Sonntag, 24. November 2013

Aufgaben im Grenzland

„Nó“, so begannen sie immer, Tante Trudes Geschichten von drüben, aus der alten Heimat Oberschläsing. „Nó, jeronje, und dann ham wir rübagemaht.“ Und dann erzählte sie, die eigentlich gar keine „richtige“ Tante war, von ihrer Ausreise aus Polen, 1956. Jahrelang mit den Behörden um die Ausreisegenehmigung gefeilscht - und dann musste es plötzlich ganz schnell gehen. Mit der ganzen Tschelotka, Groß und Klein, Sack und Pack ging es in den Westen. Ihre Geschichte endete immer an der Grenze zur DDR. Genauer gesagt: Kurz dahinter. „Nó“, sagte sie dann, „ich guck' zurück - und seh' die Mauern, den Stacheldraht, das Grenzhäuschen, die Grenzsoldaten, die vor sich hin stieren" – und Tante Trude wusste  bei diesem letzten Blick Richtung Heimat: Über die Grenze hat sie zum ersten und letzten Mal rübergemacht. Ihre Heimat, das war in diesem Moment ganz klar, würde sie nie wiedersehen.

(c) Holzapfel / pixelio.de
Liebe Gemeinde, für mich waren und sind solche Geschichten vom Gefühl her ungefähr so nah wie die aus Tausendundeiner Nacht, Geschichten aus einer dunklen, längst vergangenen  Zeit und einer fremden Welt. Wir Jüngeren kennen keine geschlossenen Grenzen mehr. Grenzen sind die Autobahnstücke mit den kleinen Zollhäuschen, deren Schranken offen sind und über die man, wie man will, hin- und her fahren oder einfach drüberfliegen kann.


Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass in einer neueren Untersuchung über Dreiviertel der Jüngeren, der Unterfünfzigjährigen, angab, mit dem „Ewigkeitssonntag“ als Feiertag nichts anfangen zu können.


Denn der Ewigkeitssonntag ist der Feiertag für Menschen an der Grenze. An jener äußersten Grenze, die jeder und jede von uns eines Tages überquert. Eine Grenze, die nur von der einen auf die andere Seite passierbar ist und die Familien zerreißt. Für viele von Ihnen, die heute hier sind, ist diese Grenze im vergangenen Jahr aus dem Nebel aufgetaucht, sie haben Menschen verloren, die über diese Grenze gegangen sind. Manche konnten sich noch verabschieden, eine gute Reise wünschen, Absprachen treffen, auf Gemeinsames zurückblicken. Andere hatten diese Möglichkeit nicht, können nur wie versteinert auf unserer Seite dieser Grenze stehen bleiben und winken, und langsam nach Hause zurückgehen und hoffen, dass es denen, die „drüben“ sind, gut geht.


Das Land um die Grenze herum ist unsicheres Gebiet, kein Ort, an dem man seine Zelte aufschlagen will. Zu weit weg das sichere Landesinnere, zu nah das Andere, das Fremde. Das Land um die Grenze herum ist Niemandsland, im doppelten Sinne: In einer Gesellschaft, die den Tod aus ihrer Mitte verdrängt, die Sterbende in Institutionen versteckt und alles dafür tut, die Begrenztheit unseres Lebens zu vergessen, machen die Meisten einen großen Bogen um dieses Land vor der Grenze. Und wer keine andere Wahl hat, wer sich plötzlich kurz vor der Grenze wiederfindet, weil ein Angehöriger die letzte Reise angetreten ist, oder weil er oder sie selbst kurz vor dem Grenzübergang steht, steht oft allein.

Weil die Menschen um sie herum aus Angst, etwas falsch zu machen, oder aus Angst vor der eigenen Sterblichkeit zurückzucken und schweigen.


Wie sollen wir mit dieser Grenze umgehen, wie können wir uns im Grenzland verhalten?

