Dienstag, 26. November 2013

Seilspringen am Grab


segovax / pixelio.de
Auf dem Gebiet unserer Gemeinde liegt ein etwas über hundert Jahre alter, mit 20.000 Quadratmetern Fläche äußerst kleiner, fast winziger Friedhof. Ende des 19. Jahrhunderts eingerichtet, ist der Stadtteil um ihn herum gewachsen, und so ist er fast ganz von Gärten und Gebäuden umrahmt. Er verfügt deswegen auch über keine durchgehende Friedhofsmauer, sondern an manchen Stellen nur über einen Maschendrahtzaun, der ihn unter anderem vom Pausenhof der ebenfalls in direkter Nachbarschaft gelegenen Grundschule trennt. 

Dass diese Besonderheit, die sich höchstwahrscheinlich eher einer städtebaulichen Verlegenheit als einer gezielten Überlegung verdankt, durchaus ihren Reiz hat, ist mir neulich bei einer Beerdigung klar geworden: 

Wir stehen an einem Grab in unmittelbarer Nähe zu ebendiesem Zaunstück, und zwar vormittags, genau zur großen Pause. Die Trauergemeinde ist ziemlich groß, deswegen ist lautes Sprechen am Grab angesagt - trotzdem geht das dramatisch gedonnerte "Erde zu Erde..." fast im Pausentrubel unter: Durch die Drahtmaschen hindurch, über den kleinen Kiesweg und einige Grabsteine hinweg windet sich, hopst und hüpft das Lachen und Schreien der Kinder, umtanzt die trauergekleideten Erwachsenen, zupft hier und da an einem Mantel oder spielt mit einem schwarzen Schal und plumpst erst weit hinter uns in das weiche Gras der Urnenfelder.

Anfangs stört mich das Gejohle, Kinderfreundlichkeit hin oder her, zugegebener Maßen enorm. Aber während die Trauergesellschaft langsam am Grab vorbeizieht, stehe ich am Rand und kann die Kinder beobachten, die ganz ungestört von dem Abschied nebenan auf ihrer Seite des Zauns seilspringen. Ab und zu blickt eins zu uns herüber, ohne sich ernsthaft stören zu lassen, ab und zu guckt einer der Trauernden den spielenden Kindern zu. Und ich stelle mir vor, wie sich beider Blicke für einen Moment treffen, wie sich ein stummes, flüchtiges, aber beide Seiten bewegendes Gespräch zwischen ihnen entspinnt, und mir gefällt das Ensemble von Friedhof und Grundschule mit kaum mehr als einem symbolischen Zaun dazwischen mehr und mehr:

Die Trauernden, die gerade die äußerste, hintere Grenze des menschlichen Daseins entlangwandern, werden daran erinnert, dass nur wenige Schritte weiter das pralle Leben tobt, dass die Welt entgegen dem, was manche fühlen mag, nicht stehen geblieben ist. Und die Kinder lernen auf eine ungezwungene Art und aus der Nähe, dass der Tod, so angemessen der Protest gegen ihn aus theo- und christologischer Sicht auch ist, zum Leben dazugehört, oder besser: Ins Leben gehört. In den Alltag, in die Mitte der Gesellschaft. Dorthin, wo wir ihn eigentlich nicht haben wollen, weil er zu sehr daran erinnert, dass wir alle auf relativ dünnem Boden stehen. 

Angehörige sind vor Beerdigungen oft unsicher, ob sie ihre Kinder mitnehmen sollen oder nicht. Ich bin in der Regel dafür, wenn sich, gerade bei jüngeren Kindern, sicherstellen lässt, dass eine von dem Todesfall nicht ganz so betroffene Bezugsperson für sie da sein und auf ihre Fragen antworten kann. Aber die Frage erübrigt sich im Grunde, wenn die Kinder ihre erste Beerdigung schon während irgendeiner großen Pause auf ihrer Seite des Zauns, aus einer sicheren und an der Stelle guten Entfernung miterleben konnten.

"Media vitae in morte sumus", wusste man im Mittelalter zu singen - "inmitten des Lebens sind wir vom Tod umfangen". Auf dem kleinen Friedhof bei uns in der Gemeinde ist es fast anders herum, in Abwandlung eines Gedichts von Rainer Maria Rilke gesagt: Das Leben ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir in den Fängen des Todes uns fühlen, / wagt es zu spielen, / hier neben uns. 

(c) Astrid Kirchhoff / pixelio.de

1 Kommentar:

  1. das ist sehr schön geschrieben und echt wahr - ging mir da auch schön öfter so :-)
    Danke! Klaus

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