflistung Ihrer persönlichen Wünsche. 
Natürlich kommen nie alle in gleichem Maße in einer Fürbitte vor – dafür sind Menschen zu verschieden. Aber bedenken Sie, dass in einem Traugottesdienst die Bitte „Erhalte alle Ehen“ problematisch sein könnte. Denn bei aller Sympathie für Verbindlichkeit in Ehen: Es gibt weiß Gott auch Beziehungen, von denen man nur hoffen kann, dass einer von beiden die Reißleine zieht, bevor der Schaden noch größer wird. 

Nehmen Sie sich auch hier ein bisschen Zeit und fantasieren Sie ein bisschen: Wer außer Ihnen sitzt noch in diesem Gottesdienst? Welche Geschichten haben die anderen – und was erhoffen sie sich von Gott? Wie gesagt: Es geht hier nicht um den Zwang zu Vollständigkeit, eher um eine Einladung, den Blick zu weiten. Und damit sind wir schon beim nächsten Punkt: 

6. Weiten Sie den Blick.


Die Fürbitte ist ein klassischer Punkt des Gottesdienstes, an dem die Gottesdienstgemeinde den Blick weitet und auch diejenigen mit aufnimmt, die nicht mit in der Kirche sind. Gerade bei einem Traugottesdienst oder einem separaten Taufgottesdienst ist das wichtig, denn beides sind keine familiären Privatveranstaltungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit, sondern Feiern der Gemeinde.  Und die hat eine Verantwortung für die Welt. 

Die Struktur der Fürbitte kann dabei diesen Prozess der Öffnung widerspiegeln – beginnen Sie mit der Fürbitte für die Familie, machen Sie dann den Kreis etwas größer und nehmen Sie die Gemeinde und oder die Stadt mit hinein, um dann zum großen Weltgeschehen zu kommen, zum Beispiel, in dem Sie um Weisheit, Geduld und Mut für die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger beten – nötig ist das allemal.  Unter diesem Aspekt können Sie die Punkte eins bis drei noch einmal wiederholen. 

7. Feilen Sie an der Form.

Jetzt geht es an das Ausformulieren, und erst jetzt ist die Zeit für kleinere Schönheitskorrekturen an den einzelnen Formulierungen: Welche Bitten kann man zusammen fassen, in welcher Reihenfolge tragen Sie sie vor? Gibt es Wiederholungen, die man entweder durch sprachliche Variationen auflockern könnte - oder kann man sie bewusst stark machen, um eine Regelmäßigkeit im Sprachrhythmus zu gewinnen? Beides hat seinen Reiz.
Erliegen Sie nicht der Versuchung, Ihre eigenen Formulierungen ins Kirchendeutsche zu übersetzen - es wird allen Anwesenden gut tun, mal keine theologisierenden Formulierungen zu hören!

Wenn Sie nicht der/die einzige Fürbittende sind, sind hier auch Absprachen mit den anderen Beteiligten dran. Falls Sie die noch nicht kennen - umso besser! Einigen Sie sich darauf, in welcher Reihenfolge Sie einzelne Partien übernehmen. 


In katholischen Gottesdiensten ist es üblich, dass die ganze Gemeinde nach den Einzelbitten oder nach thematisch zusammengefassten Bitten sagt: "Herr, erhöre uns". Oder etwas in der Art. Ich finde das sehr schön, weil so alle anderen stärker beteiligt sind - allerdings ist es eher unüblich in evangelischen Gemeinden. Helfen Sie dann einfach den Leuten, indem Sie am Anfang eine kurze Regieanweisung geben: "Wir halten Fürbitte und ich bitte Euch, nach den Bitten mit uns einzustimmen in den Ruf: Herr, erhöre uns." Und markieren Sie in der Fürbitte, wann es so weit ist - zum Beispiel, indem Sie sagen: "...gemeinsam rufen wir zu Dir: Herr, erhöre uns.

