Dienstag, 29. Dezember 2015

Heilige Familie - Christnacht queer 2015



Am Ende des Jahres steht sie im Wohnzimmer,
aus Keramik oder Holz,
inmitten süddeutsch anmutender Stallromantik,
wir holen sie raus,
stauben sie ab,
stellen sie hin,
singen sie an:
Die Heilige Familie.
Eine Frau, ein Mann,
und ein Kind,
holder Knab‘ mit lockigem Haar
und Heiligenschein.

Landauf, landab wird sie beschworen,
bei den selbsternannten Rettern
des Abendlands,
sie zeigen sie vor,
halten sie hoch,
beten sie an:
Die Heilige Familie.
Eine Frau, ein Mann,
und 1,38 Kinder, durchschnittlich,
holder Knab‘ mit lockigem Haar oder
liebreizendes Mädel mit strengem Zopf
und glänzenden Zukunftsaussichten.

Am Ende des Jahres sitzt sie im Wohnzimmer,
aus Fleisch und Blut,
inmitten einer Wolke aus Old Spice und Kölnisch Wasser.
Wir laden sie ein,
füttern sie durch,
halten sie aus,
zweifeln sie an:
Die Heilige Familie.
Eine Frau, ein Mann,
Kinder und Enkelkinder,
Schwippschwägerinnen und Cousins
und Oma und Onkel Karl,
und deine alte Großtante
- Moment, ich dachte: Deine alte Großtante?!
Faltiges Haupt mit silbernem Haar,
und das Christkind kommt erst in die Krippe,
wenn wir in der Kirche waren,
und Oma legt es selbst rein.
Dann wird gegessen,
dann sehen wir uns die Weihnachssendung im dritten Programm an,
dann gibt es Bescherung,
und dann wird es gemütlich.



Wir schenken uns ja nichts.
Wir schenken uns wirklich nichts.
„Also, wir machen den Rotkohl ja immer selbst. Aber jedem das Seine.“
„Sag mal, Junge, warum hast Du denn immer noch keine Freundin?“
„Früher war mehr Lametta.“
„Sag mal, ist deine Vorstrafe eigentlich verjährt oder wie das heißt?“
„Hast Du eigentlich zugenommen?“
Wir schenken uns nichts.
Und im Schein der Heiligen Nacht scheint mancher Heiligenschein
doch sehr scheinheilig zu sein.
Und es riecht nicht nach Zimt, sondern nach verbrannter Erde.
Und mittendrin steht die Krippe aus dem Erzgebirge,
und die hat beim letzten Umzug gelitten:
Josef hat nur einen Arm,
die Heiligen drei Könige haben ihre Geschenke verloren,
und die Futterkrippe ist weg,
und das, wo Oma doch gleich das Jesuskind reinlegen wollte.

Aber die Krippe stimmt eh nicht.
Sie ist zu schön.
Christ ist geboren,
aber nicht in weißgetünchtem Stall in Oberbayern,
sondern in einer Höhle zu Bethlehem,
und es roch nicht nach Zimt oder Glühwein oder Gänsebraten
oder nach Old Spice und Kölnisch Wasser,
sondern nach Schafmist und Schweiß,
nach stockigen Kleidern und schnellem Aufbruch.
Freue dich, o Christenheit,
denn alle Jahre wieder kommt das Christuskind,
auf die Erde nieder,
wo wir Menschen sind.
Kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus,
auch, wenn es nicht nach Zimt riecht,
sondern nach Einsamkeit und kalten Zigaretten,
nach Kummer und Kümmerling,
und vor der Tür stehen nicht die Weisen aus dem Morgenland,
sondern die Abschiebeamten aus dem Abendland.
Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.

