Montag, 27. Juni 2016

Was ich auf Lektorenworkshops lerne

Ab und zu gebe ich Workshops für Lektorinnen und Lektoren, das sind im Rheinland die Menschen, die im Gottesdienst aus der Bibel vorlesen. Ende des Jahres soll im kleinen, aber feinen Lutherverlag ein hoffentlich ebenso kleines wie feines Büchlein zu diesem Thema erscheinen.
Manchmal kenne ich die Gemeinden zumindest aus der Ferne, weil ich von mir persönlich bekannten Kolleginnen und Kollegen angesprochen werde. Manchmal lerne ich neue Gemeinden kennen, und das dann ausnahmsweise nicht aus Pfarrers-, sondern aus Laienperspektive. Das ist noch einmal was anderes. Dadurch bekomme ich Einblicke in die liturgische Praxis, und das ist durchaus interessant. Die folgenden Beobachtungen sind zum Teil ein wenig zugespitzt formuliert, aber das soll nur der Verdeutlichung dienen.

1. Gottesdienst ist Pfarrerssache. Oder?



In vielen Gemeinden scheint es immer noch Usus, dass der Pfarrer oder die Pfarrerin einen Großteil des Gottesdienstes bestreitet. Dagegen ist auf den ersten Blick wenig zu sagen, schließlich sind sie dafür ausgebildet und werden dafür bezahlt. Trotzdem ist das problematisch, es gibt ja immerhin so etwas wie das Priestertum aller Getauften. Es wird auch in Einzelfällen störend sein, wenn zum Beispiel der Lektor oder die Lektorin nach der Lesung nicht zum Halleluja der Gemeinde oder zum Glaubensbekenntnis überleitet, sondern der Pfarrer oder die Pfarrerin das tut - das führt nämlich zu unnötiger Hektik, weil an einer atmosphärisch dichten Stelle das Geschehen für einen Orts- und Personenwechsel unterbrochen wird. Auch andere Elemente werden von Pfarrern übernommen, die sie gar nicht machen müssen, zum Beispiel die Begrüßung zu Beginn des Gottesdienstes, die Ansage der Kollekten und anderes. Ich rate den Workshopteilnehmenden, bei allem, was ihnen unklar oder falsch erscheint, erst einmal nachzufragen: Warum ist das so? Woher kommt das? (Hier kommt bei mir der Kirchengeschichtler durch.) Vielleicht gab es einmal eine Phase, in der es nur Lektorinnen und Lektoren gab, die das partout nicht wollten oder nicht konnten. Aber vielleicht hat sich das mittlerweile geändert, und die Kollegin oder der Kollege hat das nur noch nicht mitbekommen? 
Am Rande: Laut der geltenden Agende wird der Gottesdienst unter "Beteiligung und Verantwortung der ganzen Gemeinde" gefeiert. Dass Menschen dadurch verantwortlich beteiligt werden, dass sie auf ein unsichtbares Signal hin einen Liedruf singen, der ihnen in Text- und Notenbild nicht vorliegt, ist Quatsch

2. Die Rolle der Bibel ist unklar.



Nicht viele, die an den Workshops teilnehmen, lesen aus der Bibel vor, die meisten drucken sich den Text der Augenfreundlichkeit wegen aus. Ich rate dann, den Text passgenau zuzuschneiden und zumindest in eine Bibel hineinzulegen - es macht einfach einen haptischen, optischen und symbolischen Unterschied, ob ich aus einem Buch vorlese oder einer Mappe, schlimmstenfalls von einem bloßen Blatt. Dass es sich dabei um eine Bibellesung handelt, ist für die Zuschauenden kaum nachvollziehbar. Ich frage dann nach der Funktion der Altar- oder Kirchenbibel. Die liegt meistens dekorativ irgendwo herum, für die Lesung ist sie nicht geeignet, weil sie ein in Würde gealtertes Exemplar der Lutherbibel von 1912 oder einfach zu schwer und wuchtig ist, um sie zu benutzen. Man kann die herumliegende Altarbibel symbolisch aufladen und sie als Zeichen für das sich ereignende Gotteswort deuten. Man kann aber auch fragen, welche Rolle die Bibel im Leben der Gemeinde spielt, sowohl im Gottesdienst, als auch im sonstigen Gemeindeleben - zum Beispiel dann, wenn Menschen, die den Lektorendienst und damit ein sehr altes und ehrwürdiges, durch und durch geistliches Amt der Kirche übernehmen, mitunter keine Bibel zuhause haben, aus der sie im Gottesdienst vorlesen könnten.



3. Die Lutherbibel ist ebenso über- wie unterschätzt.



Die Lutherbibel gilt vielerorts als die unangefochtene Königin der Bibelübersetzungen. Ihren historischen Wert kann man kaum bestreiten, nur werden diese historischen Aspekte zu vorschnell und zu unbedacht ins Spiel gebracht, wenn es darum geht, ihren Gebrauch im Gottesdienst Anfang des 21. Jahrhunderts zu begründen: Ja, die Lutherbibel war besonders, weil sie auf den hebräischen und griechischen Text zurückgriff. Ja, sie hatte eine Breitenwirkung, weil die Wettiner Kanzleisprache für viele damalige Menschen verständlich war. Ja, Luther war ein sprachgewaltiger und hellhöriger Menschenkenner und Wortkünstler. Nur: Das alles reicht nicht aus, um ihren gegenwärtigen und oft alternativlosen Gebrauch zu begründen. Es stimmt zwar, dass viele Wendungen geläufig und vertraut sind, nur: Diejenigen, die Bachkantaten rezitieren können und im Konfirmandenunterricht ganze Psalmen und Bibelstellen auswendig gelernt haben, sterben zumindest in der Breite aus. Wer entsprechend sozialisiert ist, wird in manchen wortgewaltigen Passagen eine Beheimatung erleben - wer das nicht ist, hört sie im besten Fall nur als heiliges Rauschen ohne konkreten Inhalt, das allenfalls ein wohliges Gefühl des bedeutungsvollen Nichtverstehens heraufbeschwört, das viele Menschen mit "Kirche", "Gottesdienst" oder "Religion" verbinden.

