Montag, 28. Oktober 2013

Reformationstag und Halloween - on the light side

Ja, ist denn scho' wieder Casual Friday?! Nein, ist es nicht, aber was soll's. Die allseitigen kasualtheologischen Überlegungen zu Halloween und Reformationstag laden ja förmlich dazu ein!




 

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Vom "Du" auf und unter der Kanzel

Während meines Studiums in Schweden habe ich an der Folkuniversitetet unterrichtet, und zwar Deutsch und Schwedisch (ein Hoch auf die Zweisprachigkeit!). In Anfängerkursen wurde jeweils dasselbe Thema lebhaft diskutiert, allerdings aus deutlich unterschiedlichen Perspektiven: Es ging um die Anrede. Im Deutschkurs war es den überwiegend schwedischen Teilnehmenden kaum begreiflich zu machen, welche Bedingungen in Deutschland an ein "Du" geknüpft sein können. Und im Schwedischkurs konnten gerade österreichischen, ungarischen, aber auch deutschen Studierende kaum nachvollziehen, dass das "Du" in Schweden nicht nur die voraussetzungslos gängige Anredeform ist, sondern dass außerdem der Versuch, seinem Gegenüber dadurch, dass man ihn oder sie siezt, besonderen Respekt entgegen zu bringen, geradezu kontraproduktiv sein und bei Angehörigen einer bestimmten Generation, die die Du-Reform noch selbst erlebt haben, zu geradezu ungehaltenen Reaktionen führen kann - weil das freundlich gemeinte "Sie" der Bankangestellten oder des Kellners als unhöfliche Distanzierung verstanden wird. 

(c) hejsweden.com
Hätte ich meinen Schülern gesagt, das fein gesponnene Netzwerk aus Regeln und Konventionen, das das vertrauliche "Du" im Deutschen umgibt, sei einfach zu durchdringen - es wäre glatt gelogen gewesen. Und gerade im Berufsalltag erlebe ich immer wieder Fallstricke, Unsicherheiten, Ungeklärtes.

"Der Herr segne Sie?" Och nööö...


Da gibt es einerseits das liturgische Du. Ist klar, die versammelte Gemeinde wird als Gemeinschaft aus Schwestern und Brüder angesprochen, und damit eben als "Ihr" oder (kollektiv) als "Du". Bei Traugesprächen weise ich das Brautpaar daraufhin, dass ich bei den Traufragen in diesen Sprachmodus wechsle. Mir ist aber aufgefallen, dass ich in der Predigt die Brautpaare, aber auch die gottesdienstliche Sonntagsgemeinde meistens (es sei denn, ich duze die Mehrzahl der Versammelten auch im persönlichen Umgang) sieze - vielleicht, weil Predigtsprache für mich keine liturgische Sprache ist. Letztere lebt zu einem nicht geringen Teil von einer gewissen Wiederholbarkeit, vielleicht sogar Formelhaftigkeit. Und so etwas versuche ich in der Predigt zu vermeiden, hier ist meine Alltagssprache prägender.

Im Konfirmandenunterricht lasse ich mich von den Jugendlichen duzen. Das hat mit dem Brauch in meiner Gemeinde zu tun, hinter dem ich aber voll und ganz stehe: Ich hege und pflege die vielleicht etwas pathetische Auffassung, dass a) der Konfirmanden- kein Schulunterricht und b) die Gemeinde eine Gemeinschaft von Glaubensgeschwistern ist, die sich den sie umgebenden gesellschaftlichen Konventionen zu einem gewissen Teil entzieht. Und wie viele andere, so mache auch ich hier die Erfahrung: Respekt und Autorität hängen nicht mit der Anrede zusammen. 

In diesen beiden Kontexten ist das relativ einfach zu regeln: Da bestimme ich, Punkt aus. Nur: Das ist ja leider/zum Glück nicht immer der Fall.

... wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen


(c) wikimedia.org - Synode te Dordrecht
Schwieriger wird es nämlich einerseits im Umgang mit Kolleg_innen - bei Facebook wird es derzeit unter Pfarrerinnen und Pfarrern lebhaft diskutiert. Ich habe den Eindruck, dass sich (vor allem) Pfarrer oft automatisch, zumindest recht schnell duzen. Das mag in anderen Berufssparten auch der Fall sein und zum Teil daran liegen, dass ein Großteil der Kollegen zu den älteren Post-68ern gehört. Jedenfalls erlebe ich es oft, dass das im persönlichen Gespräch nach zwei-drei Sätzen kurz abgeklärt wird ("Äh, wir duzen uns, oder?"), oder dass ich als neuer (und noch meist jüngster) Kollege in diesen Sprachgebrauch automatisch inkludiert werde. Wogegen ich überhaupt nichts habe, ich duze mich grundsätzlich gern und bin, wie schon erwähnt, der Auffassung, dass Nähe und Distanz auch auf anderem Wege ihren sprachlichen Ausdruck finden können. 

Manchmal wird das explizit gemacht; als ich anfing, Fortbildungen zu besuchen, habe ich das mir neue Konzept des Kurs-Du kennen gelernt - man duzt sich im Rahmen der Fortbildung, ohne sich für die Zeit danach darauf zu verpflichten. Es geht auch andersherum: Ab und an sind mir Menschen, mit denen ich mich duze, in Prüfungszusammenhängen begegnet. Da sind wir nach kurzer Regieanweisung zum Prüfungs-Sie übergegangen. Differenziert denkende Menschen dürften damit kein Problem haben.

Oft findet das aber geradezu im Vorbeigehen statt, und hier erlebt man ab und zu, dass Vorgesetzte uneindeutig sind. Da rutscht plötzlich ein "Du" raus, wiederholt sich vielleicht - und ich stehe dumm da und weiß nicht: Wie soll ich die jetzt anreden? Nehme ich das (nicht ausdrücklich erwünschte) "Du" - und überspringe damit übergriffiger Weise an und für sich sinnvolle Grenzen? Oder sieze ich weiter - und riskiere damit, irgendetwas zu markieren, das ich gar nicht will? 

Ich bin grundsätzlich immer dafür, solche Irritationen anzusprechen und zu klären - nur: Es gibt im Deutschen ja auch dahingehend Konventionen, wem es zusteht, solche metakommunikativen Diskurse vom Zaun zu brechen: Der Ältere bietet es dem Jüngeren an, die hierarchisch höher Gestellte derjenigen auf niedrigerer Gehaltsstufe, die Frau dem Mann (letzteres halte ich für im Kern sexistisch, auch, wenn das sicherlich im Einzelfall nicht so beabsichtig ist. Aber ich meine ja auch, dass Standardtanz mit dem ganzen "Führen" und "Geführt Werden" ins Neandertal gehört - skandinavische Sozialisation halt!). 

Grüß Gott, Herr Pfarrer..!


Ach ja, diese Regeln - das macht es auch mit dem Rest der Gemeinde nicht einfacher. Ich habe gelernt: Im Deutschen bietet der Ältere dem Jüngeren das "Du" an. Also warte ich geduldig, denn aufgrund der kirchenpolitischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte bin ich in der Kirche jenseits von Kinder- und Jugendarbeit als 31jähriger immer der Jüngere. Mittlerweile stelle ich aber fest: Es gibt noch andere Kriterien, an denen sich so etwas entscheiden kann. Und in einer bürgerlichen Hierarchie, die vielerorts zumindes in den Köpfen noch eine Rolle spielt, stehe ich als Pfarrer qua Amt relativ weit oben - bin also derjenige, von dem hier die Initiative erwartet wird. Was wiegt denn nun schwerer? 
Und: Sind mit der Frage nach dem Du und dem Sie nicht auch Aspekte tangiert, die über den rein privaten Sprachgebrauch hinausgehen? Im Kreise hauptamtlich Mitarbeitender habe ich mehrfach den Eindruck gehabt, dass es da Abstufungen gibt: Die Pfarrer_innen duzen einander quasi automatisch und andere Mitarbeitende mit Hochschulbildung (den Kantor oder die Gemeindepädagogin) recht schnell, Küster oder Gemeindesekretärinnen eher selten und höchstens nach vielen Jahren gemeinsamen Dienstes, während Kirchenmusikerinnen und Jugendleiter mit der Küsterin öfter per Du sind. Ist es Zufall, dass diese Abstufungen mit den Gehaltsstufen korrelieren? Ich glaube ja nicht, und ich kann verstehen, dass einer der Haupteinwände gegen die Differenzierung zwischen Du und Sie lautet, dass sie Hierarchien sprachlich und damit gedanklich verfestigt. Und ist das irgendwo unangebrachter als in einer Gemeinde, in der, wie wir aus Galater 3 wissen, "weltliche" Statussymbole und -elemente doch keine Bedeuung haben (sollten)?