Jetzt kann doch eigentlich nichts mehr schief gehen. Und bei Fragen helfen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort weiter!

Sonntag, 9. Juni 2013

Durst?! - Predigt über Jesaja 55,1-5



Liebe Gemeinde,

Durst. Kennen wir. Gerade jetzt, wenn die Tage wärmer und die Abende länger werden. Die trockene Kehle nach einem tatkräftigen Vormittag im Garten, die Vorfreude auf ein gepflegtes Bier nach der Radtour. Kennen wir. Das Deutsche hat übrigens kein Wort für das Gefühl, den Durst gestillt zu haben. Wir haben so ein Wort in unseren Breitengraden nie gebraucht, weil es nichts Außergewöhnliches oder Erwähnenswertes ist, wo überall Wasser zu bekommen ist: Wo in jedem Wald ein Bach fließt, früher auf jedem Dorfplatz ein Brunnen stand und heute ein Kiosk mit vollem Kühlschrank. Wo wir es uns leisten können, Wasserflaschen als Accessoires zu tragen und buchstäblich über den Durst zu trinken. Also nochmal: Durst. Kennen wir… wirklich?

Kennen wir den Durst, der in der Kehle brennt und hektisch macht, weil keine saubere Quelle in Sicht ist oder den Hunger, der zum Trieb wird, weil das, was wir haben, nicht ausreicht, nie genug sein kann?

Kennen wir den Durst, der uns lähmt und in die Knie zwingt? So, wie es der Überlebende eines Flugzeugabsturzes über der Wüste beschreibt:

(c) Thomas Schaal / pixelio.de

Ich bin schon eins mit der Wüste. Ich bringe keinen Speichel mehr hervor und auch keine Bilder, nach denen ich mich sehnen könnte. Die Sonne hat den Quell der Tränen ausgetrocknet ... [Wir holen] den letzten Atem aus unserer Brust […]. Aber unsere Stimmen tragen keine dreißig Meter mehr. Die Stimmbänder sind vertrocknet.

Also: Durst – kennen wir? Ich glaube ja. Vielleicht nicht als den Hunger und Durst, der sich mit Essen und Trinken stillen lassen könnte. Vielleicht eher als Sehnsucht, mal rastlos, lechzend, mal erstickend und lähmend. Nach etwas, das immer gleich entfernt bleibt, wie schnell und weit wir auch rennen und rennen, wie der Anfang eines Regenbogens. Vielleicht als eine Leere, die sich nicht füllen lässt, wie viel wir auch hineinschaufeln in den tiefen Schlund in uns drin.

Die Toten Hosen haben das vor Jahren einmal besungen, sicherlich ein bisschen plakativ, aber vielleicht doch erstaunlich treffsicher auf Kaiserswerther Verhältnisse zielend:

Was für 'ne blöde Frage, ob das wirklich nötig ist. / Ich habe halt zwei Autos, weil mir eins zu wenig ist. / Sie passen beide in meine Garage, für mich ist das Grund genug. / Was soll ich sonst in diese Garage neben meiner Riesen-Villa tun? / Die Geräte für den Swimmingpool liegen schon im Gartenhaus / und die Spielzeugeisenbahn ist im Keller aufgebaut. Jeden Sonntag zähle ich mein Geld, und es tut mir wirklich gut,/ zu wissen wieviel ich wert bin, und ich bin grad hoch im Kurs. / Ich hatte mehr Glück als die meisten, habe immer fett gelebt. / Und wenn ich wirklich etwas wollte, hab' ich's auch gekriegt!
Warum werde ich nicht satt?  