Unterschätzt wird die Komplexität der Sprache, die Schwierigkeit von Formulierungen, die in der Alltagssprache, an deren Prosodie sich das Vorlesen zu orientieren hat, ausgestorben und von allzu behutsamen Revisionen unangetastet geblieben sind: Sinn- und zwecklose Inversionen ("Und Gott sah an alles..."), gnadenlos verschachtelte Nebensätze, die ständige Verwendung von "sprach" statt "sagte", die zwanghafte und nervtötende Wiedergabe des füllwörtlichen "de" durch das ungleich kräftigere "aber" (das im Deutschen eben kein Füllwort mehr ist), das ewige und in der Umgangssprache nur noch ironisch verwendete "siehe (da)" und so weiter. Hier geht es nur um formale Kleinigkeiten, nicht um gewichtige Probleme wie den zweifelhaften Gebrauch von unglücklich aufgeladenen Begriffen wie "Seele", aber in der Masse reichen sie aus, um die Distanz zum Text unendlich groß werden zu lassen, das Reden über den Glauben aus dem Alltag zu holen - und vor allem das sinnvolle Vorlesen einzelner Passagen zu einer kaum zu bewältigenden Aufgabe zu machen. 

Nach allem, was bisher von der 2017er Revision zu lesen war, löst auch sie diese Probleme nicht, stellenweise verschärft sie sie sogar. Ein Problem ist auch der Mangel an Alternativen, sieht man einmal von der Zürcher Bibel ab, die recht nah am Luthertext ist (so nah, dass viele Leute jenseits von Psalm 23 gar keinen Unterschied bemerken), aber nicht nur genauer, sondern auch verständlicher formuliert.

4. Die BasisBibel muss endlich fertig werden.  



Als gangbare, da einzige Alternative galt bislang die Gute Nachricht Bibel, die den im Untertitel verewigten Anspruch, "in heutigem Deutsch" verfasst zu sein, seit zwanzig Jahren nicht mehr einlöst. Natürlich muss man Bibeltexte nicht jeder sprachlichen Modewelle anpassen, man darf es vielleicht auch gar nicht, aber das Problem liegt nicht in der kommunikativen Ausrichtung der Übertragung, sondern in ihrer stellenweise unerträglichen Verquastheit - wer sich Gen 12,1-4a einmal in der Guten Nachricht durchliest, wird merken, was gemeint ist: Die Passage ist fast doppelt so lang wie in der Lutherbibel, der Versuch, "segnen" durch "Gutes wünschen" und Ähnliches zu verdeutschen, ist unsinnig: Dann würde es am Ende des Gottesdienstes auch reichen, der Gemeinde einen schönen Tag zu wünschen, statt sie zu segnen.
Alternativen gab es bislang nicht, wenn man von Randexistenzen wie Hoffnung für Alle und Neues Leben absieht, die stellenweise noch problematischer sind. Mittlerweile gibt es die hipsterdesignte Neue Genfer Übersetzung und die BasisBibel, die sich langsam und verdienter Weise als echte Alternative durchzusetzen scheint. Dummerweise fehlt hier noch das Alte Testament, weswegen man sie kaum an Konfirmand_innen verschenken kann. Es wird dringend Zeit, dass die ganze BasisBibel vorgelegt und die Gute Nachricht in Rente geschickt wird.

5. Lektor_innen erhalten kaum strukturierte, verlässliche Unterstützung.



Keine_r "meiner" bisherigen Workshopteilnehmenden (und das dürften mittlerweile eine ganze Menge sein) hat in seiner oder ihrer Gemeinde einen Lektorenkreis, in dem regelmäßig praktische oder theoretische Aspekte rund um den Gottesdienst erörtert, Fragen gestellt und Dinge ausprobiert werden können. Wenn sie Glück haben, werden vereinzelt Fortbildungen angeboten, allerdings nicht regelmäßig und vor allem nicht verpflichtend - was dazu führt, dass an solchen Fortbildungen in erster Linie die Leute teilnehmen, die es vielleicht gar nicht so nötig hätten. Die pragmatische Seite dieser Problematik ist mangelnde liturgische, d. h. in erster Linie handwerkliche Sicherheit: Lektor_innen übernehmen Unsauberkeiten im gottesdienstlichen Vollzug von den Pfarrerinnen und Pfarrern (Spitzenreiter: Nach vorne laufen, bevor die Gemeinde zu Ende gesungen hat), weil es keine geregelte Gelegenheit gibt, einmal nachzufragen - das liturgische Lernen der Lektoren ist so viel zu sehr vom persönlichen Kontakt zur Pfarrperson abhängig.
Der regelmäßige Austausch im Lektorenkreis ist eine Möglichkeit theologischer Weiterbildung und damit bedeutsam für den Gemeindeaufbau - außerdem schaffen sich Pfarrerinnen und Pfarrer so die Möglichkeit des Feedbacks durch aufgeklärte und dadurch kritische Gemeindeglieder. Aber vielleicht ist das gar nicht gewollt?
Schwerer als die pragmatischen Aspekte wiegt die andere Seite dieser fehlenden Unterstützung für Lektoren:



6. Der Lektorendienst wird nicht als geistliches Amt ernstgenommen.

Der Lektorendienst gehört zu den ältesten liturgischen Ämtern der Kirche und wird u. a. in der Didache, im zweiten Klemensbrief und den Ignatianen erwähnt - das heißt, schon bevor der Kanon in seiner Endgestalt feststand. Wenn wir uns brüsten, "Kirche des Wortes" zu sein, unser Leben und Lehren an der Schrift zu messen und aus dem Wort heraus zu leben, macht das den öffentlichen Umgang mit ihr automatisch zu einem geistlichen Amt.

