Freitag, 6. März 2015

Aus einem Kirchengeschichtshandbuch des 23. Jahrhunderts



Zwischen digitaler Revolution
und administrativer Wende

Der Protestantismus der Jahre 2017 bis 2045


[…]

Stefan Große-Gschaftlhubers Stegreifrede und die administrative Wende

Ein Meilenstein in der weiteren Entwicklung des landeskirchlich verfassten Protestantismus war die Einrichtung des Evangelischen Zentralinstituts für theologische Verwaltungsfragen, mit dessen Leitung Oberkirchenrat Stefan Große-Gschaftlhuber betraut wurde. Große-Gschaftlhuber selbst hatte die Gründung angeregt: In seiner Stegreifrede auf dem Stuttgarter Kirchentag, deren Eingangsfeststellung „Wir können als Menschen Verwaltung nicht verstehen, wir dürfen als Theologen mit Verwaltung leben“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, erläuterte Große-Gschaftlhuber anhand u. a. der Tora-Übergabegeschichten des Alten Testaments und des Augustinischen Volkszensus im Prolog der Weihnachtsgeschichte Lk 2, in welchem Maße die Heilsgeschichte seit jeher von höchstinstanzlichen Verwaltungsentscheidungen abhängig gewesen sei. Zahlreiche neutestamentliche Figuren, wie der Apostel Paulus, die sprichwörtlichen Zöllner oder der äthiopische Hofbeamte galten Große-Gschaftlhuber als exemplarische Vertreter des antiken Beamtentums, die selbstverständliche Gesprächs- und Kooperationspartner, ja bedeutende Trägerkreise des Urchristentums darstellten. In den Verwaltungsentscheidungen und –strukturen der Kirche sah Große-Gschaftlhuber demnach nicht nur die Verwirklichung der neutestamentlichen Forderung  nach „guter Haushalterschaft“, sondern auch, unter Rekurs auf den priesterschriftlichen Schöpfungsbericht und 1Kor 14,33 („Gott ist kein Gott der Unordnung“), das auch in der Confessio Augustana aufgenommen wird, eine imitatio des ordnenden Schöpfungshandelns Gottes, mithin ein Instrument der creatio continua. Die Aussage, dass den Texten und Strukturen kirchlicher Verwaltung damit neben der Bibel Offenbarungscharakter zukäme, findet sich expressis verbis in Große-Gschaftlhubers Stegreifrede noch nicht, wird jedoch, u. a. in seiner Forderung nach einer „kultürlichen“, „bürokratischen“ oder „administrativen Theologie“, hier schon vorweggenommen und in der EKD-Denkschrift „Die gute Haushalterschaft – Das Verhältnis von Theologie und Verwaltung“ von 2019 entfaltet.

Der evangelisch-theologische Fakultätentag machte sich die Denk- und Programmschrift im Folgejahr zu eigen und leitete damit die sog. administrative Wende im engeren Sinne ein, einen erstaunlich kurzfristigen Prozess der Umgestaltung akademischer Theologie durch eine Neuausrichtung universitärer Lehre und Forschung auf die wesentlichen Kerngedanken der bürokratischen Theologie, deren Eckpunkte hier nur kurz umrissen seien: An den verbliebenen drei evangelisch-theologischen Fakultäten in Berlin, Marburg und München wurden die Lehrstühle Altes und Neues Testament zu einem biblisch-exegetischen Lehrstuhl zusammengefasst. Diesem wurde der Fachbereich Kirchenrecht und theologische Verwaltungswissenschaft als weiterer exegetischer Lehrstuhl zur Seite gestellt, der sich mit der Erforschung und Auslegung kirchlicher Rechts- und Verwaltungsordnungen beschäftigte. Auch die anderen Lehrstühle erfuhren eine inhaltliche Neuausrichtung: In der Kirchengeschichte äußerte sich dies in einer Abkehr von sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Forschungsansätzen zugunsten einer stärker organisationsgeschichtlich orientierten Perspektive. Die Systematische Theologie wurde der Praktischen Theologie untergeordnet. Diese wandte sich sich, unter Rekurs auf das Schleiermachersche Diktum, Praktische Theologie sei die Theorie der Kirchenleitung, in den Folgejahren zunehmend von Homiletik und Poimenik ab und dem Bereich Kybernetik/ Oikodomenik/Kirchenleitung zu. Seitens der Kirche wurde gerade letztgenannte Entwicklung ausdrücklich als berufsvorbereitende Maßnahme begrüßt, nicht zuletzt, da mehrere Befragungen von Pfarrerinnen und Pfarrern auf landeskirchlicher und EKD-weiter Ebene ergaben, dass ein Großteil pfarramtlicher Tätigkeit auf Verwaltungsaufgaben entfiel. Auch im interdisziplinären Wissenschaftsdialog schlug sich diese Änderung nieder: Waren bislang, je nach fachlicher Ausrichtung, nach der empirischen und der ästhetischen Wende vor allem Human- und Kulturwissenschaften bevorzugte Gesprächspartner der akademischen Theologie, wandte man sich nun verstärkt und mit einiger Leidenschaft den Verwaltungswissenschaften zu. Institutionalisiert wurde dieser Austausch im Verein für die Theologie der Verwaltung, der am Reformationstag 2023 mit einem Festakt im Berliner Dom im Beisein von Bundeskanzler Bernd Lucke und Bundespräsidentin Katarina Oertel von der Regierungspartei AfDeGiDa sowie des EKD-Ehrenratsvorsitzenden Rupert Murdoch gegründet wurde. Ab 2025 wurde die Mitgliedschaft in besagtem Verein die Voraussetzung für Erhalt und Beibehalt der Ordinationsrechte, sodass ab spätestens 2026 alle ca. 300 Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland sowie die überaus zahlreicheren ehrenamtlichen Predigerinnen und Prediger entscheidend von den theologischen Schwerpunktsetzungen geprägt wurden.

