Samstag, 30. November 2013

Nie ohne Handschuhe Tränen trocknen...


Seht auf und erhebt eure Häupter,
weil sich eure Erlösung naht.
(Lukas 21,28)


Rote Augen starren mir entgegen. Das Gesicht übersäht mit braunen Flecken, der Mund von Herpes zerfressen. Der junge Mann keucht. Zwei Krankenschwestern in voller Schutzmontur drehen ihn mit routinierten Handgriffen auf die Seite und versorgen die klaffenden Wundliegegeschwüre. Mit ihren durchsichtigen Schutzmasken sehen sie aus wie ein Minenräumkommando. Als sie den jungen Mann wieder auf den Rücken drehen, läuft ihm eine Träne aus dem Augenwinkel. Instinktiv streift die jüngere Krankenschwester ihren Handschuh ab und wischt ihm die Träne aus dem Gesicht. Ihre ältere Kollegin schreckt auf. "Hoffentlich desinfizierst du dir die Hand jetzt ordentlich", zischt sie nach dem Passieren der Luftschleuse. "Wenn du unbedingt meinst, Tränen trocknen zu müssen, zieh dir wenigstens Schutzhandschuhe an!" "Ich weiß", entgegnet ihre junge Kollegin, "aber er war doch traurig." Unbeirrt wiederholt die ältere Krankenschwester die geltenden Schutzmaßnahmen.

Unruhig blitzt der Filmtitel auf, Bilder zucken ineinander, Bilder aus dem Stockholm der Achtzigerjahre, unterlegt mit basslastig wabernden Synthesizerklängen. Eine Stimme. "Das, was in dieser Geschicht erzählt wird, ist passiert. Und es ist hier passiert, in dieser Stadt. Es war wie ein Krieg, in Friedenszeiten ausgefochten. In einer Stadt, in der die meisten mit ihrem Leben weitermachten, als ob nichts geschehen wäre, wurden junge Männer plötzlich krank. Magerten ab. Verblassten. Und starben..."

In meinem kleinen roten Häuschen im småländischen Hochland, in der Idylle eines mückenschweren Sommerabends, 300 Kilometer und 30 Jahre entfernt von der Zeit und dem Ort, an dem das böse wahre Märchen spielt, wird es kalt. Ich bin kein besonders engagierter Filmgucker, würde gern die eindrucksvolle Bildersprache filmischer Meisterwerke und die grandiose Kreativität vieler Filmschaffender besser würdigen können. Aber wenn ich abends aufs Sofa plumpse, habe ich meistens keine Geduld mehr für quälend realistisch dargestellte Abgründe menschlichen Lebens, tiefsinnig inszenierte Konflikte und anspruchsvoll verschlungene Handlungswege. Darin ähnele ich meinem Vater, der mit großer Hingabe das Traumschiff, Inga Lindström und Rosamunde Pilcher guckt. Das habe er sich verdient, sagt er, als Kriegskind habe er schließlich genug Elend im wirklichen Leben gesehen. Ausnahmesweise ist es anders. Ich ziehe mir die Bettdecke über die Schultern und rücke näher an mein Notebook. Im Laufwerk surrt die DVD, und ich starre wie verhext auf den Bildschirm.

(c) Sveriges Television

Ein strahlender Frühlingstag. Die Sonne scheint zwischen den Zweigen rosa blühender Kirschbäume hindurch. Unter den Bäumen tänzeln junge Männer, umarmen, küssen sich. Eine Traumsequenz, eine Szene aus der Vergangenheit. Die meisten sind tot. Außer Benjamin. Ihm gehört die Stimme aus dem Off. "Und so lebe ich weiter. Ich habe ein ganz gutes Leben. Ein sehr gutes Leben, aufs Ganze gesehen. Die Risse gibt es, klar. Zwischendurch droht alles zusammenzubrechen. Wenn ich an Rasmus denke und an all die anderen Freunde. Sie, die lebten und verschwanden. Ich bin irgendwie nur halb ohne sie." Für einen Moment blitzt die Silhouette eines menschlichen Körpers auf, eingepackt in einem schwarzen Plastiksack. Darauf: Ein rosafarbener Zettel. Schwarze Druckbuchstaben. Ansteckungsgefahr. Dann wieder: Die rosafarbenen Wipfel von Kirschbäumen, die in voller Blüte stehen. Synthetische Streicherklänge schwellen im Hintergrund. "Und es waren diejenigen, die am meisten liebten. Die von Liebe besessen waren. Sie holte der Frost."

Der Bildschirm ist dunkel. Draußen wird es langsam hell. Morgennebel hängt über der taunassen Wiese vor dem Haus. Die letzten Worte klingen nach. Sie holte der Frost. Vier Stunden habe ich wie gebannt vor dem Bildschirm gehangen, gelacht und geweint. Eine Szene wird mich noch tagelang verfolgen: Die Leiche eines jungen Mannes liegt auf einem Krankenhausbett. Ausgemergelt, bleich, von Krankheit gezeichnet. Routiniert verpacken Krankenhausangestellte den leblosen Körper in einem schwarzen Plastiksack, dichten alles mit einigen Rollen Gaffatape ab und befestigen den Zettel mit der Warnung vor dem Ansteckungsrisiko daran. 

(c) Sveriges Television

Theoretisch wusste ich schon vorher, dass es so war, im Schweden der Achtziger. Dass man AIDS-Tote nicht verbrannte, aus Angst, sie würden die Luft verpesten. Dass sie stattdessen im schwarzen Müllsack und in verlöteten Särgen vergraben wurden, weil man fürchtete, sie könnten das Grundwasser kontaminieren. Heute blickt man etwas verschämt auf dieses Kapitel der jüngsten Geschichte zurück. Es passt nicht zum gegenwärtig gepflegten, liberal-aufgeklärten Image des Landes, dass noch vor dreißig Jahren schwedische Politiker und Ärztinnen in Parlamentsdebatten und Zeitungsartikeln vorschlagen, flächendeckende HIV-Tests einzuführen und Infizierte wahlweise in der Achselhöhle zu tätowieren oder in ausbruchssicheren Sammelkolonien, vorzugsweise auf einer küstenfernen Insel, zu isolieren. Letzterer Vorschlag wird auch im bayerischen Kabinett unter Peter Gauweiler dankbar angenommen, ähnliche Diskussionen werden auch in Deutschland geführt, allerdings nicht in dem Maße wie in Schweden, einem ungleich kleineren Land mit einer mitunter ans Manische grenzenden Sorge um die Volksgesundheit. 