Viele Workshopteilnehmende kommen aus einer Praxis, die man "Ablesen" nennen könnte. Wenn sie dann lernen, dass "Vorlesen" unglaublich viel mit Interpretation und Auslegung zu tun hat (schon die Frage, welches Wort betont werden soll, könnte bei manchen Versen seitenweise Kommentare füllen), sind sie zunächst erschrocken, oft aber gegen Ende des Nachmittags angefixt, weil sie etwas von der Lebendigkeit der Schrift zu spüren bekommen - und von ihrer eigenen Kompetenz in Sachen Auslegung, auch ohne Theologiestudium. 

Die geistliche Dimension des Lektorendienstes wird schon dadurch verdunkelt, dass Lektorinnen und Lektoren kaum irgendwo offiziell "eingesetzt" werden. Zwar ist es zugegebenermaßen eine recht junge liturgiegeschichtliche Entwicklung, auch Ehrenamlter einzusegnen, aber warum diese Entwicklung kaum bis gar nicht diejenigen umgreift, die an der öffentlichen Wortverkündigung mitwirken, bleibt rätselhaft - auch und gerade sie brauchen doch Segen, Gebet und Begleitung.  
Eine ungeistliche Amtsführung wird auch dort forciert, wo Lektorinnen und Lektoren nicht aufgrund ihrer Eignung, Begabung oder Freude am Lesen eingesetzt werden, sondern die Lesung mehr oder weniger subtiles Mittel ist, Presbyter_innen zum Gottesdienstbesuch zu verpflichten. "Weil die sonst nicht kommen", heißt es dann manchmal. Das aber ist mindestens ein strukturelles Problem, das auf konzeptioneller Ebene zu lösen und nicht auf Kosten der Lesung auszutragen ist.


7. Die Rolle des Gottesdienstes in der Gemeinde ist unklar.


 "Der Gottesdienst ist die Mitte der Gemeinde", "Im Gottesdienst kommen die Menschen der Gemeinde zusammen". In unendlichen Variationen wird das immer und immer wieder beteuert, und es mag theologisch noch so wahr sein, empirisch ist es falsch. Und dadurch wird auch die Theologie wieder schief. Wenn ich meine eigene Berufspraxis kritisch hinterfrage, dann steht der Gottesdienst nicht im Zentrum. Ich hätte gern, dass das so wäre, und vielleicht wäre das anders, wenn ich als lutherischer Hochkirchler den halben Tag mit Stundengebeten zubringen würde, aber auch dann müsste ich ja noch Statistikbögen ausfüllen und all die anderen Dinge tun, denen man selbst bei bodenständigster Pastoraltheologie keine geistliche Dimension abringen kann. 

Dass der Gottesdienst nicht die Rolle spielt, die wir gerne hätten, wird schon daran deutlich, dass manche Lektorinnen und Lektoren ihren Lesungstext am späten Samstagnachmittag oder sogar erst am Sonntagmorgen bekommen. Damit ist recht deutlich gesagt, was man von diesem Dienst hält. Ich rate dann, sich einfach mal zu weigern - wohl wissend, dass auch meine Lektorinnen und Lektoren von diesem Recht Gebrauch machen könnten und sollten. Nicht jeden Sonntag, aber allzu oft.

Man muss nicht auf die Besucherzahlen gucken, um eine "Krise des Gottesdienstes" heraufzubeschwören. Natürlich ist die da, egal, mit wie viel Nachdruck wir unsere Statistik durch das Hinzuzählen von gottesdienstlichen Großevents mit oft zweifelhaftem inhaltlichen Anspruch schönrechnen, wie sehr wir auf den demografischen Wandel schimpfen und darauf hinweisen, dass ja schon Luther fand, dass zu wenige Leute in den Gottesdienst gehen. Es reicht, einmal darauf zu gucken, wie viel Sorgfalt wir auf die Vorbereitung und Zurüstung derer verwenden, die im Gottesdienst beteiligt sind.

Sonntag, 26. Juni 2016

Wenn Jungs "anders" sind - Josef und Billy Elliot



Wenn Jungs anders sind.
Das ist so ein Thema, mit dem manche Eltern sich an ihren Pfarrer wenden.
Oder an den Hausarzt.
Eltern, die sich Sorgen machen um ihr Kind, Angst haben vor dieser Welt und den Wunden, die sie für die bereithält, die anders sind.
Eltern, die wütend sind, weil ihr Junge andere Wege geht, Wege, die sie nicht verstehen, nicht kennen, nicht gut finden. 

Durham, englischer Nordosten, 1984. Weit weg von Kathedrale und Universität liegen die engen Bergarbeitersiedlungen, winzige Einfamilienhäuser, 70 m² auf drei Etagen, eng an eng gepresst, roter Backstein, dazwischen Beton, Klo in einem kleinen Verschlag auf dem Hinterhof. Das Straßenbild ist wie das Klima ist wie der Dialekt, rau und unverputzt. Ein spindeldürrer Junge, neun, vielleicht zehn, turnt durch eine winzige, bis unters Dach verdreckte Küche. Man sieht, dass hier nur Männer wohnen, oder fast. In einer Ecke stehen selbstgemalte Streikschilder: Thatcher Raus, Nicht aufgeben! Der Junge, Billy Elliot, hievt einen Topf mit Eiern vom Gasherd, fängt verkohlte Toastbrotscheiben aus der Luft, balanciert alles auf einem Tablett, schiebt mit dem Kopf die Tür zu einer winzigen Kammer auf, entdeckt das leere, zerwühlte Bett, flucht laut auf, lässt das Tablett fallen. Krachend fällt die Tür ins Schloss. Er rennt durch die engen Straßen, im Zickzack zwischen Gartenzäunen und Briefkästen, unter Wäscheleinen her, um eine Ecke und hinaus auf eine überwucherte Wiese am Fluss. Dort steht eine ältere Dame im Nachthemd, sieht sich verwirrt um. Komm, Oma, sagt Billy Elliot, nimmt sie behutsam in den Arm und führt sie nach Hause. „Ich wollte Ballettänzerin werden“, erklärt sie aufgekratzt. „Jaja, Oma, wir gehen nach Hause“, sagt er. Im Hintergrund kommen auf einer Brücke mit quietschenden Reifen mehrere Mannschaftswagen zum Stehen, Polizisten in Krawalluniform und mit Schutzschilden steigen aus und marschieren zum Bergwerk, wo seit einem Jahr die Bergarbeiter streiken. Wut liegt in der Luft, in erster Reihe stehen Billy Elliots Vater und sein älterer Bruder. 

