Sonntag, 20. November 2016

Vorblättern. Offb 21,1-7 (Ewigkeitssonntag)





Wenn mir ein Krimi zu spannend wird, tue ich manchmal etwas, das eigentlich verboten gehört, es wahrscheinlich auch ist. Wenn mir die Spannung einfach zu viel wird, wenn schon wieder ein loser Faden in der Luft hängen bleibt und ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass es irgendwie gut ausgehen könnte – dann blättere ich vor, auf die letzten Seiten. Lese nach, wessen Name auf dem Grabstein steht, wer am Ende übrig bleibt. Atme tief durch – und blättere wieder zurück irgendwo in die Buchmitte. Die Spannung bleibt – aber sie wird besser zu ertragen.

Am Ewigkeitssonntag, dem letzten Sonntag im Kirchenjahr, wenn die Bäume entlaubt und die Zeichen auf Abschied stehen, blättern wir in der Bibel vor, auf die allerletzten Seiten. Wir folgen dem Blick des Sehers auf Patmos, lesen die Zeilen, die er an sieben Gemeinden seiner Zeit schreibt. Die Spannung ist unerträglich, von innen her droht Streit und Spaltung, von außen droht die eiserne Hand des Kaisers, die Lage erscheint aussichtslos. Wir lesen sein Schreiben als einen Brief an uns, die wir heute hier sind und an all die Gräber denken, an denen wir im vergangenen Jahr gestanden haben. An das Gefühl von Endgültigkeit, das nach uns griff, als die erste Schaufel Erde auf den Sarg oder die Urne fiel. Wir lesen auf den letzten Seiten, und erkennen Gottes Stimme.


Siehe, ich mache alles neu.


Aber es ist doch alles neu. Es ist doch schon alles anders als früher.
Das Pflegebett schon abgeholt.
Du kommst nach Hause und die Wohnung ist dunkel,
wo früher jemand aus der Küche rief: „Bist du schon zuhause?“,
ist Schweigen.
Du steigst nach der Arbeit ins Auto,
willst reflexartig immer noch links abbiegen,
noch mal schnell im Krankenhaus vorbeischauen.
Setzt schon den Blinker - und denkst dann: „Ach so, nein…“
Hast die Nummer noch nicht aus dem Handy gelöscht,
noch nicht alle Kleider aus dem Schrank geräumt,
und weißt doch: Sie werden nicht mehr gebraucht.
Verteilst Trauerkarten und Danksagungen
wie Visitenkarte, die sagen: Ich bin jetzt ein anderer.
In dem neuen Leben, in der neuen Welt
macht niemand mehr viel zu viele Pfannkuchen,
träumt keiner mehr vom Bodensee,
bleibt das Kreuzworträtsel ungelöst
das Gras ungemäht,
gibt es kein Taschengeld mehr am Donnerstag,
fährt der Enkel jetzt selbst zur Musikschule,
faltet und reißt niemand mehr das Papier,
geht draußen das Leben einfach so seinen Gang,
und doch ist alles anders.
Es ist doch schon alles neu, alles anders als vorher.


Aber es ist nicht alles gut. So sehr wir uns auch trösten mit den Erinnerungen an viele und erfüllte Lebensjahre, so sicher wir uns sind: Sie hat es jetzt besser. Am Ewigkeitssonntag ist Raum für Trauer und Klage, und mittendrin: Raum für Hoffnung, die alles übersteigt, was wir sehen und fühlen. Am Ende wird alles gut, und wenn nicht alles gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. 


Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.


Das Meer ist nicht mehr. Viele von denen, die wir im letzten Jahr zu Grabe getragen haben, haben das Meer geliebt, sind gern und viel gereist, haben am Strand von Sylt gestanden und die salzige Weite geschmeckt oder hier in Wuppertal von der windgeschüttelten Heimat Ostfriesland geträumt. Das Meer ist nicht mehr. Für den Seher auf Patmos ist das Meer kein Sehnsuchtsort, sondern eine unüberwindbare Barriere, die ihn von seiner Heimat trennt, unheimlich, wie auch für die abertausend Geflüchteten, die Jahr für Jahr an der afrikanischen Küste stehen. Das Meer. Unendlich weit und tief wie die Trauer, vor der manche von Ihnen in diesem Jahr gestanden haben, in der mancher glaubte zu versinken. Unberechenbar, wenn plötzlich aus heiterem Himmel ein Sturm die Wogen haushoch peitscht, so wie bei manchen von Ihnen nach Monaten, vielleicht sogar Jahren die alten Wunden plötzlich aufbrechen. Unergründlich, wie die Geheimnisse, die manche mit ins Grab genommen haben, die Rätsel, mit denen die Überlebenden zurückbleiben. Das Meer wird nicht mehr sein, die See aus Tränen getrocknet, der Ozean aus Zeit überwunden, die Wogen geglättet, das Verborgene sichtbar.




Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.


Als Johannes diese Zeilen schreibt, ist von dem einstmals so prächtigen Jerusalem nicht viel übrig. Der Tempel zerstört, die Straßen verwaist, die geistliche Heimat von Juden und Christen kaum mehr wiederzuerkennen. „Sie war kaum mehr wiederzuerkennen“, haben manche von Ihnen gesagt, wenn das Ende sich quälend lang ausgedehnt hat. „Als sie zum ersten Mal ungeschminkt aus dem Haus ging, da wusste ich, dass etwas nicht stimmt.“ Das neue Jerusalem wird anders sein. Neu aufgebaut, nicht in alter Pracht, sondern in neuer Schönheit. Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und es wird auferstehen ein geistlicher Leib. Wir werden anders sein. Neu geschaffen, auferstanden und verwandelt. Ob unsere grauen Haare die Farbe wieder gewinnen, ob unsere Falten geglättet und unsere Narben verschwunden sein werden – ich weiß es nicht. Vielleicht werden sie uns auch einfach nicht mehr stören. 




Das neue Jerusalem kommt von oben, wie alles Gute. „Irgendwie tröstlich“, sagte jemand bei einer Beerdigung, als es am Grab zu regnen begann, wie es das in Wuppertal oft tut. „Irgendwie tröstlich – so sind wir aufgewachsen…“ Das neue Jerusalem kommt. Wie alles Gute können wir es weder herbeiwünschen noch erzwingen. Gottes neue Welt kommt auf uns zu, und manchmal blitzt sie am Horizont auf.


Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.


Vielleicht haben Sie im letzten Jahr schon erlebt, wie es sein wird. Durch jemanden, der ihnen wortlos ein Taschentuch gereicht, die Tränen getrocknet, Sie im richtigen Moment in den Arm genommen hat. Bei Ihnen im Dunkeln gesessen hat, für Sie dagewesen ist und Tod, Leid und Schmerz für den Moment zurückgedrängt hat. Vielleicht sind solche Momente Vorgeschmäcker auf die Stadt, die kommt, vielleicht, oder sehr wahrscheinlich, sitzt in diesen Momenten jemand mit am Tisch, den wir nicht sehen und an den wir trotzdem glauben und mit dem wir rechnen müssen. Der Himmel, der kommt, grüßt schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben verwandelt.

Am Ewigkeitssonntag, dem letzten Sonntag im Kirchenjahr, wenn die Bäume entlaubt und die Zeichen auf Abschied stehen, blättern wir in der Bibel vor, auf die allerletzten Seiten. Lesen dort: Es wird alles gut, und wenn nicht alles gut ist, dann ist es eben noch nicht das Ende. Stellen fest: All die Erfahrungen des letzten Jahres sind keine Schlusskapitel. Nach einigen leeren Seiten wird die Geschichte weitergeschrieben: Die Lebensgeschichten unserer Verstorbenen, unsere eigenen, und die der ganzen Welt. Wir blättern zurück und wissen um das Ende. Da wird alles gut. Das nimmt die Spannung nicht völlig weg, das wischt nicht alle Trauer weg. Aber beides wird erträglicher.


Amen.

Samstag, 19. November 2016

EDEKA und kirchliche Öffentlichkeitsarbeit

Sie haben es schon wieder getan: Nachdem EDEKA letztes Jahr die Deutschen zumindest für die Dauer von zwei-drei Minuten in dem vieldiskutierten Werbespot an ihre alten Eltern erinnert hat, wurde in diesem Jahr nachgelegt mit einem weiteren Clip, bei dem es auch wieder um Familie geht. 




In meiner höchsteigenen theologenschweren Filterbubble läuft der Clip rauf und runter, oft verbunden mit entweder ernsten Anfragen an die im Film gezeigten Genderstereotypen, oft jedoch auch mit der Frage: Warum kriegen wir so etwas nicht hin? Ich kann mir da so einiges vorstellen. Es folgen ein paar besserwisserische Kommentare zur kirchlichen Öffentlichkeitsarbeit. 
 