Und die Krippe stimmt eh nicht.
Sie ist zu klein,
obwohl sie größer sein kann,
sein müsste:
Eine Frau, ein Mann,
holder Knab mit lockigem Haar,
ein paar Hirten, drei Könige,
aber es fehlen ein paar,
es fehlt die ganze Welt.
Freue dich, o Christenheit,
denn das erwachsene Christkind wird sagen:
Wer sind meine Mutter und meine Geschwister?
Wer Gottes Willen tut, der ist meine Mutter, mein Bruder, meine Schwester.
Die Heilige Familie ist Wahlverwandtschaft.
Nicht ihr habt mich erwählt, wird das erwachsene Christkind sagen,
sondern ich habe euch erwählt.
Die Heilige Familie ist Patchwork:
Das Christkind ist unehelich,
seinen Vater hat nie jemand gesehen.

Und die Krippe ist kaputt.
Josef hat nur einen Arm,
die Heiligen drei Könige haben ihre Geschenke verloren.
Und das Christkind hat nichts, auf das es sich betten kann.
Und Oma steht auf, feierlich,
nimmt das Christkind,
geht zur Krippe – und stutzt.
Nimmt den Aschenbecher vom Tisch,
stellt ihn in den Stall,
legt das Christkind rein,
tritt einen Schritt zurück.
Sie nickt, und sie lächelt,
und sagt zufrieden:

„Jetzt stimmt es.“

Sonntag, 6. Dezember 2015

Hurra, die Welt geht unter - Predigt über Jak 5,7-8

Predigt zur Einführung in eine neue Pfarrstelle am 2. Advent 2015

Liebe Gemeinde, mit der Einführung eines neuen Pfarrers in der Adventszeit ist es so eine Sache. ”Seht auf und erhebt eure Häupter”, raunt es an den Tischen der Seniorenadventsfeier, ”seht auf und erhebt eure Häupter, weil - der neue Pfarrer ist da!” Er kommt, das ist ist der Kehrvers, der den ganzen Advent durchzieht, und gemeint ist (Gott sei Dank!) nicht der neue Pfarrer. 
Er kommt. Das raunen sich seit der Entstehung der ersten Gemeinden die Christinnen und Christen zu, als Ermutigung, als Anker in stürmischen Zeiten. So wie im fünften Kapitel des Jakobusbriefs: 

So seid nun geduldig, liebe Brüder und Schwestern, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen. Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe. 

Er kommt. Advent. Advent, ein Lichtlein brennt. Der Abzählreim aus Kindermund, der Adventskranz des alten Wichern, kleine Geduldsübungen, gestaltetes Warten: Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier, bis dann endlich das Christkind vor der Tür steht. Das Gute ist: Bei Weihnachten weiß man, dass es kommt, daran konnte vor einigen Jahren nicht einmal der Maya-Kalender etwas ändern, man weiß sogar genau, wann es kommt, bei mir mit ziemlicher Präzision einen Tag nachdem ich endlich geklärt habe, was für Weihnachtsgeschenke ich noch kaufen oder basteln muss. Er kommt. Aber gemeint ist nicht irgendein Geschenkelieferant, das Christkind ist längst erwachsen geworden und soll keine Playstation bringen, keinen Familien-Original-Benutzer, formschön, wetterfest, geräuschlos, hautfreundlich, pflegeleicht, völig zweckfrei. Sondern einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der kein Tod mehr sein wird und kein Leid und kein Geschrei, und das bitte möglichst bald. Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Also: Seid geduldig

 Ich bin das nicht. Wenn ich, wie so oft in diesen Tagen, von Köln nach Wuppertal fahre, trommle ich schon am Hildener Kreuz auf dem Lenkrad herum, irgendwo bei Haan-Ost zische ich durch die Zähne und spätestens am Sonnborner Kreuz singen sie im Radio „Hurra, die Welt geht unter“ und ich fluche laut vor mich hin. 

Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig. Manche hier im Uellendahl kennen das noch, als hier noch Höfe standen, bevor der Stadtteil dicht besiedelt wurde, als das Leben auf dem Döppers Hof, dem Haus Mirke, dem Wülfing- und Duckmauser Hof bestimmt war von der Abfolge von Saat und Ernte. 