Auch die kirchliche Praxis erfuhr eine entscheidende Umgestaltung: In der ab 2030 EKD-weit gültigen Agende Neues Evangelisches Gottesdienstbuch wurde das System der gottesdienstlichen Lesungen nachdrücklich verändert: Die biblischen Lesungen wurden von bislang zwei, mancherorts drei auf eine reduziert, die neugestaltete Perikopenordnung legte einen deutlichen Schwerpunkt auf die biblischen Kernstellen administrativer Theologie, dazu gehörten vor allem die Gesetzestexte und Listen des Pentateuch sowie die Pastoralbriefe. An die Stelle des bis dato üblichen apostolischen Glaubensbekenntnisses trat die Lesung aus kirchen- und verwaltungsrechtlichen Kerntexten, vorzugsweise der Kirchenordnung und des Lebensordnungsgesetzes, zu deren Auswendiglernen im Konfirmandenunterricht nachdrücklich ermutigt wurde und die auch Eingang in den Bekenntnis- und Gebetsteil des zeitgleich mit der Agende eingeführten Neuen Gesangbuchs fanden.
Die wenigen verbliebenen evangelischen Akademien wurden zu administrativen Lernzentren, in denen die ganzheitliche Beschäftigung mit dem Kirchenrecht im Vordergrund stand; als  Beispiel sei hier nur die Bürokratodrama-Bewegung genannt, deren Anliegen und Geschichte andernorts ausführlich beschrieben worden sind.
Auch der interkonfessionelle und interreligiöse Dialog erfuhr in den 2020er- und -30erjahren einen Aufschwung, da man sich nun, vom historischen Ballast schwer vermittelbarer theologischer Glasperlenspiele befreit, v. a. um organisatorische Fragen kümmern konnte; der ÖRK (ursprünglich Ökumenischer Rat der Kirchen, ab 2021 Ökonomischer Rat der Kirchen) sprach auf seiner Vollversammlung in Rheda-Wiedenbrück 2028 in Anlehnung an die safe-space-Forschung von „theologiebefreiten Zonen“, die EKD nannte sich, in bewusstem semantischen Rekurs auf ein eigentlich obsolet gewordenes Konzept aus dem Jahr 2006 „Kirche der Freiheit von Theologie“.


Blütezeit des Protestantismus 2020-240

Insgesamt kann die Zeit zwischen 2020 und 2040 als ausgesprochene Blütezeit des landeskirchlichen Protestantismus bezeichnet werden, die durch einen sprunghaften Anstieg kirchlicher Finanzmittel und eine Trendwende im seit dem 19. Jahrhundert zu beobachtenden Mitgliederschwund geprägt war. Über die Ursachen dieser Entwicklung ist viel spekuliert worden, im Folgenden seien nur diejenigen Erklärungsansätze skizziert, die als allgemein konsensfähig gelten können:

Die Konsolidierung und Maximierung kirchlicher Finanzen seit 2020 ist nicht unabhängig von volkswirtschaftlichen Faktoren zu betrachten, sie steht im Kontext eines beispiellosen Aufschwungs der Bundesrepublik, der vor allem mit der Bewältigung der sog. Eurokrise zu tun hat, in deren Folge noch unter Reichskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsidentin Helene Fischer nach Staatsbankrott und Versteigerung die ökonomisch instabilen Euroländer Spanien, Italien, Frankreich und Griechenland de facto zu deutschen Vasallenstaaten wurden und der Bundesrepublik Einnahmen aus den bislang eher wenig bedeutsamen Wirtschaftszweigen des Tourismus und der Olivenölindustrie ermöglichten.