GESETZ UND EVANGELIUM, BINDEN UND LÖSEN, WIE IMMER MAN ES NENNEN WILL.



EDEKA legt, wenn auch in weichgezeichneten Bildern, den Finger in eine Wunde: Wie Ihr mit euren Kindern umgeht, ist scheiße. Das ist sicherlich überzeichnet, ich merke aber auch: Irgendwo trifft es mich doch. In kirchlichen Clips wird so etwas vermieden, weil man niemandem auf den Schlips treten will. Zum Teil aus sicherlich bedenkenswerten seelsorglichen Erwägungen (will man den überforderten Eltern noch einen reinwürgen?), zum Teil aber auch aus zeitgebundenen Erfahrungen und theologischen Unklarheiten: Wogegen wir sind, das haben wir verlernt zu sagen. Aus gutem Grund, weil der Übergang von der sich bis in die Nachkriegsjahre hinein allein durch Abgrenzung definierenden Kirche auch eine Befreiung war. Und gleichzeitig auch nicht, weil auf diesem Weg an vielen Stellen die Klarheit verloren gegangen ist. 

DIE ZIELGRUPPENFRAGE.


Werbung richtet sich an Zielgruppen. Hemmungs- und alternativlos. Wirtschaftsunternehmen geben mehr für Kundenkreisanalysen aus als wir. Und allen Milieueinsichten zum Trotz wird kirchliche Öffentlichkeitsarbeit zwar auch aus einer bestimmten Milieuwarte heraus betrieben, leugnet diese Bindung aber und gibt vor, allen alles sein zu wollen. Da kann wenig mehr rauskommen als dümmliches Dödelö und krampfige Gefühligkeit, die man einerseits fürchtet, andererseits für den kleinsten gemeinsamen Nenner allen Volkes hält. "Herzergreifend" zu predigen würde, unterstelle ich mal, automatisch unter den Generalverdacht der emotionalen Manipulation gestellt, so wie man dem Kollegen X oder der Gemeinde Y, die Sonntag für Sonntag überdurchschnittliche Gottesdienstzahlen vorweisen können, gern reflexartig Oberflächlichkeit und theologische Massenwaren unterstellt.

VOM MUT, NICHT ÜBER SICH SELBST ZU REDEN.


EDEKA traut sich, zumindest vordergründig, nicht für sich selbst Werbung zu machen. Die Kirche traut sich das nicht. Die letzten Video- und sonstigen Kampagnen, an die ich mich erinnern kann, waren weitestgehend Imagefilme für die Vereinskirche. Die werden mit großem Getöse vorgestellt, oft unter Rekurs auf das mediale Ereignis, das die Reformation auch war, mit Flugschriftenschwemme und dergleichen. Der Unterschied war aber, dass die besagten Flugschriften für das geworben haben, was man als theologisch richtig und heilsam erkannt hat, und so dazu beigetragen haben, reformatorische Gedanken zu popularisieren. Abgesehen von einer zu einem "der liebe Gott findet alles irgendwie gut" reduzierten Rechtfertigungstheologie höre ich wenig Glaubensaussagen, und sehe noch weniger Kreativität bei dem Versuch, solche neu zu formulieren.

STORYTELLING... NOT.



Gute Werbung ist gutes Storytelling. Theologie war das auch mal, aber die Verniedlichung des Glaubens zur Weltanschauung und die behördenkirchliche Identität haben das irgendwie untergehen lassen (historisch fing das bestimmt auch schon mit den Apologeten und den apostolischen Vätern an). Das sieht man, wenn man auf Gemeindehomepages rumsurft - wenn es da Bilder gibt, zeigen die in aller Regel Gebäude oder aber Amtsträger_innen in voller Montur, die irgendetwas tun, was sich dem Uneingeweihten nicht erschließt. Sehr viel Statisches, sehr viel Unintuitives, und wenn es mal darum geht, "was wir glauben", werden in der Regel Gemeindekonzeptionen von sprachlich und theologisch zweifelhafter Qualität vorgestellt.


Als Kirchengeschichtler bin ich immer etwas zögerlich, wenn aktuelle Entwicklungen so einfach auf Jahrhunderte oder Jahrtausende zurückliegende kirchengeschichtliche Ereignisse zurückgeführt werden. Trotzdem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass kirchliche Medienpräsenz etwas von einer nachbilderstürmerischen Landschaft aus Bleiwüsten hat (und dieser Blog ist sicherlich keine Ausnahme). Bislang, correct me if I'm wrong, gibt es noch keinen kircheneigenen Bildpool, der eine nennenswerte Zahl an Fotos in nennenswerter Qualität bereit hielte. So bleibt der Rückgriff auf externe Stockfotos oder, in den meisten Fällen, die lähmende Angst vor missbrauchten Bildrechten, weswegen man es dann doch gleich sein lässt.