Die Kirche hat sich, wie so oft, wenn es hart auf hart kommt, nicht mit Ruhm bekleckert: Als Sighsten Herrgård, Modedesigner und der erste Prominente in Schweden, der sich öffentlich zu seiner AIDS-Erkrankung bekennt, verstärktes Engagement der Kirche fordert, erwidert Dag Sandahl, (ehemaliges) stellvertretendes Mitglied der schwedischen Kirchenleitung und selbstgefälliges Sprachrohr der lutherischen Rechten in Schweden, lakonisch, die Kirche könne ja nicht auf jeden Zug aufspringen. Überall im Land tragen Pfarrerinnen und Pfarrer ihren Teil zur Hysterie bei, sei es, indem sie laut herausposaunen, AIDS sei eine Strafe Gottes, sei es, indem sie den pseudoapokalyptischen Lügenpropheten nicht widersprechen. Oder indem sie in ihren Trauerpredigten fiktive Freundinnen erfinden und zur Spende an die Krebsstiftung aufrufen. Der Jesus der Evangelien, der Aussätzige durch handgreifliche,
Quelle: dioezese-linz.at
körperliche Zuwendung aus ihrer Isolation herausholt (Mk 1,40-45 u.ö.) taugte und taugt offensichtlich nur so lange als Vorbild, wie man die Geschichten über ihn metaphorisch verwässern und damit das Evangelium sterilisieren kann. Auch in Deutschland waren es eher Pioniergeister wie Dorothea Strauß, Gründerin von "Kirche posithiv", die den diakonischen Auftrag und die theologische Relevanz erkannten - der Leib Christi ist nie nur partiell von HIV und AIDS betroffen. Und bis heute wird die Todesursache eines bedeutenden Praktischen Theologen meist nur hinter vorgehaltener Hand beim Namen genannt und im akademischen Gedenken beschämt verschwiegen.

Vor vier Jahren kam in der ARD eine halbstündige Dokumentation mit dem reißerischen Titel Aidskrieg - dankenswerter Weise ist er in der Mediathek immer noch abrufbar. Auch da werden Eindrücke von der Zeit damals vermittelt (großartig: Rita Süssmuth!), die Reportage kommt aber nicht an die Wucht der dramatisierten und personalisierten Darstellung in dem Fernsehfilm heran, der mich im Sommer auf heilsame Weise um den Schlaf gebracht hat.

Torka aldrig tårar utan handskar. Trockne nie Tränen ohne Handschuhe. So heißt der Fernsehfilm von Simon Kaiser, der in Schweden auf DVD erhältlich ist - leider bislang ohne englische oder deutsche Untertitel. Er ist eine Adaption der gleichnamigen Bücher von D. Jonas Gardell (Eingeweihte erkennen die theologische Ehrendoktorwürde, verliehen von der Universität Lund), in denen den Autor viele eigene Lebensthemen bewegen, unter anderem das Problem der Vereinbarkeit von offen gelebter Homosexualität und einer freikirchlichen Sozialisation - in einer der bewegendsten Szenen liest Benjamin seinem sterbenden Partner Rasmus aus Offenbarung 21 vor, ein Text, der immer wieder auftaucht. Vor allem aber sind die Bücher ein Denkmal, eine Rehabilitation und ein später Ehrensalut für all die jungen Männer, die der Frost holte und die man Sondermüll verscharrte. Und eine Möglichkeit für die Angehörigen, aus dem Schatten von Scham und Trauer herauszutreten.

Die letzte, lange Woche des Kirchenjahres geht zu Ende. Hier an der schwedischen Westküste ist es dunkel, in den Fenstern gehen die Lichter an. Es wird der erste Dezember. Welt-AIDS-Tag. Und erster Advent. Seht auf und erhebt eure Häupter.



Weiterführende Links:

Donnerstag, 28. November 2013

Zum Hören...

... gibt, bzw. gab es diese Woche Radioandachten, die zum Thema passen.

Zum Beispiel hier oder hier.

Mittwoch, 27. November 2013

Tröstliches und Schmerzhaftes aus der Kirchenmusikgeschichte

"Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann, doch worüber zu schweigen unmöglich ist", wusste bekanntlich schon Victor Hugo. Die Kirchenmusikgeschichte hält einiges zum Thema Tod und Sterben bereit, sie übersetzt tröstliche Worte in bewegende Klänge und verhilft diesen Worten zum Durchdringen in emotionale Tiefenschichten. Oder sie drückt unaussprechliche Schmerzen aus und verhindert so, dass das Schweigen alles Gefühl erstickt - und lenkt gleichzeitig, und sei es in kurzen Zwischentönen, den Blick aus der Enge der eigenen Trauer in die Weite, die sich am Horizont christlicher Hoffnung entfaltet. Die folgenden Beispiele stammen allesamt aus dem gängigen Repertoire bekannter Komponisten - es warten noch viele Schätze darauf, gehoben zu werden.

Natürlich handelt es sich hier um eine extremst kleine und in hohem Maße persönliche Auswahl - die aufgeführten Musikstücke haben für bestimmte Menschen biografische Relevanz. Herzlichen Dank fürs Teilen! Und eigene Vorschläge sind natürlich herzlich willkommen...


Heinrich Schütz (1585-1672): Die mit Tränen säen




Heinrich Schütz: Herr, wenn ich nur Dich habe

(Aus den Musikalischen Exequien, SWV 280)



Johann Sebastian Bach (1685 - 1750): Wir setzen uns mit Tränen nieder

(Aus der Matthäuspassion, BWV 244)



Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 - 1847): Denn er hat seinen Engeln befohlen

(Aus dem Oratorium Elias, MWV A25)




Johannes Brahms (1833 - 1897): Herr, lehre doch mich

(Aus dem Deutschen Requiem, op. 45)

 


Dienstag, 26. November 2013

Seilspringen am Grab


segovax / pixelio.de
Auf dem Gebiet unserer Gemeinde liegt ein etwas über hundert Jahre alter, mit 20.000 Quadratmetern Fläche äußerst kleiner, fast winziger Friedhof. Ende des 19. Jahrhunderts eingerichtet, ist der Stadtteil um ihn herum gewachsen, und so ist er fast ganz von Gärten und Gebäuden umrahmt. Er verfügt deswegen auch über keine durchgehende Friedhofsmauer, sondern an manchen Stellen nur über einen Maschendrahtzaun, der ihn unter anderem vom Pausenhof der ebenfalls in direkter Nachbarschaft gelegenen Grundschule trennt. 