Speziell für die kirchlichen Finanzen waren zwei innerkirchliche Vorgänge entscheidend, deren Anfänge auf das Reformationsjubiläumsjahr 2017 zu datieren sind: Als Schlussakkord des sog. Haushaltskonsolidierungsprozesses entschied die rheinische Landessynode im Januar, sämtliche Kirchensteuermittel auf die landeskirchliche Ebene zu übertragen und damit, so der Wortlaut der in Folge nur noch als Rheinischer Synodalbeschluss bezeichneten Erklärung,

„die finanziellen Mittel in die Hände derer zu geben, die über den Kirchturm hinaus blicken und es in guter Haushalterschaft [sic!] zum Segen der Menschen und zur Optimierung kirchlicher Arbeitsfelder einzubringen und zu mehren vermögen.“

Die Beschlussvorlage der rheinischen Kirchenleitung, die sich in Folge des Synodalbeschlusses dafür selbst mit dem Peter-Beier-Preis, der Karl-Barth-Medaille und dem Dorothee-Sölle-Pokal für theologische Innovation auszeichnete, wurde 2020 von der EKD übernommen und das gesamtdeutsche Kirchensteuereinkommen dem Hannoverschen Kirchenamt unterstellt. Die kirchenrechtliche Voraussetzung dafür war bereits 2014 mit der Entscheidung der EKD-Synode erfolgt, die EKD sei als Gemeinschaft von Gliedkirchen selbst Kirche.

Ein zweiter Faktor für die Maximierung der kirchlichen Finanzmittel war die Wiedereinführung des Ablasswesens. In ihrem Hauptvortrag auf den Wittenberger Lutherfestspielen 2017 erklärte der Münchner Kirchengeschichtler Günther Lauch, Luthers Kritik am Ablasshandel müsse als zeitgebundene Aussage verstanden werden und dürfe, ähnlich wie die späten Judenschriften des Reformators, weder als Zentrum seiner Theologie gelten, noch dürfe sie als für die Kirche der Gegenwart in irgendeiner Weise bindend verstanden werden. Ein daraufhin vom Kirchenamt der EKD in Auftrag gegebenes theologisches Gutachten schloss sich dieser Sichtweise weitestgehend an und betonte die seelsorgliche Komponente einer Heils- und Segensgewissheit:

„Die Gnade Gottes bleibt frei und souverän – und damit auch im Kern unverkäuflich. Dies ist im Blick zu behalten und in Verkündigung und Seelsorge zu betonen. Eine fakultative Verknüpfung des segnenden oder lösenden Zuspruchs mit einer einmaligen Geldspende steht dem nicht zwangsläufig entgegen; […] vielmehr ist davon auszugehen, dass in einer Zeit der Ökonomisierung alle Lebensbereiche einerseits und des Verlustes religiöser Sprachfähigkeit andererseits das Überreichen von Geld für den oder die Zahlende eine wichtige Rolle bei der symbolischen Aneignung des zugesprochenen Gutes spielt.“

Die durch eine aufwändige, multimediale Kampagne unter dem Motto „…wissen, was man hat!“ begleitete Wiedereinführung des Ablasshandels am 31. Oktober 2018, die von kirchlicher und weltlicher Öffentlichkeit allgemein als „Ereignis von historischer Tragweite“ bezeichnet wurde, erwies sich als unerwartet reich sprudelnde Einnahmequelle; im Jahr nach ihrer Einführung entsprach der Erlös aus dem Ablassverkauf 52% des Kirchensteueraufkommens, nach fünf Jahren 93%. Zehn Jahre nach Wiedereinführung überstieg der Erlös aus dem Ablasshandel das reale Kirchensteueraufkommen um 15% und machte die Kirche weitgehend unabhängig von der Kirchensteuer, deren Berechtigung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder in Frage gestellt worden war, jedoch erst endgültig im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Neuordnung Deutschlands und Europas nach dem Ende des Dritten Weltkriegs 2068 abgeschafft wurde.

Die Umkehr des seit Ende des 19. Jahrhunderts stetig sich verstärkenden Mitgliederschwundes der Großkirchen wird u. a. an einer mentalen Disposition v. a. der Mittelschicht im Westeuropa festgemacht: Ermüdet von Traditionserosion und ständigem Metadiskurs in der ausklingenden Postmodernen, nahmen viele Menschen die administrative Wende in Kirche und Theologie und das damit verbundene Bekenntnis zu Planbarkeit und Kontinuität zum Anlass, sich der Kirche erneut und/oder intensiviert zuzuwenden.