Die Mutter ist gestorben und nicht mehr da. Die Großmutter dement und auch nicht mehr wirklich da. Die Frauen fehlen. Ähnlich wie bei Josef und seinen Brüdern, im Hause Jakobs. Es gibt natürlich Frauen, sogar mehrere, und das ist Teil des Problems, aber sie bleiben merkwürdig unsichtbar in der ganzen Geschichte. Und auch Josefs Mutter ist gestorben. Wut liegt in der Luft, es zündelt und knistert zwischen den Brüdern. Sowieso, weil es Haupt- und Nebenfrauen gibt, und damit auch Söhne, die dem alten Vater Jakob mehr am Herzen liegen als andere. Martin Luther sagt dazu, man solle nicht meinen, dass die alten Heiligen aus Holz oder Stein, also gefühl- und affektlos gewesen seien. Die Familie von Jakob, Lea, Rahel, Bilha und ihren Kindern Dina und den Brüdern, ist zerstritten, und wie in vielen dysfunktionalen Familien ist auch hier nicht klar, wer hier Opfer, Täter, wer Schuld und wer verletzt ist. Wahrscheinlich alle. 

Josef ist in der Brüderhierarchie als einer der jüngsten ganz weit unten, aber trotzdem Vaters Liebling. Und eine Petze, er erzählt seinem Vater brühwarm, was seine anderen Söhne über ihn reden. Jakob aber hatte Josef lieber als seine anderen Söhne, und er schenkte Josef einen bunten Rock.

Um Billy Elliots Hals baumeln braune, zerschlissene Handschuhe. Er hat sie in von seinem Vater geschenkt bekommen, und der wiederum von seinem Vater. „Trage sie mit Stolz, Sohnemann“, hat der Vater gesagt. Man redet nicht viel in der Familie Elliot, Konflikte werden bearbeitet, in dem man Türen knallt oder die Faust sprechen lässt. Missmutig trottet Billy Elliot zur Sporthalle, lässt sich in der ersten Runde niederschlagen. Trag die Handschuhe mit Stolz, brüllt der Vater, der das Training beobachtet hat, bevor er wütend rausstürmt und die Tür hinter sich zuknallt. Nach dem Boxtraining wird ein Klavier in die Halle gerollt, die kettenrauchende Miss Wilkinson hält ihre Ballettstunde. Fasziniert schaut Billy, zuerst wegen der kleinen Nachbarstochter, aber dann ist er mehr und mehr gebannt von den fließenden Bewegungen der Ballettschülerinnen. „In die Reihe mit dir“, schnauzt die Ballettlehrerin und zieht ihn an die Stange. Erst stakst Billy etwas ungelenk umher, dann beginnt er, sich in den Bewegungen zuhause zu fühlen, zieht seine Boxstiefel aus und die Ballettschuhe an, hängt die Boxhandschuhe an den Nagel und spürt zum ersten Mal: Wenn ich tanze, dann ist es so, als ob ich mich in mir selbst verliere, wie Elektrizität. Auf dem Nachhauseweg springt, tanzt, schwebt Billy Elliot über Beton und durch den Hof mit dem Klo im Bretterverschlag. Demi plié, glissade, arabesque. Und Billy Elliot verliert sich in sich selbst und träumt vom Tanzen.



Josef träumt auch, von Brüdern, die sich vor ihm verneigen, und ist so undiplomatisch, das auch noch zu erzählen. Und dann ist da dieses Kleidungsstück, das er von seinem Vater bekommen hat. Wir wissen nicht genau, was das für ein Rock war. Ein bunter Rock vielleicht, oder einer mit langen Ärmeln, auf jeden Fall ein wertvolles Kleidungsstück, das nicht für die Feldarbeit geeignet ist. Was wenige Ausleger sehen: Das Wort, das hier benutzt wird, kommt auch an einer anderen Stelle vor, und da meint es ein Prinzessinnenkleid. 

Josef ist anders. Anders als seine Brüder, als Ruben, der Erste und Stärkste, der wie Wasser aufwallt, und anders als die anderen: Simon und Levi tragen mörderische Waffen, sind voll Zorn und Grimm, Juda ist ein Löwe, Dan eine Schlange, Benjamin ein reißender Wolf. Und Josef träumt und trägt ein Prinzessinnenkleid. Jetzt kommt, sagen seine Brüder, wir wollen ihn töten und ihn in eine der Zisternen werfen, und wir werden sagen: Ein wildes Tier hat ihn gefressen. Wir werden ja sehen, was aus seinen Träumen wird…

In der Küche der Familie Elliot, zwischen Stapeln von Geschirr und Streikschildern. Der Widerstand der Gewerkschaft bröckelt. Alles schreit, nur die Oma sitzt wie versteinert. Die Ballettlehrerin macht einen Hausbesuch und erzählt von ihren Plänen, Billy bei der Königlichen Ballettakademie anzumelden. Alle schreien, am lautesten sein älterer Bruder. Verdammt nochmal, brüllt er und seine Stimme überschlägt sich, dann tanz, tanz, verdammt nochmal, und er packt seinen kleinen Bruder und rammt ihn auf den Küchentisch. Komm, tanz für uns, höhnt er. Billy Elliot steht wie festgefroren da, und alle schreien. Bis die Ballettlehrerin aus der Küche stürmt, die Tür knallt. In der nächsten Szene sieht man Billy Elliot durch die engen Straßen tanzen. Demi plié, glissade, arabesque. 