Dass diese Besonderheit, die sich höchstwahrscheinlich eher einer städtebaulichen Verlegenheit als einer gezielten Überlegung verdankt, durchaus ihren Reiz hat, ist mir neulich bei einer Beerdigung klar geworden: 

Wir stehen an einem Grab in unmittelbarer Nähe zu ebendiesem Zaunstück, und zwar vormittags, genau zur großen Pause. Die Trauergemeinde ist ziemlich groß, deswegen ist lautes Sprechen am Grab angesagt - trotzdem geht das dramatisch gedonnerte "Erde zu Erde..." fast im Pausentrubel unter: Durch die Drahtmaschen hindurch, über den kleinen Kiesweg und einige Grabsteine hinweg windet sich, hopst und hüpft das Lachen und Schreien der Kinder, umtanzt die trauergekleideten Erwachsenen, zupft hier und da an einem Mantel oder spielt mit einem schwarzen Schal und plumpst erst weit hinter uns in das weiche Gras der Urnenfelder.

Anfangs stört mich das Gejohle, Kinderfreundlichkeit hin oder her, zugegebener Maßen enorm. Aber während die Trauergesellschaft langsam am Grab vorbeizieht, stehe ich am Rand und kann die Kinder beobachten, die ganz ungestört von dem Abschied nebenan auf ihrer Seite des Zauns seilspringen. Ab und zu blickt eins zu uns herüber, ohne sich ernsthaft stören zu lassen, ab und zu guckt einer der Trauernden den spielenden Kindern zu. Und ich stelle mir vor, wie sich beider Blicke für einen Moment treffen, wie sich ein stummes, flüchtiges, aber beide Seiten bewegendes Gespräch zwischen ihnen entspinnt, und mir gefällt das Ensemble von Friedhof und Grundschule mit kaum mehr als einem symbolischen Zaun dazwischen mehr und mehr:

Die Trauernden, die gerade die äußerste, hintere Grenze des menschlichen Daseins entlangwandern, werden daran erinnert, dass nur wenige Schritte weiter das pralle Leben tobt, dass die Welt entgegen dem, was manche fühlen mag, nicht stehen geblieben ist. Und die Kinder lernen auf eine ungezwungene Art und aus der Nähe, dass der Tod, so angemessen der Protest gegen ihn aus theo- und christologischer Sicht auch ist, zum Leben dazugehört, oder besser: Ins Leben gehört. In den Alltag, in die Mitte der Gesellschaft. Dorthin, wo wir ihn eigentlich nicht haben wollen, weil er zu sehr daran erinnert, dass wir alle auf relativ dünnem Boden stehen. 

Angehörige sind vor Beerdigungen oft unsicher, ob sie ihre Kinder mitnehmen sollen oder nicht. Ich bin in der Regel dafür, wenn sich, gerade bei jüngeren Kindern, sicherstellen lässt, dass eine von dem Todesfall nicht ganz so betroffene Bezugsperson für sie da sein und auf ihre Fragen antworten kann. Aber die Frage erübrigt sich im Grunde, wenn die Kinder ihre erste Beerdigung schon während irgendeiner großen Pause auf ihrer Seite des Zauns, aus einer sicheren und an der Stelle guten Entfernung miterleben konnten.

"Media vitae in morte sumus", wusste man im Mittelalter zu singen - "inmitten des Lebens sind wir vom Tod umfangen". Auf dem kleinen Friedhof bei uns in der Gemeinde ist es fast anders herum, in Abwandlung eines Gedichts von Rainer Maria Rilke gesagt: Das Leben ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir in den Fängen des Todes uns fühlen, / wagt es zu spielen, / hier neben uns. 

(c) Astrid Kirchhoff / pixelio.de

Sonntag, 24. November 2013

Aufgaben im Grenzland

„Nó“, so begannen sie immer, Tante Trudes Geschichten von drüben, aus der alten Heimat Oberschläsing. „Nó, jeronje, und dann ham wir rübagemaht.“ Und dann erzählte sie, die eigentlich gar keine „richtige“ Tante war, von ihrer Ausreise aus Polen, 1956. Jahrelang mit den Behörden um die Ausreisegenehmigung gefeilscht - und dann musste es plötzlich ganz schnell gehen. Mit der ganzen Tschelotka, Groß und Klein, Sack und Pack ging es in den Westen. Ihre Geschichte endete immer an der Grenze zur DDR. Genauer gesagt: Kurz dahinter. „Nó“, sagte sie dann, „ich guck' zurück - und seh' die Mauern, den Stacheldraht, das Grenzhäuschen, die Grenzsoldaten, die vor sich hin stieren" – und Tante Trude wusste  bei diesem letzten Blick Richtung Heimat: Über die Grenze hat sie zum ersten und letzten Mal rübergemacht. Ihre Heimat, das war in diesem Moment ganz klar, würde sie nie wiedersehen.

(c) Holzapfel / pixelio.de
Liebe Gemeinde, für mich waren und sind solche Geschichten vom Gefühl her ungefähr so nah wie die aus Tausendundeiner Nacht, Geschichten aus einer dunklen, längst vergangenen  Zeit und einer fremden Welt. Wir Jüngeren kennen keine geschlossenen Grenzen mehr. Grenzen sind die Autobahnstücke mit den kleinen Zollhäuschen, deren Schranken offen sind und über die man, wie man will, hin- und her fahren oder einfach drüberfliegen kann.


Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass in einer neueren Untersuchung über Dreiviertel der Jüngeren, der Unterfünfzigjährigen, angab, mit dem „Ewigkeitssonntag“ als Feiertag nichts anfangen zu können.


Denn der Ewigkeitssonntag ist der Feiertag für Menschen an der Grenze. An jener äußersten Grenze, die jeder und jede von uns eines Tages überquert. Eine Grenze, die nur von der einen auf die andere Seite passierbar ist und die Familien zerreißt. Für viele von Ihnen, die heute hier sind, ist diese Grenze im vergangenen Jahr aus dem Nebel aufgetaucht, sie haben Menschen verloren, die über diese Grenze gegangen sind. Manche konnten sich noch verabschieden, eine gute Reise wünschen, Absprachen treffen, auf Gemeinsames zurückblicken. Andere hatten diese Möglichkeit nicht, können nur wie versteinert auf unserer Seite dieser Grenze stehen bleiben und winken, und langsam nach Hause zurückgehen und hoffen, dass es denen, die „drüben“ sind, gut geht.