Wer auch immer meint, sich in diesen Zeilen wiederzuentdecken, wer das Gefühl kennt, den unstillbaren Durst und Hunger nach irgendetwas, oder vor wessen inneren Auge jetzt Bilder von Menschen auftauchen, die von dieser Sehnsucht getrieben durch ihr Leben wandern, der sollte jetzt hinhören, auf die Stimme, die aus alten Zeiten, sechshundert Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung, heute zu uns herüberweht:

Auf, geht zum Wasser, all ihr Dürstenden,
und die ihr kein Silber habt,
geht, kauft Getreide, und esst,
und geht, kauft Getreide, nicht für Silber,
und Wein und Milch, nicht für Geld
Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist,
und euren Verdienst für das, was nicht sättigt?
So hört mir zu, und esst Gutes,
damit ihr eure Freude habt am Fett.
Neigt euer Ohr, und kommt zu mir!
Hört, dann werdet ihr leben,
und ich will einen ewigen Bund mit euch schliessen:
die unverbrüchlichen Gnadenerweise für David.
Sieh, zum Zeugen für Völker habe ich ihn gemacht,
zum Fürsten und Gebieter von Völkern.
Sieh, du wirst eine Nation rufen, die du nicht kennst,
und eine Nation, die dich nicht kannte - sie werden zu dir eilen,
um des HERRN, deines Gottes,
um des Heiligen Israels willen,
denn er hat dich verherrlicht.

Liebe Gemeinde, die Worte stammen von einem Propheten aus der Schule Jesajas, und sie erheben den Anspruch, nicht Worte irgendeines Menschen zu sein, sondern dass es Gott selbst ist, der hier das Wort ergreift. Worte, erfrischend wie Wasser, gehaltvoll und berauschend wie Wein, samtig wie Milch – aber wer sie länger im Mund bewegt, schmeckt, wie die Süße abnimmt und die Herbheit, die Bitterstoffe, die auch darin stecken, sich bemerkbar machen.

Auf, geht zum Wasser, ihr Dürstenden! Wem die Zunge am Gaumen klebt, wer sich durch die Wüste schleppt, bringt vielleicht noch die Kraft zustande, den Kopf zu schütteln oder ihn zu heben und einen bösen Blick in die Richtung zu werfen, aus der die Stimme kommt, die so Banales, so Selbstverständliches von sich gibt, dass es fast ärgerlich ist. Die nichts Besseres zu tun hat, als platte Ratschläge auszuteilen und dabei womöglich so zynisch klingt wie die reiche Passantin, die an einem Bettler vorbeigeht – vielleicht kennen Sie diesen nicht gerade wenig bösen Witz: Der Bettler jammert, er habe seit drei Tagen nichts gegessen, woraufhin sie ihm den gut gemeinten Rat gibt: „Sie müssen sich halt zwingen!“

Mancher muss aber vielleicht genau das hören: Diejenigen, die sich mit dem Durst abgefunden haben, die die innere Leere als Teil von sich akzeptieren und kultivieren, sich so daran gewöhnt haben, dass es einfacher ist, liegen zu bleiben und langsam eins mit der Wüste zu werden. Leiden ist oft einfacher als Verändern, das Verharren in einer schwierigen, aber immerhin vertrauten Situation attraktiver als der erste Schritt hinaus ins Freie, aber Ungewisse. Gegen diese Resignation ruft die Stimme aus der Wüste an: „Auf, geht zum Wasser, ihr Dürstenden!“ ruft sie, denn Wasser gibt es ja, und euer Durst wird nicht dadurch kleiner, dass euch mit ihm abfindet.