Ich sähe nicht und ernte nicht, nicht im handgreiflichen Sinn, aber auch ich versuche, Geduld zu lernen und tue das mit Mehlstaub und Teigresten an Händen, Kleidern und Haaren. Ich habe bislang auf keiner Fortbildung, keinem Spiritualitäts- oder Achtsamkeitsworkshop so viel über Geduld gelernt wie beim Brotbacken. Also nicht mit Backmischung und Brotbackautomat, sondern so richtig mit Sauerteig, und das heißt vor allem: Warten, damit aus wenig viel werden kann. 



Ein Esslöffel Roggenmehl, zwei Esslöffel Wasser. 
Lauwarm. 
In ein großes Glas an einen warmen Ort gestellt. 
Und warten. 
Bis der Vorteig Blasen wirft. 
Das kann dauern. Zwei bis drei Tage. 
Alles Klopfen an das Glas bringt nichts, 
nur warm muss man es halten. 
In der Zwischenzeit geht das Leben weiter. 
Wenn der Ansatz aussieht wie helle Mousse au Chocolat, dann ist es Zeit. 
Für den nächsten Schritt. 
Das Brot ist noch mindestens einen Tag weit weg. 
Mehr Roggenmehl. Mehr Wasser. Und ein bisschen Weizen, wegen dem Kleber. 
Und: Warten. 
Ab und zu umrühren. 
Und: Warm halten. 
Am nächsten Tag mehr Mehl, Roggen und Weizen, ein bisschen Wasser. 
Und dann: Kneten. 
Bei Roggenmischbrot mindestens eine halbe Stunde, 
von Hand natürlich. 
Bis der Teig sich wieder von den Händen löst 
und die Schultern fast weh tun. 
Und dann: Warten. 
Drei-Vier Stunden. 
Und in der Zwischenzeit geht das Leben weiter. 
Und die Gärkörbe müssen vorbereitet werden. 
Dann den Teig zu Laiben formen, 
ein großes und ein kleines kommt bei mir raus. 
Rein in die Körbe, 
und wieder: Warten. 
Aber nur zwei Stunden. 
In der Zwischenzeit geht das Leben weiter, 
aber ich muss den Ofen vorheizen. 
Knallheiß, so viel es geht. 
Das dauert. 
Es gibt keine Abkürzungen, 
und leider auch keine absoluten Zeitangaben. 
Die Backzeit variiert, auf jeden Fall je nach Ofen 
und wahrscheinlich auch je nach Wetterlage und Mondphase. 
Von dem Tag aber und der genauen Stunde weiß niemand, 
auch nicht die Engel im Himmel, 
und es heißt wieder: Warten. 
Aber die Küche kann schonmal aufgeräumt 
und das Tuch für das Brot rausgeholt werden. 
Die Butter muss zimmerwarm werden. 
Von der genauen Stunde weiß niemand... 
Irgendwann ist es halt fertig, 
und das ganze Haus duftet vom frischen Brot, 
und die Butter zerfließt langsam 
auf dem dampfenden Knäppchen 
(oder wie auch immer sie das Endstück nennen) 
und ich schmecke und sehe: 
Es lohnt sich. 
Seid geduldig, bis der Herr wiederkommt. 

Seid geduldig, bis der Herr wiederkommt. Das durchzieht die Briefe des Neuen Testaments als Echo der Hoffnungen des Volkes Israel. Das raunen sich die ersten Christinnen und Christen zu, als Ermutigung, als Anker in stürmischen Zeiten. Und die lassen keinen Zweifel daran, dass die Geduld nicht unsere eigene ist, sondern dass dieser lange Atem von Gott selbst kommt. Gott hat einen langen Atem, Gott selbst ist geduldig. Zum Glück, denn sonst sähe die Welt wohl ganz anders aus. Leider, denn eigentlich müsste die Welt doch ganz anders aussehen? 

