Samstag, 28. Mai 2016

Gängige Sprachkritik und spannende Biografie: Erik Flügge, Der Jargon der Betroffenheit



„Auf Dresdens Straßen liegt das Christuskind. Totgetreten von 15.000 Demonstranten im eisig kalten Schnee. Es ist vergessen wie ein Haufen Dreck. Keiner blickt zu ihm herunter, das Volk marschiert über die zertrümmerten Knochen hinweg. [...] Das ganze Land spricht von den selbsternannten Verteidigern des Christentums im Abendlande. Doch wer wie sie den Fremden das Obdach verweigert, der ist kein Christ.“ 

Diese großen, ärgerlichen und wahren Sätze standen, soweit ich weiß, 2014 in keiner Weihnachtspredigt, aber auf dem Blog von Erik Flügge. Vielleicht wegen dieser Sätze (und wegen der großartigen Currywurst-Wahlkampagne von Squirrel&Nuts) bin ich geneigter, ihm zuzuhören, als ich das sonst bin, wenn wieder jemand sagt, dass wir Theologen schlecht sprechen. Weiß ich ja selbst, und sage ich ja auch immer wieder. Und liest man ja auch immer wieder (hier und hier und hier und so). Den Startschuss machte vor einem Jahr ein Blogpost mit dem Titel „Die Kirche verreckt an ihrer Sprache.“ Der Text darunter ventilierte zum größten Teil Altbekanntes, aber mich hat damals der Titel angefixt. Weil selten so deutlich gesagt wird, dass das Überleben der „Kirche des Wortes“ an der Sprache hängt. Mehr, außer ein paar Riten und Handauflegungen, die allesamt aber wieder an Sprachhandeln rückgekoppelt werden, haben wir ja nicht. 

Umso mehr wundert es mich, dass im Theologiestudium so wenig Wert auf Sprache gelegt wird. Klar gibt es immer mal wieder Kurse zum wissenschaftlichen Schreiben oder Sprecherziehung. Aber sonst? Reiner Preul hat das einmal in aller Deutlichkeit gesagt: 

„Es ist gelegentlich vorgekommen, dass Studierende mich gefragt haben, ob ich sie für den Pfarrberuf für geeignet halte. Ich habe dann unter anderem auch nach ihrer Deutschnote gefragt. War diese nicht besser als ausreichend, dann habe ich zwar nicht direkt abgeraten – Schulnoten sind bekanntlich nicht immer gerecht -, aber doch Bedenken geäußert. Wenn wem das Wort nicht hinreichend zu Gebote steht, wer Schwierigkeiten mit dem flüssigen und präzisen Ausdruck in seiner eigenen Sprache hat, der wird sich als Pastor oder Pastorin arg quälen müssen.“ 
 (Reiner Preul, Pfarrerinnen und Pfarrer als eloquente und gebildete Zeitgenossen, in:
Regina Sommer/Julia Koll (Hg.), Schwellenkunde. Einsichten und Aussichten für den Pfarrberuf im 21. Jahrhundert,
FS Ulrike Wagner-Rau, Stuttgart 2012, 104-116, Zit. 104). 

Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht nicht um schillernd perfekte Kunstsprache (oder Sprachkunst), die so glatt ist, dass man daran abrutscht, oder so gewaltig, dass sie jedem Zuhörenden die Sprache verschlägt. Dass in Bibel und Kirchengeschichte immer wieder Menschen mit Sprachfehlern zu Wortführern (Moses, Paulus, Melanchthon) und Legastheniker zu Bestsellerautoren (Gollwitzer) werden, sollte zu denken geben, ebenso wie die Einwände der dialektischen Theologen, die vor fremdem Feuer auf Gottes Altar warnten. Aber darum geht es auch nicht, wenn ich Erik Flügge richtig verstehe. Er stößt sich nicht an Sprechfehlern, sondern an den Manierismen von Leuten, die aufgrund ihres Bildungsgrades eigentlich in der Lage wären, es besser zu können, die aber durch ihre Art des Sprechens und des Argumentierens Distanz herstellen, wo Nähe angebracht wäre, und Banalisieren, wo es ans Eingemachte geht. 