Das Land um die Grenze herum ist unsicheres Gebiet, kein Ort, an dem man seine Zelte aufschlagen will. Zu weit weg das sichere Landesinnere, zu nah das Andere, das Fremde. Das Land um die Grenze herum ist Niemandsland, im doppelten Sinne: In einer Gesellschaft, die den Tod aus ihrer Mitte verdrängt, die Sterbende in Institutionen versteckt und alles dafür tut, die Begrenztheit unseres Lebens zu vergessen, machen die Meisten einen großen Bogen um dieses Land vor der Grenze. Und wer keine andere Wahl hat, wer sich plötzlich kurz vor der Grenze wiederfindet, weil ein Angehöriger die letzte Reise angetreten ist, oder weil er oder sie selbst kurz vor dem Grenzübergang steht, steht oft allein.

Weil die Menschen um sie herum aus Angst, etwas falsch zu machen, oder aus Angst vor der eigenen Sterblichkeit zurückzucken und schweigen.


Wie sollen wir mit dieser Grenze umgehen, wie können wir uns im Grenzland verhalten?

Ich möchte den heutigen Predigttext als eine Orientierung in dieser Frage lesen. Es ist ein Wort Jesu aus dem Lukasevangelium, das wie ein Peitschenknall durch die Stille dieses Tages fährt und vielleicht beim ersten Hören zusammenzucken lässt. Mal sehen, wie es Ihnen geht mit Lk 12,42-48:


Der Herr aber sprach: Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht?  Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht.  Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen. Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen,  dann wird der Herr dieses Knechtes kommen an einem Tage, an dem er‘s nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen. Der Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt, hat aber nichts vorbereitet noch nach seinem Willen getan, der wird viel Schläge erleiden müssen. Wer ihn aber nicht kennt und getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge erleiden. Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.


Liebe Gemeinde, diese Worte sagen nichts, womit wir uns das Grenzland schön reden können. Keine salbungsvollen Worte, die den Übergang erleichtern, die die Grenze in einem helleren Licht erscheinen lassen – aber die doch Perspektiven eröffnen für das Leben im Grenzland.


Eine Figurenkonstellation bestimmt die Szene, Herr und Verwalter. Und vielleicht bleiben wir hier erst einmal stehen. Ein Verwalter ist jemand, der unter dem Herrn steht, aber in dessen Abwesenheit an seiner Stelle entscheidet, der also stellvertretend Verantwortung übernimmt. In der Bibel taucht dieser Gedanke ganz am Anfang auf, im ersten Schöpfungsbericht, da heißt es (Gen 1,26): Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. 


Dem Menschen ist hier eine Herrschaft aufgetragen, die aber nicht absolut ist – die „Krone der Schöpfung“ kann und soll nicht nach Gutdünken haushalten, sondern bleibt seinem Herrn, dem, den er vertritt, verantwortlich. Es lohnt sich, bei einer anderen Gelegenheit nochmal darüber nachzudenken, was das bedeutet für unseren Umgang mit der Welt, in der wir leben – aber das ist heute nicht dran. Halten wir nur fest: Wir haben eine Aufgabe in dieser Welt, in diesem Leben, eine Aufgabe, bei der wir gebunden sind an das, was wir von Gottes Willen für diese Welt erfahren.


Was heißt das für die einsamen Landstriche vor der Grenze unseres Lebens?


Jesus spricht von vier Verwaltern, einem, der seinen Auftrag vorbildlich ausführt und dreien, die in ihrer Pflicht versagen. Bleiben wir beim ersten, es geht ja um Perspektiven.


Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht?

Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht.


Der kluge Verwalter, die treue Haushälterin erweisen sich zunächst daran, dass sie den Menschen, die ihnen anvertraut sind, zur rechten Zeit das geben, was ihnen zusteht. Im griechischen Text heißt es konkreter: zur rechten Zeit die ihnen zugeteilte Ration an Getreide geben, mit Matthäus gesagt, bei dem das Gleichnis auch steht: … zur rechten Zeit zu essen geben.


Tante Trudes Geschichte ging weiter, und ihre Stimme bekam immer etwas Warmes, wenn sie von den schönen Erinnerungen erzählte, die sie trotz aller Beschwerlichkeit an diese Reise hatte: Dann erzählte sie vom Roten Kreuz, das hinter der Grenze auf die Aussiedler wartete. Bei einer Pause auf der langen und beschwerlichen Fahrt konnten sie aus dem überfüllten Zug aussteigen und sich die Beine vertreten. Es Kaffee für die Erwachsenen, Trockenmilch für die Kinder und Butterbrote und Decken für alle. Und Tante Trudes Augen glitzerten, wenn sie von der Puppe erzählte, die eine Mitarbeiterin ihr heimlich zusteckte und die sie über Jahre hütete wie einen Schatz.


Vielleicht können wir hier, wie so oft, etwas vom Judentum lernen, wo es ein Netz von Traditionen und Gebräuchen gibt, die die Trauernden schützend umgeben: Dort beginnt mit dem Todesfall in einer Familie die siebentägige Schiwa, in der die Trauernden das Haus nicht verlassen, sondern im Wohnzimmer beisammen sitzen, oft auf niedrigen Stühlen oder Matratzen, die symbolisieren, dass sie buchstäblich am Boden zerstört sind. Es gilt als eine mitzwah, eine gute Tat, Trauernde in dieser Woche nicht allein zu lassen, sondern sie zu besuchen, mit ihnen gemeinsam der Verstorbenen zu gedenken oder einfach zu schweigen – und ihnen Essen mitzubringen, damit sie nicht selbst kochen müssen. Manche Gemeinden haben sogar entsprechende ehrenamtliche Dienste. Die Trauernden werden so aus ihrer sozialen Isolation befreit und rundherum versorgt.
Beim Verlassen des Trauerhauses wünscht man den Angehörigen: Hamakom y‘nachem etchem b‘toch sh‘ar aveylei tziyon viyrusholayim – Möge Gott dich trösten unter den Trauernden Zions und Jerusalems.

Ich glaube, dieses letzte Wort ist wichtig, weil auch die Besucher, Tröster und Helfer sich nicht übernehmen sollen und gut daran tun, zu erinnern, wer der eigentliche Tröster war, ist und sein wird.