Ich möchte den heutigen Predigttext als eine Orientierung in dieser Frage lesen. Es ist ein Wort Jesu aus dem Lukasevangelium, das wie ein Peitschenknall durch die Stille dieses Tages fährt und vielleicht beim ersten Hören zusammenzucken lässt. Mal sehen, wie es Ihnen geht mit Lk 12,42-48:


Der Herr aber sprach: Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht?  Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht.  Wahrlich, ich sage euch: Er wird ihn über alle seine Güter setzen. Wenn aber jener Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr kommt noch lange nicht, und fängt an, die Knechte und Mägde zu schlagen, auch zu essen und zu trinken und sich vollzusaufen,  dann wird der Herr dieses Knechtes kommen an einem Tage, an dem er‘s nicht erwartet, und zu einer Stunde, die er nicht kennt, und wird ihn in Stücke hauen lassen und wird ihm sein Teil geben bei den Ungläubigen. Der Knecht aber, der den Willen seines Herrn kennt, hat aber nichts vorbereitet noch nach seinem Willen getan, der wird viel Schläge erleiden müssen. Wer ihn aber nicht kennt und getan hat, was Schläge verdient, wird wenig Schläge erleiden. Denn wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.


Liebe Gemeinde, diese Worte sagen nichts, womit wir uns das Grenzland schön reden können. Keine salbungsvollen Worte, die den Übergang erleichtern, die die Grenze in einem helleren Licht erscheinen lassen – aber die doch Perspektiven eröffnen für das Leben im Grenzland.


Eine Figurenkonstellation bestimmt die Szene, Herr und Verwalter. Und vielleicht bleiben wir hier erst einmal stehen. Ein Verwalter ist jemand, der unter dem Herrn steht, aber in dessen Abwesenheit an seiner Stelle entscheidet, der also stellvertretend Verantwortung übernimmt. In der Bibel taucht dieser Gedanke ganz am Anfang auf, im ersten Schöpfungsbericht, da heißt es (Gen 1,26): Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. 


Dem Menschen ist hier eine Herrschaft aufgetragen, die aber nicht absolut ist – die „Krone der Schöpfung“ kann und soll nicht nach Gutdünken haushalten, sondern bleibt seinem Herrn, dem, den er vertritt, verantwortlich. Es lohnt sich, bei einer anderen Gelegenheit nochmal darüber nachzudenken, was das bedeutet für unseren Umgang mit der Welt, in der wir leben – aber das ist heute nicht dran. Halten wir nur fest: Wir haben eine Aufgabe in dieser Welt, in diesem Leben, eine Aufgabe, bei der wir gebunden sind an das, was wir von Gottes Willen für diese Welt erfahren.


Was heißt das für die einsamen Landstriche vor der Grenze unseres Lebens?


Jesus spricht von vier Verwaltern, einem, der seinen Auftrag vorbildlich ausführt und dreien, die in ihrer Pflicht versagen. Bleiben wir beim ersten, es geht ja um Perspektiven.


Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr über seine Leute setzt, damit er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht?

Selig ist der Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, das tun sieht.


Der kluge Verwalter, die treue Haushälterin erweisen sich zunächst daran, dass sie den Menschen, die ihnen anvertraut sind, zur rechten Zeit das geben, was ihnen zusteht. Im griechischen Text heißt es konkreter: zur rechten Zeit die ihnen zugeteilte Ration an Getreide geben, mit Matthäus gesagt, bei dem das Gleichnis auch steht: … zur rechten Zeit zu essen geben.


Tante Trudes Geschichte ging weiter, und ihre Stimme bekam immer etwas Warmes, wenn sie von den schönen Erinnerungen erzählte, die sie trotz aller Beschwerlichkeit an diese Reise hatte: Dann erzählte sie vom Roten Kreuz, das hinter der Grenze auf die Aussiedler wartete. Bei einer Pause auf der langen und beschwerlichen Fahrt konnten sie aus dem überfüllten Zug aussteigen und sich die Beine vertreten. Es Kaffee für die Erwachsenen, Trockenmilch für die Kinder und Butterbrote und Decken für alle. Und Tante Trudes Augen glitzerten, wenn sie von der Puppe erzählte, die eine Mitarbeiterin ihr heimlich zusteckte und die sie über Jahre hütete wie einen Schatz.


