Donnerstag, 7. November 2019

Etwas Altes, etwas Neues, etwas Geliehenes, etwas Blaues...

Tagungsbeitrag zum Thema "Postmoderne Spiritualität"


In meiner Familie gibt es nichts großes Altes.
Außer meiner Großtante Erna, die den Erzählungen nach noch mit 92 einsachtzig ohne Schuhe maß, aber sie ist schon zehn Jahre vor meiner Geburt verstorben.
Es gibt keine alten Möbel.
Die mussten bleiben, damals,
als die Generationen vor mir sich aufmachten.
Vielleicht steht irgendwo in Schlesien noch ein wuchtiger Bauernschrank, in der meine Urgroßeltern ihre Kleidung „für gut“ aufbewahrten.
Vielleicht steht irgendwo in Schweden noch ein Holzofen in Kleinwagengröße.
Das mannshohe Küchenbüffet mit dem großen Bonbonglas im obersten Regal
ist verbrannt beim Angriff auf Barmen,
als die Bomber über Ronsdorf kamen und niemand sie kommen sah.
Eine uralte oder zumindest alte oder zumindest so aussehende Familienbibel ist verschwunden,
als meine Oma mit ihrer Schwester damals das Erbe aufteilte.
Du kriegst was, ich kriege was.
Am Ende waren die Bibel und zwei WMF-Töpfe übrig,
und Oma durfte zuerst wählen.

Als keine Bomber mehr flogen,
als meine Großeltern das Wirtschaftswunder wahr werden sahen,
als die Hamstertouren ein Ende hatten
und sie mit eigenen Händen ein eigenes Haus bauten,
auf eigenen Füßen standen in den eigenen vier Wänden,
verschwanden die letzten alten Möbel.
Es musste Neues her
um den vielen Platz zu füllen
und zu zeigen, sich selbst und anderen: Wir haben es geschafft.
Möbel, die nach massiver Eiche aussahen, aber viel leichter waren. Und preiswerter.
Die Platz boten für Farbfernseher, Barfach,
für Wunderapparate, die ein einfacheres Leben versprachen
und dieses Versprechen auch hielten.
Waschmaschine, Spülmaschine, Tiefkühltruhe.
Und die alte Bettwäsche aus der Aussteuerkiste ging ans Rote Kreuz
oder gleich an die Verwandten
drüben in der kalten Heimat,
weil sie ohnehin nicht in die Waschmaschine durfte,
und die Bleikristallgläser,
die nicht in die Spülmaschine konnten
und in die keine Kullerpfirsiche reinpassten,
wanderten zum Sperrmüll,
so wie die Einweckgläser und der Wäschezuber.

Als ich in meine erste eigene Wohnung zog,
hatte ich nur ein paar Möbel aus dem großen blaugelben Möbelhaus.
Und weil die Möbel billig waren.
Und leicht zu transportieren
beim nächsten Umzug und nächsten und übernächsten.
Praktisch. Und ein bisschen schade,
weil die glatten Oberflächen keine Geschichten erzählten,
weil der vom ersten HiWi-Lohn gekaufte Schreibtisch
mich mit niemandem verband, der früher daran gesessen hatte.
Und weil die Möbel sich sehr schnell abnutzten.

Mein erstes altes Möbelstück war ein Küchenbüffet vom Sperrmüll.
Mit vereinten Kräften abends durch die halbe Stadt getragen.
In den Semesterferien abgeschleift und geölt
und mit neuen Griffen.
Beim Umzug ziemlich schwer.
Mittlerweile sind Regale aus alten Weinkisten dazugekommen.
Und ein Gewürzregal vom Flohmarkt in Schweden.
Und ein paar alte Blechdosen, Knäckebrot, Hustenpastillen,
aus den 20ern.
Die halten immer noch.
Und so langsam kaufe und sammle ich mir Geschichte zusammen.
Dinge, die vorher anderen Leuten gehört haben.
Die mir ihre Geschichten erzählen.
Und die vielleicht nach mir noch jemandem gehören,
der seine Geschichte zu meiner dazulegt.

Ich habe auch wieder Einweckgläser. Neue und ein paar alte.
Früher haben Oma und Opa Marmelade gemacht, weil es so viele Kirschen gab.
Jetzt kaufe ich Kirschen, um Marmelade zu kochen.
Auch, wenn die Arbeitsabläufe sich umkehren,
auf dem Brötchen schmeckt es gleich.
Nach Sommer und Rot und Sonne und Grün und barfuß im Gras und knarrenden Leitern, auf deren Stufen schon längst die Farbe abgeplatzt ist.