Liebe Gemeinde, ein treues Verwalten der Schätze und der Hoffnung, die uns anvertraut ist, stelle ich mir im öden und trostlosen Grenzland von Tod und Trauer so ähnlich vor:

Dort zu sein und auszuharren, wo sonst kaum jemand hingeht und den Menschen, die dorthin gespült werden, zur rechten Zeit das zu geben, was sie brauchen – und was ihnen zusteht: Das kann die Unterstützung bei Alltäglichkeiten sein, die plötzlich unendlich schwer sind. Das kann eine Umarmung sein, oder einfach das schweigende Zuhören und das dringend notwendige Signal: Du bist nicht allein. Das kann auch, zur rechten Zeit und wenn wir gefragt werden, die leise Erinnerung daran sein, dass wir eine Hoffnung haben, die über dieses Leben hinausgeht, und dass der Grund dieser Hoffnung derjenige ist, der über der letzten Grenze wacht, der über uns allen steht und dereinst zurückkommt.


Apropos Hoffnung – noch einmal Tante Trude: 
(c) Marc Tollas / pixelio.de
Tante Trudes Ahnung hat sich nicht bewahrheitet. Angesichts der festungsartig gerüsteten, mit Stacheldraht, Warnschildern und grimmigen Soldaten besetzten Grenze, die so endgültig und undurchdringlich und unbarmherzig aussah, hat sie gedacht: Hier komme ich nie wieder rüber, ich werde meine Heimat nie wieder sehen. 2006 ist sie mit ihrer Tochter nach Polen gefahren, durch die nun offenen Grenzen, und hat die Orte ihrer Kindheit besucht. „Nó“, sagte sie bei ihrer Rückkehr, „hätt ich nich gedacht.“ Und komisch sei es gewesen, weil alles so anders war als in ihrer Erinnerung, sie hätte die Städte fast nicht erkannt – „aber die Schneekoppe, die war immer noch da und ganz weiß. Da wusste ich: Hier bin ich richtig.“ 50 Jahre sind immerhin vergangen, ein ganzes politisches System musste in der Zwischenzeit untergehen, ein Land sich neu erfinden, ein eiserner Vorhang fallen, bevor die Grenze gegen alle Hoffnung und alle Vermutungen offen war.


Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;  und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Amen.

Samstag, 23. November 2013

Themenwoche: Sterben, Tod und Trauer

Allerheiligen - Allerseelen - Ewigkeitssonntag. Auch für an sich wenig wetterfühlige Menschen wie mich ist es nicht schwer zu verstehen, warum die christlichen Totengedenktage im November begangen werden. Nach dem Herbst, der das allgegenwärtige Absterben überall in der Natur ja doch nur ein bisschen vergolden, nicht aber aufhalten kann, trägt die Welt nun grau.
Klaus-Uwe Gerhardt/Pixelio.de
Auch bei den Kirchengeschichten geht es in der kommenden und etwas intensiver als sonst bebloggten Wochen um das Thema Sterben, Tod und Trauer - und gleichzeitig auch um die Hoffnung auf das, was jenseits dessen liegt. Den Anfang macht morgen eine Predigt zum Ewigkeitssonntag.

Sonntag, 17. November 2013

Fernsehpfarrer im Realitätscheck (III)

In der Bonner Heilandkirche (die eigentlich, zumindest von innen, die Kölner Kartäuserkirche ist - s.u.) geht es wieder einmal rund. Unter dem bedeutungsschwangeren Titel Wunder erwarten Andreas Tabarius und die Seinen eine ganze Reihe davon. Im Zentrum der Folge (in der Mediathek hier zu sehen) stehen das Schicksal einer Obdachlosen und ein undichtes Kirchendach. Im Gegensatz zu früheren Episoden konnte der Samstagabend diese Woche mit einigen überraschend realistischen Szenen aufwarten - leider, möchte man in manchen Fällen sagen, denn dort geht es um Umstände, die auch im echten Kirchenleben nicht unproblematisch sind. Eine "Predigt" bleibt den Zuschauern in dieser Folge zu aller Freude diese Woche erspart, stattdessen tanzt Familie Tabarius zu We are Family durch die Küche - erbaulicher als das Kanzelgeblubber des Fernsehpfarrers ist das allemal.

Die Obdachlose

Treibende Kraft ist zunächst Frau Marquardt, die resolute Gemeindesekretärin. Die triefende Personenchemie zwischen ihr und dem Amtskollegen lässt vermuten, dass die beiden spätestens in drei Folgen in der Kiste oder auf dem Kopierer oder sonstwo landen, und wahrscheinlich kommt es dann zu schwerwiegenden Verwürfnissen zwischen den Erwachsenen und den Pfarrerskindern... aber warten wir es ab. Frau Marquardt jedenfalls stößt in ihrem Antiquitätenladen auf die obdachlose und von Schwindelanfällen geplagte Frau Schütte und wendet sich an Pfarrer Tabarius. Der, beim Pizzaessen im Kreise der Familie gestört, ist gar nicht begeistert von der Idee: "...und dann kommen Sie zu mir?!" (Sohn Nummer Drei ergänzt zu Recht: "Zu uns!"). Frau Marquardt lässt nicht locker, auf ihre wütende Nachfrage, ob er denn "Christsein nur studiert" hätte, erwidert er: "Das ist menschlich natürlich top - aber das geht so nicht!" Im Endeffekt lässt er sich natürlich doch erweichen, und es beginnt ein gegenseitiger Läuterungsprozess: Tabarius, Frau Schütte (die sich skandalöser Weise gar nicht richtig helfen lassen will) und die Pfarrerssöhne kommen einander näher und natürlich verstehen sich am Ende alle besser als vorher. 