Dritte Wege


Es gibt ja eine ganze Reihe von Möglichkeiten, den mit der Anrede verbundenen Schwierigkeiten auszuweichen. Gerade in Fällen, in denen man sich nicht sicher ist, kann man oft ganz jovial von einem "wir" oder scheinbar neutral von einem "man" sprechen. Wenn man ein Du anstrebt, aber nicht derjenige sein will, der die Gretchenfrage stellt, kann man mit karikierenden Übertreibungen darauf hinwirken ("Frau Kantorin, ...?!"). 

Mir fällt auf, dass ich in wenigen Fällen einen dritten Weg beschreite und manche Menschen in der zweiten Person Plural anspreche ("Ihr"). Das ist der Fall bei manchen Russlanddeutschen, die eine solche Anrede gewohnt sind. Oder bei älteren Urgesteinen der Gemeinde, mit denen ich Kölsch spreche, also in ihrer Mutter- und meiner Zweitsprache ("Frau Schmitz, wie isset üch dann hück?").

(c) Ich und Du / pixelio.de


Fragen über Fragen also. Wie haltet Ihr es mit dem Du und dem Sie? Ach so, im Internet gilt das "Du" als gängigste Anrede, das "Sie" mitunter fast als Beleidigung. Von daher...

Und immer wieder gut: Loriots Kosakenzipfel!


Dienstag, 15. Oktober 2013

Wir sind Erzbischöfin!

Wir sind ja lange kein Papst mehr, aber das ist gar nicht schlimm, denn: Wir sind Erzbischöfin! Die Schwedische Kirche hat gewählt und die gebürtige Herdeckerin und Alumna (u.a.) der KiHo Bethel Antje Jackelén zu ihrer Erzbischöfin gemacht. Die 59jährige ist derzeit noch Bischöfin von Lund, vorher war sie Professorin für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt "Theologie und Naturwissenschaften", zuerst an der Lutheran School of Theology at Chicago, dann Rektorin des Zygon Center for Religion and Science ebendort. Und davor wiederum Gemeindepfarrerin in verschiedenen Gemeinden in Stockholm und Lund. 

(c) svenskakyrkan.se/Jan Norén
Antje Jackelén ist die erste Frau in dieser Position, und wird als solche sicherlich für einigen Zündstoff im Gespräch mit denjenigen lutherischen Kirchen der Borgå-Gemeinschaft sorgen, in denen die Männer an der Spitze gern Bärte tragen und unter sich bleiben.

Kleiner fun fact zum Schluss: Das Schwedisch der designierten Erzbischöfin ist weitaus (wirklich weitaus) besser als das der Königin...

Die Originalpressemeldung der Schwedischen Kirche ist hier zu finden.

Samstag, 12. Oktober 2013

Gebete, die zu Boden fallen


Yere Düşen Dualar - „Gebete, die zu Boden fallen“. So lautet der Originaltitel eines Romans von Sema Kaygusuz. Der Titel hat die deutsche Ausgabe leider nicht überlebt, bei Suhrkamp heißt es „Wein und Gold“, ich weiß auch gar nicht mehr, worum es in dem Buch geht. Aber das spielt im Moment auch keine Rolle. Mich hält das Bild fest:

Gebete, die zu Boden fallen. 

Ich glaube fast, das kann passieren. Zumindest befürchte ich das manchmal. Wenn der Kopf gesenkt ist. Wenn keine Luft mehr in den  Lungen ist, um sie in den Himmel hinaufzuschreien, wo sie hingehören. Wenn der Kloß im Hals nur noch Fetzen vorbeilässt, oder wenn im Kopf kein Raum ist, wo sie gedankliche Flügel bekommen können.