Bis der Herr wiederkommt. Es steht noch etwas aus. Die Welt ist noch nicht am Ende. Christus ist noch nicht fertig mit uns – Gott sei Dank. Denn am Ende ist alles gut, und solange nicht alles gut ist, es ist noch nicht das Ende. Und nichts ist gut. In Afghanistan. Nichts wird gut sein in Syrien, solange wir meinen, mit Waffen den Frieden schaffen zu können. Nichts ist gut an den Grenzen der Festung Europa. Und darinnen auch nicht. 

Manche spüren das deutlicher als andere, leiden an der Welt, wie sie ist, und wissen, dass es anders werden muss, wenn es gut werden soll: ER muss wiederkommen und richten. Ausrichten, wo das Ziel verfehlt wird, verrichten, was nur er tun kann: Das Krumme gerade biegen. Das Verlorene heimholen. Das Verletzte heilen. 

Manche spüren das mehr als andere, wir nennen sie, je nach Leitkultur und Stimmungslage, Prophetinnen oder Poeten, Künstlerinnen und Dichter oder sagen ihnen nach, sie seien nicht ganz dicht, wenn wir sagen: „Es ist doch alles ganz schön“, und sie sagen: „Eben nicht!“, die Knechte und Mägde, die Visionen haben und Träume träumen von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. An der Spitze der deutschen Albumcharts standen im Sommer K.I.Z. und sangen: „Hurra, die Welt geht unter“: 

Seit wir Nestlé von den Feldern jagten 
Schmecken Äpfel so wie Äpfel 
und Tomaten nach Tomaten 
Und wir kochen unser Essen 
in den Helmen der Soldaten 
Komm wir fahren in den moosbedeckten Hallen 
im Reichstag ein Bürostuhlwettrennen 
Unsere Haustüren müssen keine Schlösser mehr haben, 
Geld wurde zu Konfetti 
und wir haben besser geschlafen 
Ein Goldbarren ist für uns das gleiche 
wie ein Ziegelstein 
Ich zeig den Kleinen Monopoly, 
doch sie verstehn's nicht 
"100€ Schein? Was soll das sein? 
Wieso soll ich dir was wegnehm' wenn wir alles teilen?" 

Hurra, diese Welt geht unter / und unter Pflastersteinen wartet der Sandstrand / und auf den Trümmern wächst das Paradies / und heut nach denken wir uns Namen für Sterne aus. 

Geduldig, ja. Und beflügelt von Bildern wie diesen. 
Die Saat wächst von allein, 
nach Frühregen und Spätregen. 
In der Zwischenzeit: 
Werkzeuge reparieren, 
Scheunen leeren, 
Erntehelfer engagieren. 

Der Brotteig geht, ganz von selbst, 
ein bisschen Wärme reicht. 
In der Zwischenzeit: 
Schüsseln spülen, 
Arbeitsplatte putzen, 
Ofen vorheizen, 
Butter aus dem Kühlschrank holen 
und Leute zum Brotessen einladen. 

Seid geduldig, liebe Schwestern und Brüder, denn das Kommen des Herrn ist nah. Bald steht das Christkind vor der Tür, es ist erwachsen geworden und bringt einen neuen Himmel und eine neue Erde. 
In der Zwischenzeit: 
Herzen stärken. 
Mit den neuen Flüchtlingen am Röttgen Billard spielen, 
Deutsch lernen, Essen teilen, ohne zu wissen, wie lange sie bleiben. 
Gemeinsam sitzen bleiben, wenn es draußen dunkel 
und drinnen das Gespräch schwer wird. 
Zwischen Trümmern Brombeerbüschen beim Wachsen zusehen. 
Sich einen Namen für einen Stern ausdenken. 
Einen losen Pflasterstein hochheben 
und den Sandstrand darunter entdecken, 
und in den Spuren im Sand lesen, 
dass wir nie allein waren: 
Er, der kommt, ist immer schon da gewesen. 
Seid nun geduldig. 
Es lohnt sich. Seht auf und erhebt eure Häupter...