In meiner Familie gab es auch nichts Religiöses von früher.
Keine Tischgebete,
keine gefalteten Hände,
kein Kreuz,
keinen Herrgottswinkel,
keine Lieder mit alten, knorrigen Wörtern.
Keine Bibel, dafür WMF-Töpfe.
Es gab ein altes Soldatengesangbuch.
In das legte Opa jeden Heiligabend einen Geldschein
und eine Schuppe vom Karpfen.
Warum auch immer.
In den Raunächten wanderte er in meine Spardose.
Der Geldschein also.

Als ich anfing zu studieren,
hatte ich wenig Religiöses an der Hand.
Ein bisschen Lobpreis und Sacro-Pop,
ein paar irische Segenswünsche
aus dem Jugendgottesdienst.
Selbst zusammengesucht, leicht zu handhaben.
Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer…
Ins Wasser fällt ein Stein…
May the road rise to meet you…

Ich habe sie noch.
Meinen Schreibtisch von IKEA übrigens auch.
Sie sind praktisch.
Und sie sind Teil meiner Geschichte.

Aber wenn ich jetzt einen neuen Schreibtisch brauchte,
würde ich wahrscheinlich woanders hingehen.
Auf den Flohmarkt, zu ebay-Kleinanzeigen,
zum Schreiner im Uellendahl,
der auch Entrümpelungen macht
und in seiner Schreinerei hinten eine kleine Schatzkammer hat,
von der nur wenige wissen, obwohl jeder rein darf,
mit alten Sachen, die es schon lange gibt und noch lange halten.

Wenn ich jetzt Worte für mein Herz brauche,
bleiben Feiert Jesus und Lebenslieder plus im Schrank.
Und ich greife daneben
zu Rilke
und Claudius
und Klepper
und Gerhardt
und Lobwasser.
Ich schau nach jenen Bergen gern,
ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich…
Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und –schuld…
Du, Nachbar Gott, wenn ich dich manches Mal in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, so ist’s, weil ich dich selten atmen höre…
… und unsern kranken Nachbarn auch…

Die Oberflächen sind weniger glatt.
Manche Sachen stehen in Schatzkammern hinter den eigentlichen Geschäften,
in die jeder rein darf, aber von denen kaum jemand weiß.
Die Sachen sind schwer,
nicht so einfach von einem Ort zum nächsten zu tragen.
Manchmal kommen neue Griffe dran,
mancher Sinn muss mir erst erklärt werden.
Aber sie halten länger.
Tragen Geschichten in sich,
verbinden mich mit den Menschen, die die Lieder gesungen haben
und noch nach mir singen werden.

Manchmal kehren sich die Abläufe um.
Ich habe erst lange Yoga gemacht,
jetzt nimmt das Herzensgebet auf der Matte Platz.
Ich habe Distler und Ligeti und Wolf gehört
und dahinter das Echo der Gregorianik.
Ich musste erst mit Marie Kondo fragen,
was mich glücklich macht,
bevor ich die Benediktsregel lesen und verstehen konnte.
Ich habe Kimchi in Industriemengen verputzt,
bevor in meinem Keller eine Ecke für das Sauerkrautfass frei wurde.
Ich habe mit Slow-Food-Produzenten gesprochen
und handgeformten Büffelmozzarella gegessen
und tagelang gegangenes Sauerteigbrot aus dem Steinofen
und Wein beim Winzer zuhause getrunken,
und manches Brot mit Tränen gegessen,
bevor mir der Dank davor und danach über die Lippen kam.
Nicht als Tischrap.
Zwei Dinge, Herr, sind Not, die gib nach deiner Huld,
gib uns unser täglich Brot, vergib uns unsere Schuld.

In meiner Familie gibt es nichts altes Religiöses.
Außer meiner Großtante Erna, die den Erzählungen nach das Gesangbuch auswendig konnte.
Aber die ist, wie gesagt, schon Anfang der Siebziger gestorben
und mit ihr so manches.
Aber neben meiner biologischen Familie
gibt es die logische,
theologische,
christologische.
In die ich nicht hineingeboren wurde,
sondern hineingetauft.
Die genauso verschroben ist wie meine Tschelotka daheim mit Onkel Karl und Oma Margot und Tante Lena und allen anderen,
und genauso liebenswert.
Und diese Familie hat Großes und Altes.
Im Hause unseres Papas sind viele Wohnungen.
In manchen stöbere ich herum.
Streichle mit der Hand über einen alten Bauernschrank,
fluche, als ich mir einen Splitter in den Finger haue,
aber finde das Ganze wunderbar.
Ahne, dass nicht alles bei mir Platz findet.
Sehe, dass mir nicht alles gefällt.
Aber komme jedes Mal voller Geschichten raus.