Jungs, die anders sind, haben es nicht leicht. Die nicht, die weiblicher scheinen als andere, aber auch die nicht, die lauter, lebhafter und draufgängerischer sind als die, die man normal nennt. Den Einen sagt man: „Jungs spielen nicht mit Puppen.“ „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, und man winkt ihnen auf dem Schulhof mit abgeknicktem Handgelenk zu. Die einen nennt man „Schwuchtel“, die anderen nennt man „schwierig“ oder „ADHSler“, gibt ihnen Ritalin und allgemein schlechte Chancen in einem Bildungssystem, das Stillsitzen und Bravsein mit besseren Noten und Schulempfehlungen belohnt als Raufen, Schreien und Fußballspielen. 



Die großen Männergestalten in der Bibel sind auch oft anders, anders als die Gesellschaft sie gern hätte. Da sind die Depressiven – Saul, Elias, Paulus. Da sind die Alten und Schwachen – Abraham, Simeon. Da sind die viel zu Schönen – wieder Saul – und die viel zu Hässlichen, so wie Paulus. Da sind Männer, die Männer lieben – David und Jonathan und ein geheimnisvoller Lieblingsjünger im Johannesevangelium. Und da sind die, die sogar von ihrer eigenen Familie für verrückt gehalten werden – wieder David, und Jesus selbst: Und Jesu Familie machte sich auf, um ihn zu holen, denn sie sagten: Er ist verrückt (Mk 3,21). Der Jesus, der im Lukasevangelium mal als Hirte, der seinen Schafen hinterhereilt, mal als Hausfrau, die ihren Silbergroschen sucht, beschrieben wird, und von dem Paulus später schreibt: In Christus ist weder Mann, noch Frau (Gal 3). 

Wer anders ist, hat in der Bibel gute Chancen. Entweder, weil Gott ein besonders großes Herz für die Unikate unter seinen Schöpfungen hat, oder weil das enge Verhältnis zum Ewigen, das Berührtsein von der anderen Seite Menschen verändert, spürbar anders werden lässt, sodass sie es schwer haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu halten. Wer anders ist, hat gute Chancen – aber hat es nicht leicht in der Welt, die ganz eigene Wunden für die bereithält, die anders sind, Wunden, die in religiösen Kreisen oft tiefer geschlagen werden und schwerer verheilen als anderswo… Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
 
Was heißt das für uns als Gemeinde? Wie viel Platz räumen wir denjenigen ein, die „anders“ sind, die an der Norm scheitern oder sich selbstbewusst darüber hinwegsetzen? Wie sehr gestehen wir uns selbst unser Anderssein ein, unsere Abweichungen, unsere Spleens, unsere Träume vom Tanzen? 

Josef gelangt auf Umwegen nach Ägypten. Dort macht er Karriere, aber der Weg nach oben ist mit Rückschlägen, Verrat, Sex- und Machtmissbrauch und Intrigen gepflastert. Unter seiner Verwaltung wird Ägypten reich, seine Träume erweisen sich als zuverlässige Wirtschaftsprognosen und ermöglichen es, rechtzeitig Vorräte anzusammeln. Eine Hungersnot zieht über die Welt, und vierzehn Jahre nach dem Mordversuch an Josef werden seine Brüder zu Flüchtlingen und ziehen nach Ägypten und begegnen ihm dort wieder, sind verunsichert, ängstlich und haben Angst vor seiner Rache, als sie ihn erkennen. Und Josef weint und sagt: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen.“

Billy Elliot wird in London an der Ballettakademie angenommen. Vierzehn Jahre später betreten sein Vater und sein Bruder einen großen Konzertsaal, sichtlich verunsichert in der fremden Umgebung, falsch angezogen, ungewohnt. Hinter den Kulissen bereiten sich die Tänzer für den Auftritt vor. Billy Elliot ist erwachsen, athletisch, trägt weißgefiederte Hosen, ist am ganzen Körper weiß geschminkt mit einem schwarzen Streifen auf Scheitel, Stirn und Nase. Das Orchester spielt, die Töne schwellen an zu Tschaikowskis Schwanensee. Für einen Moment stockt die Musik, der Vater im Publikum hält den Atem an, zuckt zusammen: Das Orchester spielt bombastische Klänge, Streicher und Bläser in H-Moll, und Billy Elliot betritt die Bühne und tanzt, springt, schwebt, fliegt, als hätte die Schwerkraft ihn freigegeben. Und sein Vater bricht in Tränen aus. 

Und Jakob lag auf dem Sterbebett und segnete seine Söhne und sprach: Josef wird wachsen, er wird wachsen wie ein Baum an der Quelle, dass die Zweige emporsteigen über die Mauer. Von deines Vaters Gott werde dir geholfen, und von dem Allmächtigen seist du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Flut, die drunten liegt, mit Segen der Brüste und des Mutterleibes. Mögen die Segnungen der ewigen Berge, die köstlichen Güter der ewigen Hügel auf das Haupt Josefs und den Scheitel des Geweihten unter seinen Brüdern kommen. 



