Wenn mir ein Krimi zu spannend wird, tue ich manchmal
etwas, das eigentlich verboten gehört, es wahrscheinlich auch ist. Wenn mir die
Spannung einfach zu viel wird, wenn schon wieder ein loser Faden in der Luft
hängen bleibt und ich mir nicht mehr vorstellen kann, dass es irgendwie gut
ausgehen könnte – dann blättere ich vor, auf die letzten Seiten. Lese nach,
wessen Name auf dem Grabstein steht, wer am Ende übrig bleibt. Atme tief durch
– und blättere wieder zurück irgendwo in die Buchmitte. Die Spannung bleibt – aber sie wird besser zu ertragen.
Am Ewigkeitssonntag, dem letzten Sonntag im
Kirchenjahr, wenn die Bäume entlaubt und die Zeichen auf Abschied stehen,
blättern wir in der Bibel vor, auf die allerletzten Seiten. Wir folgen dem
Blick des Sehers auf Patmos, lesen die Zeilen, die er an sieben Gemeinden
seiner Zeit schreibt. Die Spannung ist unerträglich, von innen her droht Streit
und Spaltung, von außen droht die eiserne Hand des Kaisers, die Lage erscheint
aussichtslos. Wir lesen sein Schreiben als einen Brief an uns, die wir heute
hier sind und an all die Gräber denken, an denen wir im vergangenen Jahr
gestanden haben. An das Gefühl von Endgültigkeit, das nach uns griff, als die
erste Schaufel Erde auf den Sarg oder die Urne fiel. Wir lesen auf den letzten
Seiten, und erkennen Gottes Stimme.
Siehe,
ich mache alles neu.
Aber es ist doch alles neu. Es ist doch schon alles
anders als früher.
Das Pflegebett schon abgeholt.
Du kommst nach Hause und die Wohnung ist dunkel,
wo früher jemand aus der Küche rief: „Bist du schon zuhause?“,
ist Schweigen.
Du steigst nach der Arbeit ins Auto,
willst reflexartig immer noch links abbiegen,
noch mal schnell im Krankenhaus vorbeischauen.
Setzt schon den Blinker - und denkst dann: „Ach so, nein…“
Hast die Nummer noch nicht aus dem Handy gelöscht,
noch nicht alle Kleider aus dem Schrank geräumt,
und weißt doch: Sie werden nicht mehr gebraucht.
Verteilst Trauerkarten und Danksagungen
wie Visitenkarte, die sagen: Ich bin jetzt ein anderer.
In dem neuen Leben, in der neuen Welt
macht niemand mehr viel zu viele Pfannkuchen,
träumt keiner mehr vom Bodensee,
bleibt das Kreuzworträtsel ungelöst
das Gras ungemäht,
gibt es kein Taschengeld mehr am Donnerstag,
fährt der Enkel jetzt selbst zur Musikschule,
faltet und reißt niemand mehr das Papier,
geht draußen das Leben einfach so seinen Gang,
und doch ist alles anders.
Es ist doch schon alles neu, alles anders als vorher.
Das Pflegebett schon abgeholt.
Du kommst nach Hause und die Wohnung ist dunkel,
wo früher jemand aus der Küche rief: „Bist du schon zuhause?“,
ist Schweigen.
Du steigst nach der Arbeit ins Auto,
willst reflexartig immer noch links abbiegen,
noch mal schnell im Krankenhaus vorbeischauen.
Setzt schon den Blinker - und denkst dann: „Ach so, nein…“
Hast die Nummer noch nicht aus dem Handy gelöscht,
noch nicht alle Kleider aus dem Schrank geräumt,
und weißt doch: Sie werden nicht mehr gebraucht.
Verteilst Trauerkarten und Danksagungen
wie Visitenkarte, die sagen: Ich bin jetzt ein anderer.
In dem neuen Leben, in der neuen Welt
macht niemand mehr viel zu viele Pfannkuchen,
träumt keiner mehr vom Bodensee,
bleibt das Kreuzworträtsel ungelöst
das Gras ungemäht,
gibt es kein Taschengeld mehr am Donnerstag,
fährt der Enkel jetzt selbst zur Musikschule,
faltet und reißt niemand mehr das Papier,
geht draußen das Leben einfach so seinen Gang,
und doch ist alles anders.
Es ist doch schon alles neu, alles anders als vorher.
Aber es ist nicht alles gut. So sehr wir uns auch
trösten mit den Erinnerungen an viele und erfüllte Lebensjahre, so sicher wir
uns sind: Sie hat es jetzt besser. Am Ewigkeitssonntag ist Raum für Trauer und
Klage, und mittendrin: Raum für Hoffnung, die alles übersteigt, was wir sehen
und fühlen. Am Ende wird alles gut, und wenn nicht alles gut ist, dann ist es
noch nicht das Ende.