Sonntag, 7. April 2019

Zur Causa Jana

EIN ÜBERFÄLLIGES PROJEKT - UND EIN ERWARTBARER SKANDAL


Seit ziemlich genau einem Jahr gibt es das Projekt "Jana glaubt", ein von EKD, GEP und aej erdachtes und von einer externen Medienfirma produziertes Video-Projekt, bei dem Jana Highholder, Medizinstudentin und Slam-Poetin, über ihren Glauben erzählt. Ein solches Projekt war längst überfällig, weil die verfassten Kirchen das Internet im Allgemeinen und youtube und Podcast-Plattformen im Besonderen gemeinhin den in dieser Hinsicht weitaus umtriebigeren Geschwistern von eher rechtsaußen überlassen. 

Die meisten Menschen, auch die meisten evangelischen Gemeindeglieder, werden davon wenig mitbekommen haben - bis vor einigen Wochen, als sie sich mit der Pfarrerin Hanna Jacobs ein kontroverses Streitgespräch über die Frage: "Müssen sich Frauen unterordnen?"  geliefert hat, noch dazu am Weltfrauentag. 

Schon der Titel der Folge scheint aus der Zeit gefallen. "Müssen sich Frauen unterordnen?" (gemeint ist natürlich: unter Männer) ist eine Frage, die seitens der evangelischen Kirche in aller entschiedenen Breite Gott sei Dank seit Jahren mit einem klaren "Nein!" beantwortet wird - auch, wenn Alltagsdiskriminierung in der Kirche kaum weniger selten sein dürfte als im Rest der Gesellschaft. Es ist aber auch eine Frage, wie sie in evangelikalen Kreisen in aller Regelmäßigkeit gestellt wird, ähnlich wie "Ist es eine Sünde, wenn ich mich in der Sauna nackt zeige?" oder "Darf ich als Christ in ein chinesisches Restaurant gehen, wenn da eine Buddha-Statue steht?" Also eine Frage, die für den allergrößten Teil der Menschen in Deutschland nicht nur keine Rolle spielt, sondern vollkommen abwegig erscheint. Nun ist dieses evangelikale Milieu die geistliche Heimat von Jana Highholder - Till-Reimer Stoldt hat in der WELT schon vor drei Monaten auf diesen potenziellen Interessenskonflikt hingewiesen: 

"Gleichwohl wirkte das Votum der EKD wie eins gegen den eigenen Klub [...]. Daher meidet [Jana] manches Thema, das Evangelikalen am Herzen, liberalen Protestanten aber bleischwer im Magen liegt – etwa die Frage, ob Christen vor der Ehe enthaltsam leben sollen (was Jana bejaht, in EKD-Kreisen aber eher verpönt ist). Einen Bogen schlägt sie auch um Themen wie die Unfehlbarkeit der Bibel (für Evangelikale unbestreitbar, für die EKD falsch) oder um die Frage, ob alle Menschen in den Himmel kommen (für Evangelikale fast ausgeschlossen, für die meisten Mitglieder der EKD sehr wahrscheinlich)."

Die EKD ist also ein kalkulierbares Risiko eingegangen. Seit einigen Wochen schlagen die Wochen hoch, Hanna Jacobs zum Beispiel hat im (an dieser Stelle wärmstens empfohlenen) WORTKOLLEKTIV-Podcast ihre Eindrücke vom Gespräch noch einmal geschildert und auch in einem Artikelkompendium von Christ und Welt neben anderen medialen Schwergewichten der kirchlichen Szene Stellung bezogen. 

Ich bin noch ein bisschen unentschieden, wie ich die ganze Sache finde. Auf der einen Seite ärgern mich Janas Aussagen: Ich finde sie theologisch falsch und gesellschaftlich verheerend, und ich bin ein großer Anhänger vom Bild der Kirche als safe space, also als einem Raum, an dem Menschen vor diskriminierenden Äußerungen sicher sein können (dankbar bin ich trotzdem dem Evangelischen Zentrum für Männer und Frauen, für das Ruth Heß unlängst in einem Facebook-Post um ein differenziertes Verständnis von Janas Aussagen geworben hat). Auf der anderen Seite frage ich mich manchmal, ob safe spaces in medialen Kontexten überhaupt realisierbar sind, und ob sie nich an manchen Stellen ein etwas hübscherer Ausdruck für "Wagenburgmentalität" oder zumindest "Echokammer" sind. Ich würde mir wünschen, dass die Frage nach der Stellung der Frau ausdiskutiert ist. Wie andere Fragen auch. Aber der öffentliche Diskurs der letzten Jahre legt doch nahe, dass das alles andere als erledigt ist, und dass gesellschaftliche und theologische Errungenschaften keinen Ewigkeitscharakter haben, sondern immer wieder neu erkämpft werden müssen. Und dass die theologische und milieumäßige Vielfalt, die die EKD unter ihrem Dach beheimatet, solche ständigen Diskurse braucht.