(c) Jürgen Acker / pixelio.de

Gebete, die zu Boden fallen. In der vierten Klasse einer Düsseldorfer Grundschule weckt dieses Bild Besorgnis – und ungeahnten Schaffensdrang. Marie ist der Meinung, dass man viel vorsichtiger durch die Welt gehen müsste, wenn überall auf dem Boden Gebete rumliegen. Einige Kinder überschlagen sich mit Erfindungen, um dieser Not Abhilfe zu schaffen: In der Kirche müsste ein kleines Trampolin stehen, findet Leonard, und jeder, der Angst hat, dass sein Gebet den Sprung in den Himmel nicht schafft, könnte sich davor stellen und seine Gebete auf das Trampolin fallen lassen – dann springt es hoch. Sophie denkt praktisch und wendet ein, dass die Gebete dann zwar nicht auf dem Boden liegen, aber dafür an der Kirchendecke kleben. Das weckt Widerspruch, einige Kinder sagen, wenn Gott in der Kirche wohnt, dann sei er groß genug, bis an die Decke zu kommen. Raúl meint, man könne Gott ja den Tipp geben, über dem Trampolin zu schweben. 

Alle sind sich einig: Auf dem Boden können die Gebete nicht liegen bleiben. Charlotte sieht das Ganze ein bisschen entspannter, denn: Immer, wenn etwas zu lang auf dem Boden liegt, wird es weggeräumt. Das wiederum beunruhigt Marius, denn seine Mutter droht ihm immer, wenn etwas zu lang bei ihm im Zimmer auf dem Boden rumliegt, wird es weggeschmissen. Und das kann ja nicht sein. 

Lena schließlich erinnert sich daran, wie sie vor einem Jahr Kröten über eine Landstraße getragen haben, und so kommen wir, über Umwege, auf das Thema Fürbitte zu sprechen. Das finden alle eine sehr nützliche Sache – bis auf Sophie, die irgendwann einwendet, dass man ja nie an alle denken könne. Ratlos sehen sich die Kinder an. 

(c) Henning Hraban Ramm / pixelio.de

Ihre Religionslehrerin Frau Tekampen stammt aus der reformierten Grafschaft und hat dort im Konfirmandenunterricht etwas vom munus triplex gehört, dem dreifachen Amt Jesu Christi – und erinnert daran, dass Christus selbst als Hohepriester in ständiger Fürbitte für uns eintritt und Gott mit unseren Sorgen und Problemen in den Ohren liegt. 

Was wir im Allgemeinen als schwer verständliches Lehrstück der Dogmatik handhaben, leuchtet den Kindern unmittelbar ein und gibt ihnen Mut zur Lücke, auch bei der Fürbitte, und erleichtert sie ein wenig von der Sorge um die Gebete, die zu Boden fallen.

Freitag, 11. Oktober 2013

Es gibt wenig gute Pfarrerwitze

(c) kirchengeschichten.blogspot.de
Gute Pfarrerwitze sind selten. Also evangelische. Witze mit katholischen Kollegen gibt es zuhauf, die allermeisten sind nicht jugendfrei. Wahrscheinlich ist das der Nachteil daran, dass wir kein Zölibat, keine die pubertäre Fantasie anheizenden Beichtstühle, nicht ganz so bunte Klamotten haben und Wert darauf legen, keine geweihten Priester, sondern berufene Wortverkündiger und Sakramentsverwalterinnen und ansonsten ganz normale Menschen zu sein. Bei der Arbeit an Cartoons erlebe ich das als echtes (ja, Luxus-)Problem - wie kann ich in einem Strip, der nicht im gottesdienstlichen Kontext spielt, den Pfarrer kenntlich machen, ohne ihn gleich den lieben langen Tag im Talar rumlaufen zu lassen, wie das von Waghubinger bis zum Schöpfer von Pfr. Bernd Paulsen die meisten spitzfedrigen Kollegen tun? Laut Amtstrachtsverordnung ist das nämlich verboten. Also nicht das Zeichnen, sondern das ständige Rumlaufen im Talar: "Die Dienerinnen und Diener am Wort tragen bei Gottesdiensten und Amtshandlungen die Amtstracht. Bei sonstigen Anlässen dürfen sie die Amtstracht nur tragen, wenn dies dem Herkommen entspricht oder angeordnet ist."