Als ein weiterer Grund wird gelegentlich die digitale Revolution angeführt, d. h. das Eindringen moderner Telekommunikations- und Informationstechnologie in alle Lebensbereiche, die einen Höhepunkt bei den Europawahlen 2020 erreichte, als Facebook mit absoluter Mehrheit als stärkste Partei ins Europaparlament einzog und in den Folgejahren die Tilgung sämtlicher Integritätsbestimmungen und Datenschutzrichtlinien aus dem Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten durchsetzte. Auf Basis zeitgenössischer Quellen sowie Ergebnissen der Computerarchäologie ist herausgearbeitet worden, dass im frühen 21. Jahrhundert Kirchen und Gemeindehäuser neben U-Bahn-Schächten die einzigen Orte Mitteleuropas ohne zuverlässige Internetverbindung und/oder WLAN-Netzabdeckung waren und Bürgerinnen und Bürgern damit rein physische Freistätten in einer ansonsten zunehmend virtualisierten Welt boten. Die Rede vom „digitalen Kirchenasyl“ ist indes erst in der kirchengeschichtlichen Erforschung besagter Epoche, nicht jedoch in zeitgenössischen Quellen belegt.

Ein grundlegender Dissens bestimmt die kirchengeschichtliche Erforschung der genannten Epoche vor allem im Blick auf die Frage nach der Legitimation ökonomischer Konsolidierung auf Kosten der theologischen Inhalte. Stand die Kirchengeschichtsforschung lange Zeit unter dem Eindruck der Zeugnisse, die aus den Reihen der Gegner der oben skizzierten Reformen überliefert sind, hat die neuere Forschung herausgearbeitet, wie sehr diese Quellen eher eine stereotype Verfallsmetaphorik abbilden, anstatt eine fachlich fundierte Situationsanalyse zu liefern. Unbeantwortet bleibt jedoch bis heute die rhetorische Frage in der Autobiografie eines rheinischen Pfarrers:
"Wir fragen uns bis heute, ob und wie wir diese Entwicklung hätten stoppen müssen, sollen oder können." 


Donnerstag, 5. März 2015

Passion in Bildern (II): "Entartete Kunst" und eine Freundschaft, die tragisch endet




Unser heutiges Bild stammt aus der neunteiligen Bilderreihe „Das Leben Christi“ aus den Jahren 1911 und 1912 von Emil Nolde, dem großen deutschen Expressionisten des 20. Jahrhunderts. Die Bilder sind allesamt Aquarelle in ausdrucksstarken Farben und zum Teil sehr simplen, zweidimensonalen Figuren, fast so, wie man sie aus Kinderbibeln kennt – hier wirkt einerseits im Großen die Romantik nach, andererseits im Kleinen und Entscheidenden die Bibelstunden auf dem Bauernhof in Nolde (daher der Künstlername). 



Wohlgemerkt, in allen Bildern bis auf das, was uns heute besonders interessiert, aber dazu später. Diese Bilderreihe war im Jahr 1937 Mittelpunkt der Naziausstellung „entartete Kunst“, die Kulturvasallen Joseph Goebbels‘ hatten darüber ein Plakat hängen lassen mit der Aufschrift: „Gemalter Hexenspuk, geschnitzte Pamphlete von psychopathischen Schmierfinken“ – übrigens, bezeichnender Weise hat die Kirche an manchen Stellen in ihrer Kritik an Noldes religiösen Bildern zum Teil fast wortwörtlich dasselbe gesagt – ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Nolde selbst war von dieser Kritik auf zweifache Art getroffen: Erstens verstand er selbst seine „biblischen und Legendenbilder“ als Ausdruck einer respektablen Religiosität und Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens – und er war selbst ein fieser Antisemit, aktives NSDAP-Mitglied und Kämpfer gegen die von ihm selbst so bezeichnete „Überfremdung germanischer Kunst.“ 

Aber kommen wir zum Bild selbst. Die knalligen Farben, die ausdruckstarken und deutlichen Formen, die sonst die biblischen Bilder auszeichnen, sucht man hier vergebens. Es ist dunkel, vieles wirkt undeutlich, verschwommen, man muss zwei-, dreimal hingucken, um überhaupt etwas zu erkennen. Das passt, denn es ist wahrscheinlich Abend im Garten Gethsemane. Das passt aber auch auf einer tieferen Ebene, denn wenn vertraute Menschen einen hintergehen, verraten, ausliefern – dann schwankt der Boden unter den Füßen, dann erscheint das, was vorher klar und stabil schien, plötzlich zwielichtig und brüchig. Und zwar auf Dauer – ich weiß nicht, wie oft mir schon jemand erzählt hat: Ich bin einmal sehr enttäuscht worden, mir fällt es schwer Vertrauen zu fassen. 