Und ich sah einen neuen Himmel und
eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und
das Meer ist nicht mehr.
Das Meer ist nicht mehr. Viele von denen, die wir im
letzten Jahr zu Grabe getragen haben, haben das Meer geliebt, sind gern und
viel gereist, haben am Strand von Sylt gestanden und die salzige Weite
geschmeckt oder hier in Wuppertal von der windgeschüttelten Heimat Ostfriesland
geträumt. Das Meer ist nicht mehr. Für den Seher auf Patmos ist das Meer kein
Sehnsuchtsort, sondern eine unüberwindbare Barriere, die ihn von seiner Heimat
trennt, unheimlich, wie auch für die abertausend Geflüchteten, die Jahr für
Jahr an der afrikanischen Küste stehen. Das Meer. Unendlich weit und tief wie
die Trauer, vor der manche von Ihnen in diesem Jahr gestanden haben, in der
mancher glaubte zu versinken. Unberechenbar, wenn plötzlich aus heiterem Himmel
ein Sturm die Wogen haushoch peitscht, so wie bei manchen von Ihnen nach
Monaten, vielleicht sogar Jahren die alten Wunden plötzlich aufbrechen.
Unergründlich, wie die Geheimnisse, die manche mit ins Grab genommen haben, die
Rätsel, mit denen die Überlebenden zurückbleiben. Das Meer wird nicht mehr
sein, die See aus Tränen getrocknet, der Ozean aus Zeit überwunden, die Wogen
geglättet, das Verborgene sichtbar.
Und
ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel
herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann.
Als Johannes diese Zeilen schreibt, ist von dem
einstmals so prächtigen Jerusalem nicht viel übrig. Der Tempel zerstört, die
Straßen verwaist, die geistliche Heimat von Juden und Christen kaum mehr
wiederzuerkennen. „Sie war kaum mehr wiederzuerkennen“, haben manche von Ihnen gesagt,
wenn das Ende sich quälend lang ausgedehnt hat. „Als sie zum ersten Mal
ungeschminkt aus dem Haus ging, da wusste ich, dass etwas nicht stimmt.“ Das
neue Jerusalem wird anders sein. Neu aufgebaut, nicht in alter Pracht, sondern
in neuer Schönheit. Es wird gesät
verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und
wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Armseligkeit und wird
auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und es wird
auferstehen ein geistlicher Leib. Wir werden anders sein. Neu geschaffen,
auferstanden und verwandelt. Ob unsere grauen Haare die Farbe wieder gewinnen,
ob unsere Falten geglättet und unsere Narben verschwunden sein werden – ich
weiß es nicht. Vielleicht werden sie uns auch einfach nicht mehr stören.
Das neue Jerusalem kommt von oben, wie alles Gute.
„Irgendwie tröstlich“, sagte jemand bei einer Beerdigung, als es am Grab zu
regnen begann, wie es das in Wuppertal oft tut. „Irgendwie tröstlich – so sind
wir aufgewachsen…“ Das neue Jerusalem kommt. Wie alles Gute können wir es weder
herbeiwünschen noch erzwingen. Gottes neue Welt kommt auf uns zu, und manchmal
blitzt sie am Horizont auf.
Und
ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte
Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine
Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein und Gott wird
abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch
Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.
Vielleicht haben Sie im letzten Jahr schon erlebt, wie
es sein wird. Durch jemanden, der ihnen wortlos ein Taschentuch gereicht, die
Tränen getrocknet, Sie im richtigen Moment in den Arm genommen hat. Bei Ihnen
im Dunkeln gesessen hat, für Sie dagewesen ist und Tod, Leid und Schmerz für
den Moment zurückgedrängt hat. Vielleicht sind solche Momente Vorgeschmäcker
auf die Stadt, die kommt, vielleicht, oder sehr wahrscheinlich, sitzt in diesen
Momenten jemand mit am Tisch, den wir nicht sehen und an den wir trotzdem
glauben und mit dem wir rechnen müssen. Der Himmel, der kommt, grüßt schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben verwandelt.
Am Ewigkeitssonntag, dem letzten Sonntag im
Kirchenjahr, wenn die Bäume entlaubt und die Zeichen auf Abschied stehen,
blättern wir in der Bibel vor, auf die allerletzten Seiten. Lesen dort: Es wird
alles gut, und wenn nicht alles gut ist, dann ist es eben noch nicht das Ende.
Stellen fest: All die Erfahrungen des letzten Jahres sind keine Schlusskapitel.
Nach einigen leeren Seiten wird die Geschichte weitergeschrieben: Die
Lebensgeschichten unserer Verstorbenen, unsere eigenen, und die der ganzen
Welt. Wir blättern zurück und wissen um das Ende. Da wird alles gut. Das nimmt
die Spannung nicht völlig weg, das wischt nicht alle Trauer weg. Aber beides
wird erträglicher.
Amen.
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