Wenn Jungs anders sind.
Das ist so ein Thema, mit dem manche Eltern sich an ihren Pfarrer wenden.
Vor einigen Tagen gingen die Worte einer Mutter über das Internet durch die Welt. Sie schrieb:

„Mein sechsjähriger Sohn trägt gern Nagellack. Er zieht gern Mädchenkleidung an und Tutus. Vielleicht ist das eine Phase, vielleicht auch nicht. Ich liebe ihn und akzeptiere ihn, wie er ist. Ich habe immer gedacht, dass ihn das schützt vor den Schmerzen böser Worte und vor Schulschlägern, und ich habe mir nie Sorgen gemacht.
Vor ein paar Tagen kam er nach Hause und erzählte von Kindern in der Schule, die ihn ärgern wegen seines Nagellacks, und zum ersten Mal in seinem Leben war ich nahe dran, ihn zu überreden, es sein zu lassen, diesen Teil von sich zu verstecken. Weil ich zum ersten Mal Angst hatte, er würde eines Abends niedergeschossen, wenn er mit Freunden unterwegs ist. Ich hatte solche Angst, dass ich dachte, es wäre besser, wenn ich aufhören würde, ihn in seinem Anderssein zu bestärken. Und dann dachte ich an all die Gründe, warum ich ihn so sein lasse, wie er ist. […]
Ich will, dass diese Welt sich ändert. Dass sie besser wird für ihn, ihn verdient. Weil er ein wunderbarer, großartiger Mensch ist. […] Er hat ein Leuchten in sich, das niemand auslöschen kann, so sehr das auch schon manche Menschen versucht haben. […] Gestern haben wir neuen Nagellack gekauft und Tutus getragen. Hier ist er, Welt. Sieh meinen Sohn als den wunderbaren Menschen, der er ist. Zeig ihm Liebe. Zeig ihm Respekt. Helft uns, die Welt so zu machen, dass sie ihn verdient.“

Wenn Jungs anders sind.
Das ist so ein Thema, mit dem manche Eltern sich an ihren Pfarrer wenden.
Eltern, die sich Sorgen machen um ihr Kind, Angst haben vor dieser Welt und den Wunden, die sie für die bereithält, die anders sind.
Eltern, die wütend sind, weil ihr Junge andere Wege geht, Wege, die sie nicht verstehen.
Und ich sage: Segnet Eure Kinder. Sagt ihnen:
Geh, geh hinaus in die Welt, dorthin, wo Er dich führt. Und ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen, und du sollst ein Segen sein.
Amen.

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Die Grundidee für die Predigt verdanke ich Kerstin Söderblom und ihrem Artikel auf evangelisch.de - danke dafür!

Sonntag, 5. Juni 2016

Der Patriarch auf dem Weg in Erschöpfungsdepression und Impotenz (Abraham, Sara, Hagar: Gen 12/16/21, Predigtreihe "Männergeschichten")

Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich will dich zu einem grossen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen gross machen, und du wirst ein Segen sein. Segnen will ich, die dich segnen, wer dich aber schmäht, den will ich verfluchen, und Segen sollen durch dich erlangen alle Sippen der Erde. Da ging Abram, wie der HERR es ihm gesagt hatte, und Lot ging mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Charan auszog. Und Abram nahm Sarai, seine Frau, und Lot, den Sohn seines Bruders, und all ihre Habe, die sie besassen, und die Leute, die sie in Charan erworben hatten, und sie zogen aus, um ins Land Kanaan zu gelangen, und sie kamen ins Land Kanaan. 

Ein Mann, zwei Frauen, Das ist die Überschrift über diesem Gottesdienst heute. Darum geht es in der Geschichte, die im Zentrum dieser Predigt stehen soll, eine Geschichte, die so lang ist und so viele Ecken und Kanten hat, dass wir sie aufteilen und immer wieder ein Stück lesen. Ein Mann, zwei Frauen. Das hat vielleicht auf den ersten Blick einen Schimmer von Seifenoper, Schürzenjägerei und wilder Romantik. Das klingt vielleicht so, als ob hier, in den Zelten, unter glutvoll brennender Sonne und taktvoll schimmerndem Mond, Männerfantasien wahr werden. Aber von Fantasien ist man weit entfernt, wenn man mit Sack und Pack quer durch den vorderen Orient zieht, durch die trockenen Landstriche im südlichen Irak und der östlichsten Türkei, hinunter nach Ägypten und wieder hinauf in die Westbank. Und was sich dort abspielt, zwischen Fluss-, Ehe- und Kindbetten, ist weniger schlüpfrig als schmerzhaft. 

Wie in jeder Fernsehserie haben wir vorhin die Rückblende gehört. Was bisher geschah. Es begann mit verheißungsvollen Mondnächten und Aufbruchstimmung, mit einem Auftrag und einem Versprechen: Geh – und ich begleite dich, ich segne dich, und du wirst ein Segen sein. Aber die Anfangseuphorie ist verflogen, und Abraham ist Träger einer Verheißung, die zwischendurch schwerer wiegt und schwerer zu tragen ist als alle Zeltstangen, alle Vorräte, alle Verantwortung zusammen. 

Vielleicht ist das gar nicht so weit weg von uns. „Aus dir wird einmal etwas ganz Großes“, Sätze wie dieser klingen viel versprechend, können aber zur Last werden. In einem jüdischen Witz unterhalten sich zwei Mütter am Sandkasten. „Wie alt sind denn ihre Kinder?“ fragt die eine. Die andere antwortet: „Der Anwalt ist vier, der Arzt wird nächste Woche zwei.“ Der Anwalt und der Arzt. Sollen Abitur machen, studieren, eine eigene Kanzlei oder eine eigene Praxis aufmachen. Wann ist der Mann ein Mann? Wenn er ein Haus gebaut hat. Einen Baum gepflanzt. Ein Kind gezeugt. Vaters Firma übernommen. Und so weiter. Männer, Frauen natürlich auch, scheitern immer wieder. An den Erwartungen, die Eltern, Arbeitgeber oder irgendeine diffuse Gesellschaft an sie richten. So auch Abraham, so sieht es zumindest aus. In der Geschichte von Abraham und seinen beiden Frauen zeigt sich Abraham von einer Seite, die wir nicht unbedingt mit unseren großen Vorbildern im Glauben in Verbindung bringen, die aber immer wieder bei Gottesmännern und Gottesfrauen vorkommt. Abraham auf dem Weg in die Erschöpfungsdepression, schwach, träge, passiv, ohnmächtig – die Lateiner unter uns ahnen, was kommt. Abraham wird impotent, weil einfach alles zu viel wird. 