Ihr, die Ihr kein Geld habt, kauft und esst! Noch so ein erdiger Ton in dem reinen Wein, der uns hier eingeschenkt wird, noch so ein Satz, der verärgert zusammen zucken oder die Stirn runzeln lässt. Zumindest diejenigen unter den Durstigen und Hungrigen, die ihre Sehnsucht nach mehr mit geballter Kaufkraft besiegen wollen, die darauf vertrauen, dass sich ein erfülltes Leben erkaufen, ertauschen oder verdienen lässt – so, wie so vieles im Leben mit Geld geregelt werden kann. Und die plötzlich im flirrenden Licht der Mittagshitze erkennen, dass ihre Hände genauso leer sind wie die der Anderen. Eigentlich wissen wir das ja. Dass das, was wirklich zählt, nicht für Geld zu haben ist. Die Erfahrung hat jede Konfirmandin schon gemacht, und auch wir Älteren lernen das immer wieder aufs Neue, und nicht selten auf die harte Tour – unsere Lebensentwürfe sind in Kaiserswerther Eigenheimen genauso zerbrechlich wie in den Sozialwohnungen von Garath, ein Mehrgängemenü im Schiffchen kann genauso hungrig und leer zurücklassen wie die hastig heruntergeschlungenen Pommes am Worringer Platz.

Warum bietet ihr Silber für etwas, das kein Brot ist, und euren Verdienst für das, was nicht sättigt? fragt die Stimme in der Wüste. Ja, warum? Vielleicht, weil unser antrainiertes Misstrauen gegenüber allem, was umsonst ist, tief sitzt. Weil wir gelernt haben, dass das, was nichts kostet, auch nichts ist. Weil es schwer zu ertragen ist, dass wir selbst den ganz tief sitzenden Hunger und Durst nach Anerkennung, nach Gesehen-Werden, nach Bedeutung und Sinn nicht stillen können.

Durst – ja, doch, kennen wir. Aber wohin damit? Wohin mit uns, wo finden wir es – das Wasser, aus dem wir schöpfen, in das wir eintauchen können, das kühlt und erfrischt und lebendig macht?

Die Toten Hosen geben in ihrem Lied keine Antwort darauf, sie enden mit der mehrfach wiederholten Frage: Warum werde ich nicht satt? Warum werden wir nicht satt?

Die Stimme in der Wüste indes gibt eine Antwort. Ganz in der Mitte des Textes heißt es: Neigt euer Ohr, und kommt zu mir! Hört, dann werdet ihr leben. Was unseren Hunger und unseren Durst jenseits von Nahrung und Materiellem stillt, sind Worte, die mir signalisieren, dass ich gesehen werde, dass mein Leben einen Sinn und die Zeit ein Ziel hat. Oder noch genauer: Es ist die Begegnung mit einem lebendigen Gegenüber, das mir diese Worte zuspricht. Das haben Sie alle schon einmal erlebt. Das ist übrigens das, was die Bibel meint, wenn sie vom Glauben spricht: Keine Weltanschauung, kein Katalog von moralischen Appellen, auch kein Zwölf-Punkte-Programm, das sich zwischen zwei Buchdeckel pressen und im Buchladen unter Lebenshilfe vermarkten lässt. Sondern eine Beziehung, ein Kontakt zu dem lebendigen Gott, dessen Wort sein Volk Israel durch die Zeiten hindurch bewahrt hat, und der als Davidssohn Jesus Christus alle Menschen einlädt, die Sinn, Perspektive und Gemeinschaft suchen.

(c) Rainer Sturm / pixelio.de
Liebe Gemeinde, ein letztes Mal: Durst. Kennen Sie? Gut, dass Sie dann heute hier in diesem Gottesdienst sind, denn hier gibt es Worte zu hören, die das sagen, was kein Mensch sich selbst sagen kann. Hören Sie sie noch einmal, wenn Sie sie hören müssen, oder packen Sie sie ein und nehmen Sie mit für andere, die sie brauchen: 

Ich bin der Herr, dein Gott, der Dich aus der Sklaverei in die Freiheit geführt hat.
Ich habe dein Wandern durch diese große Wüste auf mein Herz genommen.
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken. Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.
Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, wird nicht hungern und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten.

Auf, zum Wasser, ihr Dürstenden… Die ihr kein Silber habt, kauft und esst euch satt… Hört, dann werdet ihr leben… um des Heiligen Israels Willen, denn er hat dich verherrlicht.

Amen. 

Gehalten am 9. Juni 2013 in der Stadtkirche Kaiserswerth