Wie realistisch das ist? Gar nicht so unrealistisch, und das macht die Episode fast schon interessant: Im ersten Pfarrerscheck hatte ich erwähnt, dass im Zweikampf von Tabarius und seiner bösen Presbyteriumsvorsitzenden der alte Dualismus von Institution und Charisma inszeniert wird. Das ist ein altes, u.a. auf Max Weber und Rudolf Sohm zurück gehendes kirchengeschichtliches Paradigma, bei dem man davon ausgeht, dass Autorität auf zwei Arten abzusichern ist: Durch eine charismatische Persönlichkeit oder durch Leitungsstrukturen. Lange Zeit entsprach dem der klassische protestantische Blick auf die früheste Kirchengeschichte: Zuerst waren da Jesus und die Apostel, dann ging das Charisma verloren und die Christen schufen als schlechten Ersatz hierarchische Strukturen - der Anfang einer Verfallsgeschichte, die erst durch die Reformatoren wieder aufgehalten werden konnte. Wenn auch dieser häufig in allzu platter Vulgarität vorgetragene Dualismus kirchengeschichtlich so nicht haltbar ist, eignet er sich offensichtlich doch zur Dramatisierung: In den allermeisten Fernsehserien, die im kirchlichen Milieu spielen, geht es letzten Endes um den Konflikt zwischen grundpatenten Einzelpersonen und dem kirchlichen oder bürgerlichen Establishment: Da kämpfen Schwester Lotte und Schwester Hanna gegen Bürgermeister Wöller und die böse Mutter Oberin, da bringt die Pastorin (Christine Neubauer) ihre Landgemeinde durcheinander und so weiter. In dieser Folge werden die Rollen vertauscht, und Andreas Tabarius steht plötzlich als Vertreter einer kaltherzigen, berechnenden Institution da, der zu (zunächst) zu unbeweglich ist, um auf die glasklaren Lösungsvorschläge, die die vor Charisma sprühende Gemeindesekretärin ihm präsentiert, einzugehen: Er verweist auf staatliche Stellen und seine eigene Privatsphäre, ventiliert sein Misstrauen gegenüber der Obdachlosen (wer weiß, warum die auf der Straße gelandet ist) und erklärt, dass sporadische Einzelzuwendungen das grundsätzliche Problem nicht lösen. Und so ruckelt sie Serie diese Woche an einem Stachel im Fleisch der Kirche und stellt die Frage nach dem Ort der Diakonie in der Gemeinde. Die Einwände des Fernsehpfarrers sind alle durchaus berechtigt und sachlich gerechtfertigt und bleiben doch moralisch anfechtbar: Darf und soll ein Pfarrer so sehr auf der Intimsphäre seiner
Dienstwohnung beharren? Oder muss er das nicht sogar, weil er seine Familie zu schützen hat? 
Realistisch dabei auch die Obdachlose - denn die will sich zunächst partout nicht helfen lassen. Auch das ist eine Erfahrung, die Menschen machen, wenn sie mit Obdachlosen arbeiten, die Hilfeangebote nicht annehmen wollen, sei es aus nostalgischem Festhalten an einem (wirklich oder vermeintlich) selbstgewählten, bohemischen Lebensstil, sei es aufgrund psychischer Erkrankungen, die laut zahlreichen Studien in diesem Milieu gehäuft vorkommen. Im Fernsehen löst sich alles in Wohlgefallen auf, natürlich durch das energische Eingreifen des nunmehr geläuterten und ganz auf der Seite von Frau Schütte stehenden Tabarius (dessen seelsorgliches Reden ähnlich selbstreferenziell ist wie sein Predigen). Aber: Die offenen Fragen bleiben. Wer sich mit dem Thema ausführlicher auseinander setzen will, kann das übrigens bei der evangelischen Obdachlosenhilfe tun.

Der Herr Pfarrer und die Frauen


Frau Marquardt ist nur eine von vielen, die dem Herrn Pfarrer offensichtlich amourös nicht abgeneigt ist - wie gesagt, man wird sich höchstwahrscheinlich auf Leidenschaftliches freuen (?) dürfen. Oder auf Bizarres, wenn beim Schäferstündchen plötzlich die verblichene Frau Tabarius im Zimmer steht, die ist nämlich auch in der dritten Folge wieder mit von der Partie und boostet das Ego ihres dekorativ an sich selbst zweifelnden Ehemannes. Auch die reiche (und deswegen vorabendprogrammatisch per se böse) Schwester von Frau Schütte streicht ihm gurrend um die Beine und will sogar Sex mit ihm - gegen Spende, versteht sich. Und auch Frau Nadolny, die sehr junge Ärztin, weitet lüsternd die Nüstern, als sie Pfarrer Tabarius über ihre ständige Bereitschaft in Kenntnis setzt.

Gerade sagt sie: "Möäännerrrrr...."

Wie realistisch das ist? Irgendwie ja schon. Es ist eine bekannte Tatsache, dass Pfarrer, ebenso wie Ärzte, Lehrer, Anwälte und andere zum Gegenstand erotischer Interessen ihrer Klient_innen, Patient_innen und Schüler_innen werden können. Realistisch betrachtet handelt es sich dabei in den wenigsten Fällen um rein persönliche Sympathien, sondern um die Übertragung von Erfahrungen, Konflikten, Wünschen und Sehnsüchten, einem aus Seelsorge, Beratung und Therapie sattsam bekannten Phänomen oder um eine Reaktion, die durch eine falsche Interpretation der therapeutischen Beziehung hervorgerufen wird, bei dem der/die Ratsuchende die professionell-klientenzentrierte, aktiv zuhörende Haltung des Beratenden als persönliches Interesse missversteht. Als Seelsorger_in muss man sich dieses Risikos bewusst sein und sollte professionell damit umgehen können. Andreas Tabarius, von Beginn des Gesprächs mit Frau "Nennen Sie mich 'Gabi'" Miller an aus sämtlichen erotischen Kanonen und den unfairsten Winkeln beschossen, schlägt sich gar nicht mal so schlecht, tappt aber auch in naheliegende Fallen. Als sie ihm in aller Laszivität, die im öffentlich-rechtlichen Vorabendprogramm möglich ist, entgegenkeucht: "Ich liebe schüchterne Männer, wenn sie dann auch noch Pfarrer sind und so gut aussehen wie Sie...", lässt er sich auf diese private Ebene ein und widerspricht: "Frau Miller... Gabi, wenn ich schüchtern wäre, dann würde ich hier nicht einfach so einmarschieren...", kriegt aber noch die Kurve zur Kirchendachfinanzierung. A propos Übertragung: Das Ganze hat natürlich noch eine andere Ebene, denn Frau Miller dürfte auch eine Projektionsfigur für die Fantasien der anvisierten Durchschnittszuschauerin sein, die sich bei Mon Chéri und Instantcappuccino kaum entscheiden kann, ob sie sich über das Biest im Fernsehen entrüsten oder lieber an deren Stelle wünschen soll und die sich, als Tabarius seinen Kindern mitteilt, er habe "Lust auf Tomate-Mozzarella", denkt: "Hmm, lecker, könnte man eigentlich auch mal wieder machen."

Das Kirchendach


In der Heilandkirche tropft es durch das Dach. Bei einer Baubegehung ist man sich über das Ausmaß und die Finanzierbarkeit der Reparaturkosten uneins. Pfarrer Tabarius weigert sich, vor Eimern zu predigen, die böse Presbyteriumsvorsitzende will kein Geld geben, der Küster weiß nicht, was zu tun ist. Der Superintendent jedoch bewilligt ein Viertel der Kosten (offensichtlich) aus Kirchenkreismitteln, sofern Amtsbruder Tabarius den Rest mit Spenden aufbringen kann.