In den Kapiteln, die wir heute überspringen, wiederholt Gott seine Verheißung noch zweimal – offensichtlich stand das zwischendurch immer wieder in Frage, zumindest für Abraham. Offensichtlich gab es mehr als einen Moment, an dem Abraham dachte: Ach, eigentlich war es doch ganz schön, er, mit Sara. Bevor Gott kam und alles durcheinander wirbelte. An dieser Stelle in der Bibel lernen wir beide noch mit ihren Spitznamen kennen: „Abram“, eine liebevolle Kurzform, und „Sarai“, „meine Sarah“. Irgendwo auf dem Weg der beiden gehen die Kosenamen verloren. Das kennen Sie vielleicht auch von zuhause. Abraham und Sara sind beide in einem Alter, in dem aus „Liebling“, „Schatz“ und „Mausezahn“ bei vielen Paaren schon „Mutti“ und „Vati“ geworden ist. Wenn Kinder da sind. Aber die fehlen. Mark Twain hat einmal gesagt: „Wer sich schon lange kennt, kriegt nicht mehr so schnell Nachwuchs.“ Und hier geht die Geschichte weiter. 

Und Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren; sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hiess Hagar. Und Sarai sprach zu Abram: Sieh, der HERR hat mich verschlossen, so dass ich nicht gebären kann. So geh zu meiner Magd, vielleicht bekomme ich durch sie einen Sohn. Und Abram hörte auf Sarai. Da nahm Sarai, Abrams Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, die Ägypterin Hagar, ihre Magd, und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau. Und er ging zu Hagar, und sie wurde schwanger. Und sie sah, dass sie schwanger war; da wurde ihre Herrin gering in ihren Augen. Sarai aber sprach zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich. Ich selbst habe meine Magd in deinen Schoss gelegt. Und kaum hat sie gesehen, dass sie schwanger ist, da bin ich gering in ihren Augen. Der HERR sei Richter zwischen mir und dir. Und Abram sprach zu Sarai: Sieh, deine Magd ist in deiner Hand. Mach mit ihr, was gut ist in deinen Augen. Da behandelte Sarai sie so hart, dass sie ihr entfloh. Der Bote des HERRN aber fand sie an einer Wasserquelle in der Wüste, an der Quelle auf dem Weg nach Schur. Und er sprach: Hagar, Magd Sarais, wo kommst du her, und wo gehst du hin? Und sie sagte: Vor Sarai, meiner Herrin, bin ich auf der Flucht. Da sprach der Bote des HERRN zu ihr: Kehr zurück zu deiner Herrin und ertrage ihre Härte. 

Und Sarai, Abrams Frau, hatte ihm keine Kinder geboren. Was hier in einem Satz zusammengefasst wird, sind Jahre vergeblichen Wartens. Jahre, in denen Sara ewig in sich hineinhorcht, ob sich da nicht doch etwas tut, Jahre, in denen sie abends den Kopf schüttelt, weil es wieder falscher Alarm war, Jahre, in denen sie es immer wieder versuchen, gegen alle Vernunft und irgendwann auch gegen alle Lust. Zwei Millionen Paare in Deutschland kennen das, es kommt, wie an Abraham und Sarah zu sehen, in den besten Familien vor. Für Abraham und Sarah steht nicht nur der Fortbestand ihrer Familie auf dem Spiel, sondern eben auch diese mal ermutigende, mal erdrückende Verheißung - und die Frage, wie vertrauenswürdig Gott denn eigentlich ist, wenn der Segen, der Kindersegen, ausbleibt? Und das macht die Geschichte für mich so tragfähig, weil sie realistisch ist. Den Menschen, die mit Gott unterwegs sind, die sich auf das Abenteuer des Glaubens einlassen, sogar denen, die alles stehen und liegen lassen, passiert genau dasselbe wie anderen Menschen auch. 

 Sara fragt nicht nach dem Warum, vielleicht auch nur nicht mehr. Siehe, der HERR hat mich verschlossen, sodass ich nicht gebären kann. So dachte man damals in der Antike, so denken bestimmt Menschen auch heute noch: Wenn es nicht klappt, wenn irgendetwas nicht klappt, ist es die Frau Schuld. Und dann nimmt sie die Dinge selbst in die Hand, und tut etwas, das für uns heute wahrscheinlich fremd ist, vielleicht sogar abstoßend, in der Antike aber Gang und Gäbe war: Da nahm Sarai, Abrams Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Land Kanaan gewohnt hatte, die Ägypterin Hagar, ihre Magd, und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau. „Leihmutterschaft“ würden wir das heute nennen, denn der Plan ist ja, dass Sara das Kind als ihr eigenes bekommt. In Deutschland ist das verboten, in Finnland und den USA zum Beispiel nicht, in der Bibel wird das an keiner Stelle gewertet, sondern offensichtlich als bekannt und grundsätzlich akzeptabel vorausgesetzt. Trotzdem führt die Dreiecksgeschichte in Kanaan zu Verwicklungen und Verwerfungen. Und er ging zu Hagar, und sie wurde schwanger. Wieder bleibt die Zelttür vor unseren Augen verschlossen, wir können nur erahnen, wie schwierig das wahrscheinlich für alle drei gewesen ist. Für Hagar, die verschachert wird wie ein Besitz. Für Abraham, der herumgereicht wird wie ein Zuchthengst. Für Sara, die wahrscheinlich abends in ihrem Zelt liegt und nicht aufhören kann zu denken: Jetzt ist er bei ihr. 