Und so beginnt das Buch, nach dem erneuten Abdruck seines oben erwähnten Blogeintrags, mit dem hoffnungsvollen Bekenntnis: „Ich glaube noch daran, dass eine Predigt wirken kann“ (10). Dass als Anlass dieser Hoffnung dann Beispiele aus politischen Reden und historisch fragwürdige Lutherbilder zitiert werden, mag dem Anliegen geschuldet sein, aus einem pointierten Kurztext möglichst schnell ein vielgelesenes Buch zu machen. Aber es zeigt auch die Aporie: „Diese Texte sind zwar selten, aber sie entstehen immer wieder neu. Nur leider hört man sie seit Jahrzehnten nicht mehr aus Deutschlands kirchlichen Kreisen.“ Um es vorneweg zu sagen: Eine direkt praxisfähige Antwort im Sinne einer griffigen How-To-Anweisung, von ein paar Thesen in der Mitte des Buchs abgesehen, gibt es nicht („Es hilft nur die Flucht nach vorne: Ein eigener Gedanke muss her.“), aber auch sonst bleibt das Buch lesenswert, weil überall kleine Zwischenbemerkungen eines mit einem Bein außerhalb der Kirche Stehenden eingestreut sind, bei denen man sich ertappt fühlt und fragen lassen muss: Muss das eigentlich so sein? 

Da geht es um den ständigen Verständigungs- und Überzeugungszwang: „Kirche hält es nicht aus, das die Menschen am Ende einer Veranstaltung unüberzeugt, zweifelnd, nicht glaubend bleiben. Man versucht mit immer mehr Nachdruck das Verständnis des Gegenübers zu erzwingen. Der muss doch glauben! – Und so scheitert die Verkündigung.“ (14f.). Nebenbei: Sätze wie dieser entspannen mich beim Lesen, weil sie zeigen, dass auch ein Kommunikationsprofi nicht immer nur Gold im Mund führt. Das macht das Ganze ehrlich: „Auch mein Text ist Teil der Bürgerlichkeit“ (22). Oder auch: „Hier sitze ich nun und weiß selbst die Antwort nicht“ (29) – Letzteres bezogen auf die alte Frage nach der Adressatenbezogenheit am Beispiel eines Kindergottesdienstes. 

Bei vielem von dem, was Flügge beschreibt, finde ich mich wieder: Im Klagen über die olle Rose von Jericho (33ff.). Oder über das Existieren am Rand der Kirche: „Ich bin kirchenfern – so fern man nur sein kann, denn Kirche hat Menschen, die so leben wie ich, schon lange aufgegeben. […] Nur eine Sache kann ich Ihnen beim besten Willen nicht beantworten: Warum ich mich mit Gott und seiner Kirche beschäftige, obwohl sie Menschen wie mich schon längst aufgegeben hat.“ (18). Oder in der simplen Feststellung: „Wenn man mit euch ein Bier trinkt, dann klingt ihr ganz normal. Sobald ihr für eure Kirche sprecht, klingt’s plötzlich scheiße.“ (8) 

Vieles von dem, was Flügge beschreibt, ist in den letzten Jahrzehnten auch in der Homiletik ausführlich diskutiert worden, Martin Nicol und Alexander Deeg haben im Besonderen auch Perspektiven zur Abhilfe vorgestellt. Spannend ist, dass Flügge auch hier den Finger in die Wunde legt und mit der Klarsichtigkeit eines frühen Josuttis feststellt: „[O]hne Performativität ist alles theologische Tun recht langweilig. Die emotionale Methodik bietet hier einen Ausweg. Hält man einen Impuls, an dessen Ende zwanzig Menschen weinend vor einem sitzen, dann spürt man endlich wieder auch als Theologe oder Theologin Macht. [...] Ich stelle die Frage: Geht es wirklich um das Erleben des anderen, oder um das Sich-selbst-als-mächtig-Erleben?“ (36). 