DAS PROBLEM LIEGT WOANDERS


Ich kann Erik Flügge gut verstehen, wenn er (im besagten ZEIT/C&W-Artikelkompendium) sagt:
"Ein Grundproblem der kirchlichen Kommunikation ist, dass sich Formate ständig vor dem persönlichen Geschmack und dem persönlichen Glauben anderer rechtfertigen müssen. Schnell wird alles, was persönlich nicht gefällt, theologisch angegriffen. "Zu flach", "zu konservativ", "zu liberal" oder "zu undifferenziert" sind all die Dinge, die man persönlich einfach nicht schauen will."
Ich kann ihn auch verstehen, weil ich mich selbst getroffen fühle - ich gehöre schließlich auch zu denen, die gern den status confessionis ausrufen, wenn es um Fragen von Gender und sexueller Vielfalt geht. Wenn man statt Jana Highholder irgendjemanden in den Ring geschickt hätte, der oder die mit salbungsvoller Stimme sorgfältig gewählte und von einem paritätisch besetzten Gremium redigierte Sätze in die Kamera sagt, hätte man es auch lassen können, das gibt es bereits zur Genüge. Nur sind solche Formate medial wenig marktgängig - und, Hand aufs Herz, auch meistens nicht wirklich interessant. Wenn Stoldt in der WELT den Eindruck hat, es "gäbe es unter 21,5 Millionen EKD-Mitgliedern keinen geeigneten Kandidaten", dann trifft er, glaube ich, den Kern des Problems. 

Ich habe mich oft gefragt, warum ich zur eigenen Erbauung meistens US-amerikanische oder manchmal englische Podcasts oder youtube-Predigten höre. Zum Einen liegt das sicher daran, dass es, wegen der zitierten Übermacht evangelikal-fundamentalistischer Angebote, kaum etwas Deutschsprachiges gibt, das ich irgendwie interessant finde, geschweige denn relevant. Woanders werde ich da fündig und freue mich auf Neues von Barbara Brown-Taylor, Walter Brueggemann, Nadia Bolz-Weber, Anna Carter Florence, Anne Lamott oder Heidi Neumark. Ich frage mich seit längerem, warum das so ist, was mich bei ihnen anspricht, das ich anderswo vermisse. Und ich glaube, es liegt an der Sprache. Meinem Eindruck nach fehlt im Deutschen ein bestimmtes Sprachregister komplett, nämlich eins, das es möglich macht, alltagsnah, unaufgeregt, berührend und bewegend über den Glauben zu sprechen, ohne in theologische Floskeln, akademische Sprache, Poesie oder Betulichkeit zu verfallen.

Der gemeinsame Nenner von den hier zitierten Kolleg*innen ist, dass sie eine äußerst konkrete Sprache sprechen. Da Sprache vom Denken nicht zu trennen ist, hängt das natürlich auch mit der Theologie zusammen: Der deutschsprachige Mainstream-Protestantismus hat "Glauben" weitestgehend mit "Weltanschauung" übersetzt und damit Kategorien wie "Beziehung" und "Erfahrung" ausgeklammert. Vielleicht ist das die Voraussetzung dafür, eine schweigende und nur mehr oder weniger interessierte Mehrheit der Mitglieder bei der Stange zu halten und nicht zu verschrecken. Damit aber fallen derzeit relevante Kommunikationsstrategien wie Storytelling quasi automatisch weg oder werden zumindest zu einer extrem schweren Aufgabe. Konkrete Sprache fällt im protestantischen Mainstream sehr schnell unter den Verdacht der Freikirchlerei - kein Wunder, dass dieses Milieu so gut wie keine Menschen hervorbringt, die willens oder in der Lage sind, öffentlich über ihren Glauben zu sprechen. Insofern löst das Format "Jana glaubt" keine Probleme, aber es schafft auch keine neuen - sondern lässt nur bereits bestehende Probleme deutlich hervortreten. Wenn im Fahrwasser der jetzt gerade aufgebrandeten Diskussion mehr Menschen an die Öffentlichkeit treten, vielleicht sogar ein bisschen Offenheit, Einseitigkeit und Angreifbarkeit wagen, ist das nicht der schlechteste Dienst, den Jana Highholder der EKD erwiesen hat.