Mit Hagars Schwangerschaft verändern sich die Verhältnisse in Abrahams Familie, die Sklavin bleibt zwar rechtlich Sklavin, aber sie wird eben auch diejenige, die Abraham das gibt, was seine Frau ihm nicht geben konnte. Das macht etwas mit allen Beteiligten, und die beiden Frauen geraten aneinander, und so kommt es in Abrahams Zelt zu einem handfesten Ehekrach – auch das kommt bekanntlich in den besten Familien vor. Und hier zeigt Abraham seine unschönen Seiten, kraftlos, desinteressiert, als ob ihn das alles nichts an- und es bei dem ganzen nur um einen Zickenkrieg geht. Mach doch, was du willst, mit diesen Worten winkt er ab, entzieht sich seiner Verantwortung. Was er sich Gott gegenüber nicht traut, nimmt er sich gegenüber Sara raus. Und Sara macht es ihm nach: Sie sucht nicht den offenen Konflikt mit Hagar, sondern behandelt sie extraschlecht, sodass sie am Ende die Flucht ergreift. Das ist bis heute eine gern genutzte Methode, um eine Beziehung abzubrechen, einen Mitarbeiter aus dem Betrieb zu bekommen und hinterher die Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen: Ich hab ja gar nichts gemacht. Es menschelt also sehr im Hause Abraham, aber Gott sei Dank nicht nur. Auf der Flucht begegnet Hagar einem Engel, einem Boten Gottes, der für sie und ihr Kind sorgt, und auch sie bekommt eine Verheißung. Keine so glanzvolle wie Abraham und Sara, aber genug, um zu überleben und mit Würde und Kind wieder zurückzukehren. Und sie wird die erste sein, die Gott einen Namen gibt: El Roi, du bist der Gott, der mich sieht. Hagar gibt Gott einen Namen. Dieser Satz hat einen anderen Klang seit zwei Tagen, seit die Synode der lutherischen Kirche in Lettland beschlossen hat, die Frauenordination abzuschaffen. Wer Hagar in die Wüste folgt, weiß, dass Lettland eine falsche Entscheidung getroffen hat. Es menschelt, auch in der Kirche.

Aber nicht nur. Darum nochmal: Gott sei Dank. Wenn Menschen Gott spielen, und das tut Sara ja in dem Moment, als sie die Verheißung selbst in die Hand nimmt, dann geht das meistens auf Kosten anderer. Karl Popper hat mal gesagt: Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert immer die Hölle. Und Dietrich Bonhoeffer hat mal gesagt: Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Und so gibt es Hoffnung für Hagar, eine Zukunft für ihren Sohn Ismael – und eine erfüllte Verheißung für Sara und Abraham: Der HERR aber nahm sich Saras an, wie er gesagt hatte, und der HERR tat an Sara, wie er geredet hatte: 

Sara wurde schwanger und gebar Abraham in seinem Alter einen Sohn, zu der Zeit, die Gott angekündigt hatte. Und Abraham nannte seinen neugeborenen Sohn, den Sara ihm geboren hatte, Isaak. Und Abraham beschnitt seinen Sohn Isaak, als er acht Tage alt war, wie Gott es ihm geboten hatte. Und Abraham war hundert Jahre alt, als ihm sein Sohn Isaak geboren wurde. Da sprach Sara: Ein Lachen hat mir Gott bereitet. Jeder, der davon hört, wird meinetwegen lachen. Und sie sprach: Wer hätte je zu Abraham gesagt: Sara stillt Kinder. Und doch habe ich in seinem Alter einen Sohn geboren. Und das Kind wuchs heran und wurde entwöhnt. Und Abraham gab ein grosses Festmahl an dem Tag, da Isaak entwöhnt wurde. Sara aber sah, wie der Sohn der Ägypterin Hagar, den diese Abraham geboren hatte, spielte. Da sagte sie zu Abraham: Vertreibe diese Magd und ihren Sohn, denn der Sohn dieser Magd soll nicht zusammen mit meinem Sohn Isaak Erbe werden. Dieses Wort bekümmerte Abraham sehr, um seines Sohnes willen. Aber Gott sprach zu Abraham: Sei nicht bekümmert wegen des Knaben und wegen deiner Magd. In allem, was Sara dir sagt, höre auf sie. Denn nach Isaak sollen deine Nachkommen benannt werden. Doch auch den Sohn der Magd will ich zu einem Volk machen, weil er dein Nachkomme ist. Am andern Morgen nahm Abraham Brot und einen Schlauch mit Wasser, gab es Hagar und legte es ihr auf die Schulter, übergab ihr das Kind und schickte sie fort. 

Liebe Gemeinde, es fällt schwer, jetzt Schluss zu machen mit der Predigt. Als letzten Satz zu hören: Er schickte sie fort. Abrahams beide Söhne, Isaak und Ismael, werden einander noch einmal begegnen, sie werden ihren Vater gemeinsam begraben. Auch das gibt es ja heute noch zuhauf, dass Verwandte, Geschwister, erst auf Beerdigungen wieder zusammentreffen. Sie werden beide viel erleben, von Ismael wissen wir nicht viel, von Isaak kennen wir die verstörende Geschichte, die gleich im nächsten Kapitel wartet, in der Abraham kurz davor ist, ihn zu opfern. Und vielleicht ist es dann doch ein guter Zeitpunkt für einen Schluss. Kein Punkt, aber ein Doppelpunkt. Ein Doppelpunkt, hinter dem Ihr Leben steht und meins. Wir versuchen auch, ein Leben mit Gott zu leben, Christus nachzufolgen, und wir erleben doch auch: Wir haben schwer zu tragen an den Erwartungen, die an uns gerichtet sind. Wir versuchen, Abkürzungen zu gehen und richten damit manches Mal Schaden an, wir stehen zwischen Menschen und schieben Entscheidungen hinaus. Und trotzdem. 

Ein Mann, zwei Frauen. Das ist, im Fall von Abraham, Sara und Hagar, nicht schlüpfrig, sondern schmerzhaft. Aber in alldem ist Gott dabei. Durch die ganze Geschichte hindurch klingt die Erkenntnis: Du bist ein Gott, der mich sieht. Abraham, Sara, Hagar, Isaak und Ismael. Und uns. Wenn ich aus dieser Männergeschichte, die ja, wie alle Geschichten in dieser Predigtreihe, nicht nur eine Männergeschichte ist, eins mitnehme, dann ist es das: Du bist ein Gott, der mich sieht. Damit lässt es sich leben. Amen. 

(Ein paar Gedanken stammen aus einer Predigt des Düsseldorfer Kollegen Uwe Vetter)