Flügge unterstellt hier eine kirchenpolitische Dimension: „Je stärker ich mich Symbolen bediene, desto weniger bin ich gezwungen, mich selbst zu positionieren. Wenn ich etwas bebildere, so überlasse ich den Adressierten die Entscheidung über die genaue Interpretation und mache mich im besten Sinne innerkirchlich unangreifbar. […] Welcher Bischof würde wohl wegen ein paar Kraftsteinen zum klärenden Gespräch einladen? – Wegen ein paar markigen [sic] Worten kann das durchaus passieren.“ (39). 
Hier ist die Perspektive sehr deutlich eine katholische, in evangelischen Gefilden hat man seit langer Zeit keine Lehrbeanstandungsverfahren mehr zu befürchten. Aber auch bei uns gibt es Konfliktvermeidungsstrategien, die dazu führen, dass Predigerinnen und Prediger selten so offen und deutlich so richtige und angreifbare Dinge sagen wie Margot Käßmann („Nichts ist gut in Afghanistan!)“ oder Christiane Quincke („Pforzheim war keine unschuldige Stadt.“). Und so sind die systemimmanenten Faktoren, die Flügge als so lähmend für inner- und außerkirchliche Kommunikation wahrnimmt („Um den heißen Brei“, 43-46), auch aus evangelischer Sicht lesenswert, wenn auch ernüchternd. 

Und so geht eigentlich im Ganzen weiter. Das Buch liest sich flüssig runter, natürlich auch deswegen, weil das meiste nicht neu ist. Nur eben hübsch pointiert gesagt. Man nickt manches Mal heftig und freut sich, weil da jemand das in Worte fasst, was einen selbst so kolossal stört. Man schüttelt schadenfroh lächelnd den Kopf, weil dem Autor manche Formulierungen auch nur so halb gelingen. Man kratzt sich am Kopf und fragt sich, warum wir so harmlos sind. Man wird mitgenommen zu Begegnungen mit Menschen in der Kirche, und gerät dort ins Stocken, wo Flügge selbst an analytische und rhetorische Grenzen stößt und ratlos fragt: „Und was nun?“ 

Das macht das Buch für mich lesens- und kaufenswert: Das mehr als nur zwischen den Zeichen durchschimmernde Selbstporträt des Autors als junger Mann, der an einem kaum zu definierenden Ort seiner Kirche unterwegs ist und damit, jetzt kommt die Kirchenhistoriker wieder durch, eine überaus seltene Quelle der Selbstdarstellung eines mobilen Performers im Dunstkreis der Amtskirche. Man kann den Jargon der Betroffenheit als einen weiteren Beitrag zur kirchlichen Sprachwelt lesen. Dann lohnen sich die 16 EUR für 160 Seiten nicht so wirklich, das meiste kann man sich auch aus seinem Blog und diversen Interviews selbst zusammenklauben. Man kann es aber auch als kirchlich-religiöse Biografie lesen, und dann lohnt es sich ganz außerordentlich. Finde ich. Und lese meine Predigt für morgen zum x-ten Mal kritisch Korrektur.

5 Kommentare:

  1. Vielen Dank für die Rezension zu meinem Buch - ehrlich gesagt, bin ich nach dem Lesen dieses Kommentars schlauer als zuvor. Das finde ich großartig.
    Auf die Idee, das Buch als Glaubensbiografie zu lesen, bin ich nie gekommen - aber ein Stück weit stimmt es.
    DANKE!

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Sehr gerne!
      Echt nicht? Ich hätte eigentlich gedacht, dass der biografische Subtext beabsichtigt gewesen ist. Oder bewusster. Es geht ja viel um Begegnungen.
      Danke auch zurück - ich hab gestern nochmal anders Predigt geschrieben. Bzw. heute gehalten. Unvorsichtiger.

      Löschen
  2. Lieber Herr Pyka, mir ist die Stossrichtung Ihres Textes nicht ganz klar. Denn die Beispiele, die Sie zu Beginn (Flügge) und zwischendrin (Quincke) erwähnen, sind doch reinster Politkitsch, die auf emotionale Kurzschlüsse statt auf rationale Aufklärung setzen und im Fall Quinckes auch noch zu allem Überdruss an den entscheidenden Stellen geradezu skandalös unscharf und wolkig daherkommen (Quinke zur Bombardierung Pforzheims "Der Krieg schlug erbarmungslos zurück ..." - nein und dreimal nein, das waren Menschen mit Namen und Gesicht, die auch hierfür verantwortlich waren und die genau wussten, was sie da taten). Damit sind sie doch Paradebeispiele für den neuen Jargon der Betroffenheit, der uns allerorten von den Kanzels so sattsam entgegenschallt. DAS soll nun die kräftige, neue Sprache sein? Gott bewahre!

    AntwortenLöschen