(c) orf.at
Auch in Film und Fernsehen ist das immer so eine Sache mit den evangelischen Pfarrern. Und Pfarrerinnen - erst neulich durfte ja Christine Neubauer eine spielen, und laut Chrismon können wir uns auf weitere pastorale Fernsehhighlights freuen. Auch im Fernsehen laufen die Kolleg_innen vergleichsweise häufig im Talar herum - bei Doctor's Diary pflückt Gretchen Haases Lieblingspfarrer sogar in vollem Ornat Äpfel. Und kommt ansonsten recht katholisch daher, zumindest so, wie die Kollegen im Fernsehen gern karikiert werden: Vollschlank, behäbig, grundnett und ein bisschen weltfremd. Ich kann mich an eine Szene aus Otmar Fischers Pater Braun erinnern, bei der ich dachte: Jo, passt. Da joggte, bikte und powerwalkte Fischers/Brauns gertenschlanker evangelischer Amtsbruder eigentlich ständig in Funktionskleidung durch die Gegend - eine ganz aparte Aktualisierung der alten Gegenüberstellung von lebensfreudigen Katholiken und verhärmt-asketischen Protestanten. Mehr dazu vielleicht mal später.

Aber nun zurück zu den Witzen: Es gibt wenige gute. Die, die einigermaßen wirklichkeitsnah sind (und das ist ja nun doch Kennzeichen guter Satire), sind meist nur Insidern verständlich. 

Das Facebook-Projekt "Dinge, die ein evangelischer Pfarrer nicht sagt" sucht derzeit nach guten Witzen mit und über uns. Wer einen kennt, möge sich melden! 

Bevor jemand fragt: Ich habe keinen spezifisch evangelischen Lieblingswitz (höchstens den mit Sölle, Barth und Bultmann im Boot - vorsicht, Insider!). Den Pfarrerwitz, den ich gern mag, kann man genauso gut mit einem Katholiken erzählen:

Jedes Jahr, wenn im Garten des Pfarrhauses die Äpfel reif sind, kommt über Nacht die Dorfjugend und plündert den Baum. Den Pfarrer ärgert das über alle Maßen, aber weder eine im Erntedankgottesdienst gedonnerte Predigt über "Du sollst nicht stehlen", noch alljährliche schärfste Ermahnungen im Konfirmandenunterricht ändern irgendetwas. Da kommt dem Pfarrer eine Idee, und als die Apfelerntezeit naht, rammt er ein großes Schild in den Boden, auf dem in großen schwarzen Lettern geschrieben steht: "Der liebe Gott sieht alles!" Sehr zufrieden mit sich geht er schlafen und träumt von Apfelkuchen, Apfelkompott, Apfelwein und dergleichen. Als er am nächsten Morgen aus dem Fenster sieht, trifft ihn fast der Schlag: Alle Äpfel sind weg, der Baum ist ratzekahl leer. Wütend rast er die Treppe runter und stapft in den Garten, wo immer noch sein Warnschild verkündet: "Der liebe Gott sieht alles!" In krakeliger Kinderschrift steht darunter: "... aber er petzt nicht!"

Donnerstag, 3. Oktober 2013

"Gott allein soll mein Herze haben" - Predigt im Kantatengottesdienst über BWV 169 und Matthäus 22,34-40


Die Kantate ist hier zu hören - für den richtigen Predigteindruck lohnt es sich, beim Video zwischendurch zu pausieren!


(Sinfonia)

Liebe Gemeinde, was für ein Auftakt! Jesus kommt, er ist da, zur Freude der Einen, zum
(c) Dieter Schütz / pixelio.de
Ärger der Anderen. Die ersten Takte verraten: Es geht um was, die Streicher geben dem Einsatz, ein freudiger Ruf: Da ist er, wie die ersten Menschen, die ihn gesehen haben, als er auf die Stadttore zukommt. Das ganze Orchester fällt ein, läuft, springt, wie die Menschenmenge, die ihm auf Schritt und Tritt folgt. Die Orgel tanzt und läuft und trillert, wie die Kinder, die er in seiner Nähe haben will. Zwischendurch immer wieder: Die Oboe d’amore, wie die Stimme der Sehnsucht all derer, die von ihm etwas erwarten. Dann wieder: Die Orgel in Moll, ebenso schnell, klare, strukturierte Melodieläufe, aber eben in Moll: Nicht alle in der Menge sind einverstanden, mit dem, was er sagt, was er tut. Die Stimmen seiner Gegner, die, die sonst den Ton in der Gesellschaft angeben. Sie geben nicht so leicht auf, löchern ihn mit Fragen, klaren, schnell geschossenen und zielgerichteten Prüfungen, auf welchem Boden er sich eigentlich bewegt. Einige dramatische Höhen, wer die Geschichte kennt, weiß, dass dieser Besuch in Jerusalem ein böses Ende nehmen kann, nehmen wird. Doch das sind vorerst nur Zwischentöne, die aufgeregt murmelnde Volksmenge, die springenden Kinder, die sehnsüchtigen Fragen, sie geben den Ton an.