Es ist dunkel im Garten Gethsemane, und die Menschen sind nur zum Teil erkennbar. Das ist Judas. Er schlingt Jesus die Arme um den Hals, küsst ihn auf den Mund und sieht für mich sehr ungestüm, sehr vereinnahmend aus. Und vielleicht ist das so, so wie falsches Gelächter oft das lauteste ist, und die falschen Küsse die vermeintlich leidenschaftlichen und auf jeden Fall öffentlichkeitswirksamen. Der Judas auf diesem Bild ist noch nicht der, dem kurze Zeit später den Hohepriestern das Geld vor die Füße schmeißt und dem die eigene Existenz unerträglich wird und der seinem Leben ein Ende setzt. Dieser Judas hier ist überzeugt von dem, was er tut. Warum Judas zum Verräter wird, wissen wir letzten Endes nicht, da ist viel spekuliert worden. Ob es die Geldgier ist, ob es die Enttäuschung des politischen Aktivisten ist oder irgendwelche Zwischenmenschlichkeiten, von denen wir keine Ahnung haben – wir wissen es nicht. Aber weiß man überhaupt jemals wirklich, warum Menschen zu dem werden, was sie werden? 

Dann ist da noch Jesus auf dem Bild. Sein Blick scheint in weite Ferne zu gehen, sein Gesicht ist seltsam ausdruckslos. Ein Arm leicht erhoben, ich kann nicht sehen, ob er die Umarmung halb erwidert oder Judas halb abwehrt – aber es ist auf jeden Fall nur eine halbe Geste. Jesus lässt das alles mit sich geschehen, angeblich, weil es einfach so sein muss. Und auch das ist die Tragik menschlicher Beziehungen, die zerstörerisch enden: Es gehören immer zwei dazu, auf irgendeiner Ebene, bewusst oder unbewusst, auf eine Art und Weise gehört immer jemand dazu, der den anderen machen lässt, weil es angeblich irgendwie so sein muss. 

Im Vordergrund ein römischer Soldat, erkennbar am Helm und an den Fackeln, die er trägt. Also einer von der Gegenseite, an die Judas Jesus verkauft hat. Er schlägt die Hand vor den Mund und schaut sich das Geschehen ungläubig, fast entsetzt an. Vielleicht erkennt er, mit was für fiesen Mitteln seine Befehlshaber hantieren. Vielleicht ist es auch so, dass niemand einen Verräter mag, auch die nicht, die einen Nutzen von ihm haben. 

Im Hintergrund steht eine weitere Person. Man kann sie kaum erkennen, man sieht nur ihre Augen im Dunkeln leuchten und vielleicht schemenhaft ein paar Gesichtszüge, eine Hand. Und irgendwie passt es auch, denn in den meisten Fällen, in denen Vertraute zu Verrätern werden, in denen Menschen Menschen verraten, gibt es da jemanden im Hintergrund. Im Kleinen fängt das im Sandkasten oder auf dem Schulhof an, wenn da auf einmal jemand ist, der die cooleren Klamotten oder Spielzeuge hat und es wert scheint, dass man alle anderen plötzlich links liegen lässt. Das ist meistens dann so, wenn Liebende anfangen, einander zu belügen und zu hintergehen, weil da irgendjemand ist, der das verspricht, was man vermisst. 

Und mit all dem ist gerade einmal die Hälfte des Bildes beschrieben. Absolut dominant ist das Schwarz, die Dunkelheit, die Finsternis, die alle zu verschlucken droht. Und man, gerade bei Judas, gar nicht so richtig, ob er aus der Dunkelheit hervorgeht, oder ob sie ihn verschlingt. Vielleicht kann man das auch gar nicht so genau unterscheiden, vielleicht ist das so, dass bestimmte Mächte, Motive, Gedanken, mit denen man sich abgibt, für den Augenblick zwar einen Antrieb bedeuten, auf lange Sicht aber immer die auffressen, die sich mit ihnen abgeben. 

Es ist kein weiter Gedankensprung, mit der Schwärze in dem Bild den Tod zu verbinden, den Tod beider Hauptfiguren, auf den es hinausläuft. Dabei ist es, glaube ich, nicht nur der physische Tod am Kreuz und der Tod am Strang. Es gibt noch etwas, das man in den verschiedensten Zusammenhängen als den „sozialen Tod“ kennt. Eine eindrückliche Schilderung davon haben wir in dem Psalm, den wir vorhin gebetet haben, gehört. Der soziale Tod ist der Abbruch aller Beziehungen, schon im Leben. In unseren Breitengraden ist er vielleicht besonders in denjenigen Institutionen verbreitet, in denen alte und kranke Menschen ohne menschliche Kontakte vor sich hin vegetieren, nicht mehr als Personen, sondern nur noch als Insassen behandelt werden. Am sozialen Tod sterben Menschen, der so genannte Alterssuizid, ob er aktiv durch Medikamentenüberdosierungen oder eher „passiv“ durch Nahrungsverweigerung oder schlichtweg Selbstaufgabe geschieht, ist eine Tatsache. 