Wie realistisch das ist? Nicht sehr. Zum Einen rennt der Superintendent nicht dauernd durch die Gemeinden, zum Anderen kann er nicht im Eilentscheid über Kirchenkreisgelder verfügen. Und gleichzeitig: Der Bauunterhalt alter, denkmalgeschützter Kirchen ist ein Dauerproblem für viele Kirchengemeinden. 

Fernsehen trifft Realität - Veranstaltungshinweis


Wie oben erwähnt, werden die Kirchenszenen in der Kölner Kartäuserkirche gedreht. Die Gemeinde ist beim Dreh beteiligt gewesen - und am 1. Advent findet ein Gottesdienst mit Simon Böer alias Andreas Tabarius statt. Ich kann leider nicht, bin aber gespannt, wer was darüber zu berichten weiß - und finde es gut, dass die evangelische Gemeinde Köln solche Schnittstellen wahrnimmt und gestaltet!


Donnerstag, 14. November 2013

Ihr Kirchenausstatter empfiehlt: Besonderes zum Weihnachtsfest!

Ja, is denn scho Weihnachten?! Sicher nicht. Und casual friday ist auch noch nicht, aber als Kirchenmensch ist man ja ohnehin schon seit dem Spätsommer mit Weihnachten beschäftigt, da können die Leute noch so laut schreien, dass Advent im Dezember ist. Und wer vor dem Fest noch die Orgel stimmen, den Talar waschen, flicken und bügeln lassen und etwas ausgefallenere Accessoires für die Weihnachtsgottesdienste bestellen will, ist ohnehin schon fast ein bisschen spät dran...

"Interpretation statt Konfrontation" ist derzeit das gar nicht so verkehrte Motto im Umgang der praktisch-theologischen Wissenschaft mit Bräuchen, Symbolen und Riten, die sich an die kirchlichen Feste anlagern. Dazu will man/frau natürlich passend ausstaffiert sein!


Sonntag, 10. November 2013

Die Witwe. Die Wut! Der lange Atem...



Gottesdienst zum drittletzten Sonntag des Kirchenjahres,
gestaltet mit den Kölner Himmelstöchtern

Jesus erzählte ihnen aber ein Gleichnis, um ihnen zu sagen, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten: In einer Stadt gab es einen Richter, der Gott nicht fürchtete und keinen Menschen scheute. Und in dieser Stadt gab es auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaffe mir Recht gegenüber meinem Gegner! Eine Zeit lang wollte er nicht. Danach aber sagte er sich: Wenn ich auch Gott nicht fürchte und keinen Menschen scheue - dieser Witwe will ich, weil sie mir lästig ist, Recht verschaffen, damit sie am Ende nicht noch kommt und mich ins Gesicht schlägt. Und der Herr sprach: Hört, was der ungerechte Richter da sagt! Sollte nun Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht Recht verschaffen, und sollte er ihre Sache aufschieben? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht verschaffen, und zwar unverzüglich. Bloß - wenn der Menschensohn kommt, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?


In einer Stadt gab es einen Richter. Ein kurzer Satz reicht, und wir sind mitten im Leben.

In einer Stadt gibt es einen Richter, der Gott nicht fürchtet und keinen Menschen scheut. Und es gibt auch eine Witwe, die immer wieder zum ihm kommt und sagt: "Verschaffe mir Recht!" - aber er will nicht.

In einer Firma gibt es einen Chef, der viel von seinen bevorzugten Mitarbeitern hält und wenig von Gleichstellungsplänen. Und in dieser Firma gibt es eine Mitarbeiterin, die immer wieder zu ihm kommt und fragt: "Wann werde ich bei Beförderungen berücksichtigt, wann wird meine Leistung anerkannt?" -  aber er will nicht.

In einer Klasse gibt es eine Lehrerin, die viel von ihrer Berufserfahrung und Menschenkenntnis hält und die mündlichen Noten für das ganze Schuljahr meist nach der ersten Woche vergeben hat. Und in dieser Klasse gibt es auch einen Schüler in der letzten Reihe, der immer wieder zu ihr kommt und sagt: "Wenn irgendwer stört, bin ich immer der, der Schuld ist. Und wenn ich mich mal melde, werde ich nie drangenommen – benoten Sie endlich mal gerecht!" Aber sie will nicht.


Bernd Kasper / pixelio.de
 

Liebe Gemeinde, der Gedanke an ungerechte Richter, die nach eigenem Gutdünken, nach Tagesform und Lust und Laune Anträge annehmen oder ablehnen und damit über Schicksale entscheiden, dieser Gedanke hinterlässt bei mir ein ungutes Gefühl. Genauso wie der Gedanke an Vorgesetzte oder an irgendwelche Menschen in Machtpositionen. Ich finde es trotzdem wichtig, dass der Richter hier im Gleichnis genannt wird – das macht die Geschichte realistisch, denn es gibt sie ja, Gott sei es geklagt. Dem Richter wird hier kein literarisches Denkmal gesetzt, er bleibt bis zum Ende und darüber hinaus unsympathisch. Denn er lenkt zwar ein – aber nicht, weil er die Not der Witwe ernst nimmt, weil er einsieht, dass vielleicht ihr ganzes Überleben von seinem Richterspruch abhängt. Hört, was der ungerechte Richter sagt, sagt Jesus: Dieser Witwe will ich, weil sie mir lästig ist, Recht verschaffen, damit sie am Ende nicht noch kommt und mich ins Gesicht schlägt.

Und ich höre, was er sagt, und finde es eklig, abstoßend, erschreckend.



Jesus spricht: Hört, was der ungerechte Richter sagt. Sollte nicht Gott…



Und hier erschrecke ich noch mehr. Der ungerechte Richter – und Gott im selben Atemzug. Ich höre, wie es weitergeht, wie es weitergehen muss, theologisch korrekt: Gott ist natürlich kein ungerechter Richter und wird sich deswegen natürlich umso mehr um seine Menschen kümmern. Aber eine Schrecksekunde lang öffnet sich in dem Gleichnis ein kleiner Spalt für eine Frage, die vielleicht noch schwerer zu ertragen ist, noch tiefere Wunden reißen kann als die Frage, ob es Gott überhaupt gibt. Eine Frage, die auch Abraham vor Sodom bewegt: Sollte etwa Gott selbst ungerecht sein? Kann es sein, dass es zwar einen Gott gibt, aber dass der gar nicht so gut ist, wie wir immer singen und tun, sondern im besten Fall uninteressiert, im schlimmsten Fall amüsiert über das Leiden seiner Menschen? Ich glaube, dass Jesus, als er das Gleichnis erzählt, diese Frage in Kauf nimmt, denn sie stellt sich doch. Damals wie heute.