Was für ein Auftakt – Jesus kommt, er ist da, zur Freude der Einen, zum Ärger der Anderen. Wem Jesus gegenübertritt, dessen Herz schlägt schneller, dessen Schritte beschleunigen sich – zu ihm hin oder von ihm weg. Die einzige Pause in dieser springenden, laufenden, tänzelnden Ouvertüre, in der das ganze Orchester Schwerarbeit leistet, ist ein einziger, eine Achtel kurzer Schlag, eine winzig kleine Verzögerung, bevor es von Neuem losgeht. Es fällt beim Zuhören schwer, still sitzen zu bleiben – selten genug in einem Gottesdienst!

Dann wird es abrupt still um Jesus herum, ein Pharisäer drängt sich durch die Menge und stellt die Gretchenfrage: Was ist denn das Wichtigste im Leben, was ist das größte Gebot? Was ist das Wichtigste im Leben? Was verleiht mir meinen Antrieb, wofür setze ich meine Kraft, meine Energien ein, um was kreisen meine Gedanken, woran hängt mein Herz? Es bleibt still und nachdenklich in der Runde um Jesus herum, vielleicht gehen Einige ihren eigenen Gedanken nach, sehen Bilder vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Eine Mutter sieht lächelnd ihr Kind an. Ein junger Mann wirft einen verstohlenen, sehnsuchtsschwangeren Blick zu der jungen Frau, die ein paar Meter weiter steht. Die Hand eines reichen Kornbauers zuckt ganz automatisch zu seiner Gürteltasche, spürt die beruhigende, kühle Schwere eines Beutels voller Goldmünzen. Einige Sklaven sehen nervös zu ihrem Herren, der absoluten Gehorsam verlangt, ständige Aufmerksamkeit und Dienstbereitschaft
Der Pharisäer lässt sich von seinem Examensverhör nicht abbringen. Ruhig, lauernd, wartet er auf eine Antwort. Und Jesus antwortet, theologisch völlig korrekt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt(5.Mose 6,5). Einige der Umstehenden strecken unwillkürlich den Rücken gerade, einige schließen die Augen, murmeln leise mit. Denn was er sagt, ist nichts Neues, nichts Unbekanntes, es sind die Worte, die jeder fromme Jude im Schlaf herunterbeten kann: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt (5.Mose 6,5).Dies ist das höchste und größte Gebot.
Eine junge Frau in der Menschenmenge steht etwas abseits, ein bisschen verloren. Erst leise murmelnd, dann lauter, inbrünstiger, leidenschaftlicher wiederholt sie diese Worte und lässt ihren Gedanken freien Lauf:

Gott soll allein mein Herze haben.
Zwar merk ich an der Welt,
Die ihren Kot unschätzbar hält,
Weil sie so freundlich mit mir tut,
Sie wollte gern allein
Das Liebste meiner Seele sein.
Doch nein; Gott soll allein mein Herze haben:
Ich find in ihm das höchste Gut.
Wir sehen zwar
Auf Erden hier und dar
Ein Bächlein der Zufriedenheit,
Das von des Höchsten Güte quillet;
Gott aber ist der Quell, mit Strömen angefüllet,
Da schöpf ich, was mich allezeit
Kann sattsam und wahrhaftig laben:
Gott soll allein mein Herze haben.

Gott soll allein mein Herze haben,
Ich find in ihm das höchste Gut.
Er liebt mich in der bösen Zeit
Und will mich in der Seligkeit
Mit Gütern seines Hauses laben.

Was ist die Liebe Gottes?
Des Geistes Ruh,
Der Sinnen Lustgenieß,
Der Seele Paradies.
Sie schließt die Hölle zu,
Den Himmel aber auf;
Sie ist Elias Wagen,
Da werden wir im Himmel nauf
In Abrahms Schoß getragen.