Vielleicht können wir hier, wie so oft, etwas vom Judentum lernen, wo es ein Netz von Traditionen und Gebräuchen gibt, die die Trauernden schützend umgeben: Dort beginnt mit dem Todesfall in einer Familie die siebentägige Schiwa, in der die Trauernden das Haus nicht verlassen, sondern im Wohnzimmer beisammen sitzen, oft auf niedrigen Stühlen oder Matratzen, die symbolisieren, dass sie buchstäblich am Boden zerstört sind. Es gilt als eine mitzwah, eine gute Tat, Trauernde in dieser Woche nicht allein zu lassen, sondern sie zu besuchen, mit ihnen gemeinsam der Verstorbenen zu gedenken oder einfach zu schweigen – und ihnen Essen mitzubringen, damit sie nicht selbst kochen müssen. Manche Gemeinden haben sogar entsprechende ehrenamtliche Dienste. Die Trauernden werden so aus ihrer sozialen Isolation befreit und rundherum versorgt.
Beim Verlassen des Trauerhauses wünscht man den Angehörigen: Hamakom y‘nachem etchem b‘toch sh‘ar aveylei tziyon viyrusholayim – Möge Gott dich trösten unter den Trauernden Zions und Jerusalems.

Ich glaube, dieses letzte Wort ist wichtig, weil auch die Besucher, Tröster und Helfer sich nicht übernehmen sollen und gut daran tun, zu erinnern, wer der eigentliche Tröster war, ist und sein wird.


Liebe Gemeinde, ein treues Verwalten der Schätze und der Hoffnung, die uns anvertraut ist, stelle ich mir im öden und trostlosen Grenzland von Tod und Trauer so ähnlich vor:

Dort zu sein und auszuharren, wo sonst kaum jemand hingeht und den Menschen, die dorthin gespült werden, zur rechten Zeit das zu geben, was sie brauchen – und was ihnen zusteht: Das kann die Unterstützung bei Alltäglichkeiten sein, die plötzlich unendlich schwer sind. Das kann eine Umarmung sein, oder einfach das schweigende Zuhören und das dringend notwendige Signal: Du bist nicht allein. Das kann auch, zur rechten Zeit und wenn wir gefragt werden, die leise Erinnerung daran sein, dass wir eine Hoffnung haben, die über dieses Leben hinausgeht, und dass der Grund dieser Hoffnung derjenige ist, der über der letzten Grenze wacht, der über uns allen steht und dereinst zurückkommt.


Apropos Hoffnung – noch einmal Tante Trude: 
(c) Marc Tollas / pixelio.de
Tante Trudes Ahnung hat sich nicht bewahrheitet. Angesichts der festungsartig gerüsteten, mit Stacheldraht, Warnschildern und grimmigen Soldaten besetzten Grenze, die so endgültig und undurchdringlich und unbarmherzig aussah, hat sie gedacht: Hier komme ich nie wieder rüber, ich werde meine Heimat nie wieder sehen. 2006 ist sie mit ihrer Tochter nach Polen gefahren, durch die nun offenen Grenzen, und hat die Orte ihrer Kindheit besucht. „Nó“, sagte sie bei ihrer Rückkehr, „hätt ich nich gedacht.“ Und komisch sei es gewesen, weil alles so anders war als in ihrer Erinnerung, sie hätte die Städte fast nicht erkannt – „aber die Schneekoppe, die war immer noch da und ganz weiß. Da wusste ich: Hier bin ich richtig.“ 50 Jahre sind immerhin vergangen, ein ganzes politisches System musste in der Zwischenzeit untergehen, ein Land sich neu erfinden, ein eiserner Vorhang fallen, bevor die Grenze gegen alle Hoffnung und alle Vermutungen offen war.


Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;  und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Amen.

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