Jesus selbst ist auch den sozialen Tod gestorben, nicht allein wegen Judas. 
Auch wegen Petrus und aller anderen, die ihn verlassen haben. 
Jesus selbst ist in das Dunkle menschlicher Verwicklungen hinabgestiegen 
und hat dafür gesorgt, dass die Zeiten und Räume der Einsamkeit 
keine Sekunde lang Momente der Gottesferne sind. 
Das ist keine Entschuldigung. 
Das ist die einzige Hoffnung für alle Menschen, 
die einander ins Dunkel reißen. 
Amen.

Sonntag, 1. März 2015

Als Hogwarts nach Holweide kam...

Am Anfang waren drei ein klein bisschen verrückte Menschen, in unserem Fall zwei Pfarrer und eine Kantorin, die gerne "irgendetwas mit Harry Potter" machen wollten. Und sich dann entschlossen, wirklich was zu machen. Heraus kam etwas, das gar nicht so leicht anzukündigen war, weil es auf die von vielen Leuten gestellte Frage: "Was macht Ihr denn da genau...?!" keine allzu einfache Antwort gab. Wir nannten es "eine theologisch-literarisch-musikalische Reise", das war es definitiv auch, aber es war doch eine ganze Menge mehr. Wir können es zur Nachahmung herzlich empfehlen, deswegen gibt es hier mehr als nur ein bisschen Nachlese.


Was wir jetzt genau gemacht haben



Hauptbestandteil des Abends war eine mehr oder weniger szenische Lesung ausgewählter Passagen aus den sieben Harry-Potter-Bänden, die die Story natürlich nicht komplett erzählen konnten, aber in weiten Bögen wichtige und unterhaltsame Szenen in einer abendfüllenden Aktion verbanden. "Szenisch" heißt dabei: Die einzelnen Passagen haben wir in Dialoge umgeschrieben, die dann mit verteilten Rollen vorgelesen wurden. For the sheer pleasure of it und um des britischen Lokalkolorits der Reihe Willen gab es auch einzelne Einwürfe auf Englisch. Aufgelockert wurde das Ganze durch kurze Filmsequenzen, musikalische Einlagen und Interaktives (dazu später mehr), eine Pause gab es natürlich auch.


Szenenabfolge

- Prolog (englisch) (I)
- Hagrid bei den Dursleys (I)

- Der Troll auf dem Mädchenklo (I)
- Der Fuchsbau und der fliegende Ford (II)
- Pflanzenkunde (II)
- Wahrsageunterricht (III)
- Filmsequenz: Dementoren im Hogwarts-Express (III)
- Quidditch-Weltmeisterschaft (IV) (englischer Matchkommentar, Schlagzeilen)

- Tanzstunde (IV) (Lesung und Filmsequenz)
- Das Voldemort-Projekt (IV)
- Die Prophezeiung (V)
- Liebes- und andere Tränke (I + VI)

- Filmsequenz: Die Höhle am Meer (VI)
- Der Friedhof von Godric's Hollow (VII)
- Filmsequenz: Pietotor Locomortum
- Der Wald ("Ich öffne mich am Schluss") (VII)

- King's Cross (VII)

Mit unserer Auswahl kamen wir, trotz vieler Streichungen und Kürzungen, auf ein beachtliches Figurenensemble: Harry, Ron und Hermine, Molly und Arthur Weasley, Dumbledore, McGonagall, Slughorn, Snape, Sprout, Lockhart, Trelawney, Vernon und Petunia Dursley, Neville Longbottom, Cedric Diggory, Lupin, Lily und James Potter, Wurmschwanz, Voldemort, Quidditch-Kommentator - und ein Erzähler, der nicht nur die Szenen untereinander verbindet, sondern auch durch längere narrative Passagen den literarischen Charakter stärkt.
Dabei können Doppelrollen übernommen werden, in unserem Fall waren das etwa Sprout/Mrs. Weasley, Mr. Dursley/Wormtail, Mrs. Dursley/Daily Prophet und (aufgrund eines Ausfalls) Dumbledore/Lockhart/Quidditchkommentar. Wichtig und empfehlenswert erschien uns die Grundregel, dass Schüler_innen auch von Jugendlichen gelesen wurden. 