Stirb in mir,
Welt und alle deine Liebe,
Dass die Brust
Sich auf Erden für und für
In der Liebe Gottes übe;
Stirb in mir,
Hoffart, Reichtum, Augenlust,
Ihr verworfnen Fleischestriebe!

Die Umstehenden schweigen. Vielleicht sind sie ergriffen, vielleicht sind sie auch irritiert, abgestoßen von dieser Inbrunst, mit der die junge Frau ihren Abschied von der Welt verkündet. Die Mutter nimmt ihr Kind bei der Hand, der junge Verliebte rückt einen Schritt näher an die Dame seines Herzens heran, der Herr sieht seine Sklaven an, fixiert sie mit strengem Blick, dass sie bloß nicht auf die Idee kommen, sich von dieser Verrückten anstecken zu lassen. Euer höchstes Gut, eure ganze Welt ist es, mir zu Diensten zu sein, das sagen seine Augen ganz unmissverständlich. Der reiche Kornbauer wiegt seinen schweren Geldbeutel in der Hand, er schüttelt brummelnd den Kopf. Wo kommen wir denn dahin, wenn alle ins religiöse Schwärmen geraten, wenn alle ihre Arbeit stehen und liegen lassen und mit offenen Augen vom Himmel träumen?! Seine Stirn legt sich in tiefe Falten, sein Blick verfinstert sich. Ein braver Schreiner, der durch tägliche harte Arbeit gerade so sein Auskommen hat, murmelt leise seinen Wahlspruch vor sich hin: „Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott.“ „Hauptsache gesund“, pflichtet ihm eine ältere Marktfrau bei.

Am Rand stehen aber einige andere, die leise, wortlos nicken. „Die Welt mit ihrem Kot“, singt die junge Frau. Alles Mist, noch einmal nicken sie grimmig, all diejenigen, die von der Welt enttäuscht worden sind. Die alles verloren haben, die hinter die Fassade geblickt haben. Da sitzen vielleicht ein paar Bettler, die in der großen Stadt ihr Glück gesucht haben und unter die Räder gekommen sind. Da steht irgendwo ein reicher Witwer, der am Sterbebett seiner Frau lernen musste, dass sich nicht alles kaufen lässt. Da kommen Erinnerungen hoch an lächelnde Menschen, die einem in nächsten Augenblick ein Bein stellen.

Der Pharisäer schweigt und wendet sich zum Gehen. Jesus hat die Prüfung bestanden, gegen das jüdische Glaubensbekenntnis ist, zumindest in der Öffentlichkeit, nichts zu sagen. Aber Jesus ist noch nicht fertig. Vielleicht hat ihn der Ausbruch der jungen Frau auch nicht ganz unbeeindruckt gelassen, vielleicht ahnt er, dass Menschen dieses Gebot, die Liebe zu Gott missverstehen würden. Dass sie in späterer Zeit die Liebe Gottes zu einer Angelegenheit des Herzens machen, einem romantischen Gefühl. Obwohl die Liebe zu Gott in hohem Maße eine Angelegenheit von Kopf und Händen ist, ein Denken, das nach dem Willen Gottes für das Miteinander in der Welt fragt, eines handfesten Handelns, das versucht, in der eigenen Umgebung für eine gerechtere Welt zu sorgen.
Und so setzt er noch einmal nach, ungefragt und vielleicht in seiner Deutlichkeit überraschend für die Menschen um ihn herum: Das andere aber ist dem gleich: „Du sollst deinen Nächsten lieben.“
Johann Sebastian Bach lässt die Frau das wiederholen, doch das letzte Rezitativ klingt weniger dramatisch, weniger inbrünstig, eher pflichtbewusst: Doch meint es auch dabei mit eurem Nächsten gut, denn so steht in der Schrift geschrieben: Du sollst Gott und den nächsten Lieben. Und hier setzt auch der Chor ein, andächtig, feierlich vergewissern sich die Männer und Frauen gegenseitig.

Doch meint es auch dabei
Mit eurem Nächsten treu!
Denn so steht in der Schrift geschrieben:
Du sollst Gott und den Nächsten lieben.