Günther Gumhold / pixelio.de


In Auschwitz, kurz nach der Befreiung des Lagers, sitzen einige der ganz wenigen überlebenden Rabbiner in einer Baracke, und sie tun das, was jüdische Geistliche und Gelehrte in der langen und schweren Geschichte des Volkes Israel mehrfach getan haben: Sie machen ihrem Gott den Prozess. Sie sitzen zu Gericht über ihn wegen des Blutbades unter seinen Kindern, sie erheben Anklage gegen ihn wegen Feindseligkeit, Grausamkeit und Gleichgültigkeit.

Im Morgengrauen wird das Urteil verkündet: "Wegen der ungeheuerlichen Unterlassungen, die er sich an seinen Kindern hat zuschulden kommen lassen, wird der Heilige, gelobt sei er, mit sofortiger Wirkung aus der Gemeinschaft ausgestoßen." Und es war, als hielte der Kosmos den Atem an.


Jesus fragt: Wenn der Menschensohn kommt, meinst du, er wird Glauben finden auf Erden? Ist es Unglauben, wenn jemand die Trümmer seines ganzen Lebens Gott ins Gesicht schleudert und ihn für schuldig befindet? Wenn der Glauben an den lieben Gott zerbricht, in dem Moment, in dem ein Pfarrer die Tür schließt und die Hand auf das Knie seiner Konfirmandin legt? In dem Moment, in dem ein Arzt mit Sorge im Blick sagt: „Es sieht nicht gut aus?“ In dem Moment, in dem alles zu schnell geht und die Bremsen versagen und nach einem dumpfen Knall nichts mehr ist?

Liebe Gemeinde, vielleicht hat die Witwe aus der Stadt mit dem ungerechten Richter Freunde, die ihr sagen: Gib es auf. Du bist und bleibst ja auf jeden Fall moralisch im Recht. Vielleicht sagt sich die Mitarbeiterin in der Firma mit dem kurzsichtigen Chef irgendwann: Das ist es nicht wert, und reicht die Kündigung ein, weil keine Abfindung und Hartz IV immer noch besser ist, als jeden Tag mit Magenkrämpfen zur Arbeit zu gehen. Und vielleicht macht der Schüler mit der ungerechten Lehrerin irgendwann dicht, weil er sich sagt: Es bringt sowieso nichts, und gibt ihrer Einschätzung und ihrer Benotung letzten Endes recht.



Aber die Witwe gibt nicht klein bei. Immer wieder rückt sie dem Richter auf die Pelle, lässt ihm keine Ruhe, nervt ihn und erhebt ihre Stimme und ihre Faust, gegen alle Erwartungen, gegen alle Vernunft, gegen alle Umgangsformen. Und sie erhält Recht.



In Auschwitz erheben die Rabbiner Anklage gegen Gott. Im Morgengrauen wird das Urteil verkündet: "Wegen der ungeheuerlichen Unterlassungen, die er sich an seinen Kindern hat zuschulden kommen lassen, wird der Heilige, gelobt sei er, mit sofortiger Wirkung aus der Gemeinschaft ausgestoßen." Und es ist zunächst, als hielte der Kosmos den Atem an. Dann seufzt der Vorsitzende und sagt: „Kommt, jetzt gehen wir beten.“



Liebe Gemeinde, manchmal gehört zum Glauben auch ein langer Atem und viel Geduld. Das war schon immer so – und Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis, um ihnen zu sagen, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollen. Und ins Gebet hinein gehört manchmal auch die Wut, die Enttäuschung, die Bitterkeit darüber, dass dieses Leben und diese Welt so sind, wie sie sind. Dafür gibt es Vorbilder. Die lärmende, lästige, wütende Witwe. Abraham, der Gott herausfordert und ihn auf seine eigene Verheißung festnagelt. Jakob, der eine ganze Nacht lang am Ufer des Jordans mit Gott ringt und ihn festhält und sagt: „Ich lasse dich nicht los – es sei denn, du segnest mich!“ Die vier Freunde des Gelähmten, die Jesus aufs Dach steigen. Die namenlosen Beterinnen und Beter in den Psalmen, die laut rufen: Schaffe mir endlich Recht! Die Rabbiner von Auschwitz, die ihrer Verzweiflung und ihrem Zorn Luft machen – die sich aber das Gebet nicht nehmen lassen.


IESM / pixelio.de


Wenn der Menschensohn kommt, meinst du, er wird Glauben finden auf Erden? fragt Jesus.
Und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn er kommt. 
Ohne Brausen, ohne Getöse, nur mal so, zum Gucken,
ob er Glauben findet auf Erden?
Und ich stelle mir vor: 
Er geht durch die Straßen, 
vorbei an mächtigen, geputzten Kirchenfassaden, 
hört überall Glocken zur vollen Stunde, 
sieht goldene Kreuze auf und unter der Kleidung, 
und kümmert sich gar nicht drum, 
und stellt sich stattdessen mitten in eine Gruppe Menschen, 
die mit Wut und Transparenten 
vor einem Regierungsgebäude oder einem Rathaus stehen, 
stärkt ein paar müde Knie, 
damit sie noch lange da stehen können, 
gibt ein bisschen Hoffnung in ihre Wut 
und gibt ihnen langen Atem, 
damit sie noch lange rufen können: 
Gerechtigkeit jetzt! 
Kommt an ein Krankenbett, 
in dem einer liegt, 
von dem die Ärzte sagen: 
Es lohnt nicht mehr. 
Stellt sich hinter seine Frau, die ihm die Stirn wischt und die Windeln wechselt 
und legt die Hand auf ihre Schulter und wartet mit ihr. 
Setzt sich mit an einen Küchentisch, 
zwischen zwei, die reden wollen, reden müssen, aber nicht können, 
und vertreibt die sprachlosen Geister. 
Und ich stelle mir vor, wie er sich langsam wieder auf den Weg macht 
und alles mitnimmt. 
Alles Schluchzen und Klagen und Toben 
und alle stillen Seufzer von denen, die nicht aufgeben. 
Wenn der Menschensohn kommt, 
meinst du, er wird Glauben finden auf Erden?
Ja!



Die Geschichte vom Auschwitzer Prozess gegen Gott ist nacherzählt nach einem Leitartikel von Heribert Prantl in der Süddeutschen vom 24.12.2003.

Predigtsoundtrack


Himmelstöchter: Ave maris stella
Les Misérables: One day more - toller polnischer Flashmob!