Als Bühne diente uns ein langer Tisch, ständig dort waren nur die drei Hauptfiguren sowie der Erzähler, die anderen wechselten je nach Bedarf und gaben sich durch Namensschilder und einzelne Accessoires zu erkennen. 



Der Bühnenraum war ein bisschen dekoriert: Neben dem Tisch stand ein Regal mit alten Büchern, vielen kleinen und großen Fläschchen, künstlichen Spinnweben und (Trommelwirbel!) einer ausgestopften Schneeeule (eine freundliche Leihgabe des hiesigen Jagdvereins), an die Wand hinter dem Tisch wurden außerdem wechselnde Hintergrundbilder projiziert, die die Stimmung der jeweiligen Szene aufnehmen und verstärkten sollten. Das konnten Fotos vom Filmset sein, aber auch ganz "normale" Landschaftsbilder. Im Raum verteilt waren noch Banner mit den Wappen der Häuser, zwischen denen zwei fast lebensgroße Dementoren herumgeisterten.






Das Drumherum und das Mittendrin



Am Eingang wurden die Besucher_innen mit heißem Butterbier empfangen (Rezept gibt es demnächst) - und vom Sprechenden Hut, der sie in die Häuser einteilte. Den Hut hatte uns eine unglaublich bastelbegabte und -freudige Dame aus der Gemeinde gestiftet (die auch lebensecht wirkende Alraunen herzustellen vermag!), ein etwas ummodellierter Hexenhut aus dem Karnevalsladen, in dem wir einen kleinen Bluetooth-Lautsprecher platzierten, über den dann das jeweilige Haus verkündet werden konnte (die entsprechenden MP3s hatten wir selbst aufgenommen und mithilfe von Freeware-Audioprogrammen ein bisschen aufgemotzt). Die Idee stammt übrigens von der Harry-Potter-Ausstellung, die natürlich rein zu Studienzwecken besucht werden musste. Beim Eintritt gab es einen entsprechenden Button, den eigentlichen Beginn der Veranstaltung markierte als Warming-Up das Umsetzen nach Häusern, die natürlich im Laufe des Abends auch gegeneinander antraten und Quizfragen beantworteten.
Zu Knabbern gab es Weingummischlangen, Schokoladenstäbchen, Lakritzstangen und natürlich Every Flavour Beans - wer hier noch kreativer sein will, wird im Internet unter Stichworten wie "Buffet Halloween" garantiert fündig. 

Zwischen den Szenen wurde Filmmusik live gespielt - auch hier konnten wir von dem unglaublichen Potenzial und Engagement vor der Haustür profitieren und durften "unserem" Stadtteilorchester, den Dellbrücker Symphonikern (für die an dieser Stelle noch einmal nachdrücklich Werbung gemacht sei!), zuhören. Ohne Gemeindegesang geht es ja in einer evangelischen Kirche nicht, deswegen wurde das hübsche Stückchen "Double Trouble" (aus dem Film Der Gefangene von Azkaban, Noten finden sich relativ leicht im Internet) gemeinsam gesungen.

Daneben mussten die Zuschauer_innen gar nicht so einfache Quizfragen beantworten, an passenden Stellen konnte man anhand kurzer und prägnanter Vorträge in die etwas tieferen Deutungsschichten der Hogwarts-Heptalogie einsteigen, das ging von der Bedeutung ausgewählter Namen über, wie gesagt, die Frage nach der ethischen Einordnung von Liebestränken bis hin zu den starken theologisch-christologischen Motiven, die nicht nur den gesamten Plot durchziehen, sondern auch in Einzelszenen prägend wirken. 

Von wegen Zielgruppe und so...


Für wen machen wir das eigentlich? Das wurden wir im Vorhinein nicht nur mehrfach gefragt, darüber mussten wir uns ja auch selbst Rechenschaft ablegen. Weil: "Für uns" wäre zwar eine ehrliche, aber dafür gemeindepädagogisch nicht ganz zufriedenstellende Antwort gewesen. Ach "für Jung und Alt" ist ja gemeindlich meist eine Chiffre für "wissen wir selbst nicht so genau", in unserem Fall hieß es "für alle, die auch nur annähernd so bekloppt sind wie wir." Dass das gar nicht so wenige waren, zeigte sich schon im Vorfeld, als so gut wie alle, die wir angefragt hatten, mit großer Begeisterung und einiger Selbstverständlichkeit ihre Bereitschaft zur Mitwirkung erklärten. Nebenbei: Ein Teil von dem großen Spaß, den wir bei der Vorbereitung hatten, bestand auch darin, uns die idealen Sprecher_innen für die verschiedenen Rollen vorzustellen...