Du süße Liebe, schenk uns deine Gunst,
Lass uns empfinden der Liebe Brunst,
Dass wir uns von Herzen einander lieben
Und in Friede auf einem Sinn bleiben.
Kyrie eleis.

Wenn es nach Johann Sebastian Bach und seinem anonymen Textdichter ginge, dann wäre hier Schluss. Kyrie eleison, Herr erbarme dich. Und aus. Das ist an sich kein schlechtes Schlusswort, darauf sind und bleiben wir alle angewiesen. Die Kantate ist hier zu Ende, die Musiker haben wieder Platz genommen, man kann sich auch vorstellen, wie sich die Szene in Jerusalem auflöst, die Menge sich zerstreut und alle wieder nach Hause gehen: Die Mutter mit ihren Kindern an der Hand, der junge Verliebte schweren Herzens ohne seine Geliebte, der reiche Kornbauer mit der Hand um seinen Geldbeutel, der Schreiner zu seinem nächsten Auftrag. Was für ein Auftakt – und was für ein sprödes Ende. Vielleicht sind einige von ihnen nachdenklich geworden, vielleicht fragen die Kinder ihre Mutter ganz erstaunt: „Was heißt das denn, den Nächsten zu lieben?“ und der junge Verliebte guckt noch einmal ganz schnell und nervös zu seiner Angebeteten. 

Nur die junge Frau würde vielleicht allein stehen bleiben, als erste einer langen Reihe von frommen Menschen.

Aber dort, wo die Kantate endet, muss die Predigt notwendiger Weise weitermachen, wo der anonyme Textdichter die Feder niedergelegt und Johann Sebastian Bach die Finger von den Tasten nimmt, geht die biblische Geschichte noch weiter. Denn die letzten Worte Jesu haben sie ihm abgeschnitten, aus dem Mund genommen, weil es vielleicht in den Ohren barocker Frömmigkeit zu sehr nach Selbstsucht, Egoismus und Eigenliebe klingt – all das ist in evangelischen Kirchen bis heute ja verpönt: Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Die fromme Weltflucht der jungen Frau bekommt hier eine notwendige Grenze aufgezeigt, und überhaupt scheint all das, was Jesus da sagt, Grenzen zur einen und zur anderen Seite aufzurichten: Unsere Ideale, unsere Prioritäten im Leben finden dort eine Grenze, wo wir unsere eigenen Lebensziele und Lebensentwürfe, unseren politischen Ziele, uns selbst oder andere Menschen vergötzen und sie damit hoffnungslos und am Ende für alle heillos überfordern. Unser soziales Engagement ist nur soweit biblisch und vom Auftrag Jesu gedeckt, bis es uns an den Rand des Burnouts und der totalen Selbstaufgabe führt. Und unserem nötigen, natürlichen Drang, unsere eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen, darf nur soweit gehen, wie es nicht auf Kosten anderer geschieht. 

An welcher Grenze wir als Einzelne besonders gefährdet sind – das möge jeder für sich selbst herausfinden, genauso wie jeder selbst sich eine Welt ausmalen möge, in der diese Balance nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen, in den politischen und wirtschaftlichen Systemen und Strukturen, gehalten wird. 

Liebe Gemeinde, was für ein Auftakt am Anfang. Und was für ein sprödes Ende. Auf dem Marktplatz in Jerusalem gab es für die Zuschauer keine Wunder, keine Brotvermehrung, keine wundersame Heilung – aber einiges zum Nachdenken und die Erinnerung daran, dass das Leben mit Christus ein Balanceakt ist und bleibt, dass wir gefährdet sind, mal von der einen, mal von der anderen Seite runterzufallen. Und dass sich diese Spannung, in der wir leben, nicht so einfach durch einen goldenen Mittelweg oder gar das goldene Mittelmaß auflösen lässt, sondern durch ein aktives Suchen nach dem Willen Gottes für diese Welt, die ernsthafte Selbstprüfung, wohin wir jeweils unterwegs sind und den Austausch mit anderen.

Dieser Weg kann kein Mensch allein beschreiten, und so soll doch der Chor das Schlusswort in dieser Predigt haben und stellvertretend für uns alle die Voraussetzung benennen, auf der allein ein gutes, segensreiches und heilvolles Leben in dieser Welt und darüber hinaus möglich ist:
Kyrie eleison – Herr, erbarme dich.

Amen.