SPARZWANG UND MEDIENINKONTINENZKOMPETENZ



Auf meinem Smartphone habe ich eine App der Church of England, Reflections for Daily Prayer. Eine der ganz wenigen Apps, die ich mir etwas kosten lasse. Jeden Tag: Ein Bibeltext, ein paar kluge Gedanken dazu, ein Gebet. Bestimmt wenig interessant für Kirchenferne, aber nahrhaft für mich. Auf Deutsch habe ich so etwas bislang nicht gefunden. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass wir in der Kirche immer noch davon ausgehen, dass irgendwie medienaffine Menschen zwangsweise kirchenfern und theologisch ungebildet sein müssen, denen man nur kleine, leichtverdauliche Häppchen präsentieren kann. Angemessene, Inhalt und Adressaten gleichermaßen wertschätzende Elementarisierung gehört zu den schwierigsten Aufgaben von Theologinnen und Theologen - im weiten Feld der Kindertheologie weiß man das mittlerweile, in der "Ökumene der dritten Art", dem Kontakt zu "Kirchenfernen" oder "religiös Unmusikalischen" wohl noch nicht so.

Von den Württembergern gibt es immerhin eine AndachtsApp. Auf die aufmerksam geworden bin ich durch einen Werbespot, den ich vom Ergebnis her irgendwie komisch fand, vor dem ich aber trotzdem großen Respekt hatte und habe, weil er sich so ganz jenseits von dem bewegt, was kirchliche Videos sonst so ausmacht. Ich habe sie mir runtergeladen - und recht schnell wieder gelöscht, denn die (gut verschlagworteten) Andachten sind, soweit ich sehen kann, weitestgehend recycelte Videos, die es schon anderswo gab und die mich auch dort nicht so recht überzeugen. Auch hier ist mir die Zielgruppe nicht klar, auch hier zeigt sich die Unentschlossenheit, mit der man mit Medien umgeht: Man wagt den Griff zum Clip, möchte aber kein Geld in die Hand nehmen, um die Vorteile des Mediums zu nutzen. Die Clips sind weitestgehend statisch, zeigen Menschen mittleren und höheren Alters, die vor einem mehr oder weniger augenfreundlichen Hintergrund in die Kamera sermonieren - ein bisschen wie die Regionalvariante des Wort zum Sonntags.

VON DER ANGST VOR DER DEUTUNGSHOHEIT


Man wird Wetten abschließen können, in wie vielen Weihnachtspredigten im Jahr 2016 die nachlässigen EDEKA-Eltern und ihre traurigen Kinder den Lebensnähe vorgebenden "Aufhänger" darstellen. So wie der totgesagte EDEKA-Opa letztes Jahr. Und so, wie es vor ein paar Jahren tadelnd von den Kanzeln tönte, Weihnachten würde mitnichten unterm Baum, sondern (je nach theologischer Couleur) an der Krippe oder unterm Kreuz entschieden.

Ich finde sehr, dass wir von den guten Geschichtenerzählern der Werbung lernen können. Ich glaube aber nicht, dass das darin besteht, ihre Filmchen kommentierend nachzuerzählen.

Ich finde aber auch, dass wir sehr vorschnell das Kompetenzgefälle festlegen - wir mögen bitte von Werbung und PR lernen. Dass das sehr wohl auch anders ginge, zeigen die religiösen Motive, deren sich Werbung auch immer bedient und bedient hat. Manchmal mit großem Erfolg - auch oder weil wir die Deutungshoheit von uns schieben und religiöse Motive und biblische Bilder in unserer Öffentlichkeitsarbeit meiden wie der Teufel das Weihwasser. Wo Filmemacher und Werbetreibende epische Dramen erzählen und inszenieren, verticken wir halt Luther-Kuchenschablonen und lassen mehr oder weniger bekannte Prominente streckenweise Belangloses zur neuen Lutherübersetzung sagen
 
Und nachdem ich jetzt lang genug über mangelnde Medienkompetenz genörgelt habe, gehe ich ins stille Kämmerlein und gräme mich, dass ich es nicht einmal schaffe, bei Blogger die Texte einigermaßen vernünftig zu formatieren.