Das Altersspektrum der Mitwirkenden rangierte so grob zwischen 15 und 65, bei den erfreulich zahlreichen Besucher_innen (die Kirche war gut voll) muss man die Statistik noch einmal deutlich nach unten korrigieren: Zu den aktivsten Mitgestaltenden des Abends gehörten eine ganze Reihe von Hardcore-Fans im Grundschul- bis Konfirmandenalter, die nicht nur auf jede (!) Quizfrage die richtige Antwort wussten, sondern auch während der Lesung lautstark mitdachten und sogar Plotschwächen und Widersprüche aufdeckten. Wir hatten vorher nicht mit so vielen jungen Zuschauenden gerechnet, und ihnen mit einer fast dreistündigen Lesung (Pause hin oder her) sicherlich auch einiges zugemutet. Die Erfahrung von gestern Abend zeigt aber: Es geht!

Lokalspezifisch war sicherlich die (erwartete) Einsicht, dass ein kirchliches Projekt zu Harry Potter im landeskirchlichen Großstadtkontext Kölns keinerlei Anstoß erregt. Angesichts der häufig von evangelikaler und/oder rechtsfrommer Sicht vorgetragenen Kritik an allem, was mit Zaubersprüchen und fliegendem Besen zu tun hat, ist das vielleicht nicht überall zu erwarten. 

Der gemeindepädagogische und sonstige Ertrag



Wie bei so vielen Gemeindeveranstaltungen liegt der direkte gemeindepädagogische Ertrag vor allem auf der Seite der Mitwirkenden: Menschen haben etwas davon, dass sie sich ehrenamtlich engagieren, auch über die beglückende Erfahrung, an einem gelungenen Projekt teilgenommen zu haben, hinaus. In unserem Fall war das zum Einen die gemeinsame Vorbereitung: Aus allen möglichen Bereichen der Gemeinde haben Menschen verschiedener Altersgruppen gemeinsam etwas erarbeitet. Sie haben sich auf diesem Wege von einer anderen Seite kennen gelernt - so etwas prägt in der Regel auch den weiteren Kontakt und damit das Klima der Gemeinde. 
Zum Anderen konnten die Mitwirkenden Gaben und Talente einsetzen und/oder an sich entdecken, die im Alltag (auch im Gemeindealltag) nicht so zum Einsatz kommen - in manchen schlummerte offensichtlich ein ungeahntes Schauspieltalent. Das hätte man durch theaterpädagogische Elemente verstärken können, gleichzeitig hätte das vielleicht auch die Hemmschwelle eher erhöht - so ging es ja "nur" darum, "etwas zu lesen".



Faszinierend und ermutigend war auch die Erfahrung, dass Literatur, deren Wahrnehmung in ganz hohem Maße von den Bilderwelten und Umsetzungen in Hollywood-Blockbustern geprägt ist, immer noch offen ist für andere Arten der Inszenierung und Aneignung. Das hat irgendwie etwas zutiefst Demokratisierendes, und es zeigt auch, dass das Genre der "Lesung" Menschen begeistert. Wie gesagt, mit einer fast dreistündigen und trotz aller Auflockerungsversuche doch sehr anspruchsvollen Lesung haben wir den vielfach sehr jungen Zuschauerinnen einiges zugemutet. Und trotzdem war bis zum Schluss, trotz mancher  empfindlich störender Mikrofongeräusche, die Atmosphäre extrem dicht, auch und gerade in den Szenen, in denen es buchstäblich ans Eingemachte ging, konnte man eine Stecknadel fallen hören. 

Dazu gehörte auch die Erfahrung der Hochwertigkeit von im besten Sinne "Handgemachtem": Die Dekorationen, die Musik (neben den Kammersymphonikern spielte in einer Szene auch die Kirchenorgel eine Rolle), all das hatte etwas zutiefst Lebendiges. Und damit Wertvolles.

Ressourcen für alle, die es selbst einmal probieren wollen...


Dekoration und Drumherum


Man muss im Internet nicht lange suchen, um fündig zu werden - es gibt eine unglaubliche Menge großartiger Ideen und noch tollerer Umsetzungen. Wir haben besonders viel von hier übernommen:


Auch bei Deviantart gibt es einen riesigen Fundus an tollen (und unter common license verwertbaren) Grafiken.


Theologisches


Auch hier gibt es eine ganze Menge zu entdecken und zu lernen. Vielleicht vor allem bei und von Danielle Tumminio, die an der Universität Yale einen Grundkurs Theologie anhand von Harry Potter angeboten hat, den es mittlerweile auch in Buchform gibt. Viele kluge Gedanken von ihr gibt es auch so online, so gastbloggt sie mitunter auf dem tollen Portal The Hog's Head.
In Deutschland ist der in Bochum wirkende Matthias Frohmann eine Instanz der theologischen Harry-Potter-Forschung.