Sonntag, 30. Dezember 2018

Liebe auf dem Weihnachtsmarkt. Und Gott in der Krippe

Predigt im Advents- und Weihnachtsgottesdienst der Polizeiseelsorge in NRW in der Düsseldorfer Johanneskirche. Ein Teil ist bei mir selbst geklaut.

Irgendjemand dachte irgendwann einmal:
Ich bin jetzt besonders schlau.
Und er antwortete auf die Frage: Wer oder was ist Gott?
mit dem Satz: Gott ist die Liebe.
Super.
Guter Plan.
Erkläre das am meisten missbrauchte Wort der Weltgeschichte mit dem am zweitmeisten missbrauchten Wort der Weltgeschichte.
In Gottes Namen werden Kriege angezettelt, Kinder missbraucht, Menschen diskriminiert...
Im Namen der Liebe werden Kriege angezettelt, Menschen missbraucht, Probleme totgeschwiegen, wird Jahr um Jahr gute Miene zum bösen Spiel gemacht. 

Vor allem an Weihnachten. Dem Fest der Liebe.
In trauter Keinsamkeit
mit Schwiegervätern und Schwiegermüttern,
Schwestern, Schwagern und Schwippschwiegerneffen
und mit deiner alten Tante – Moment, ich dachte, deine alte Tante?!
Wir schenken uns ja nichts.
Wir schenken uns wirklich nichts.
„Also, wir machen den Rotkohl ja immer selbst. Aber jedem das Seine.“
„Sag mal, Junge, warum hast Du denn immer noch keine Freundin?“
„Früher war mehr Lametta.“
„Sag mal, ist deine Vorstrafe eigentlich verjährt oder wie das heißt?“
„Hast Du eigentlich zugenommen?“
Wir schenken uns nichts.
Und im Schein der Heiligen Nacht scheint mancher Heiligenschein
doch sehr scheinheilig zu sein.

Also doch besser ohne?
Ohne Gott?
Ohne Liebe?

Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts. Und beginne die Suche nach Antworten auf dem Weihnachtsmarkt. Entgegen anderslautender Medienberichte gibt es sie durchaus noch, Weihnachtsmärkte an allen Ecken und Enden, man kann sich kaum retten vor lauter Jingle Bells und Glühweinschwaden.

Es gibt nordische Weihnachtsmärkte,
bayrische Weihnachtsmärkte,
Alpenweihnachtsmärkte,
Mittelalter- und Barockweihnachtsmärkte,
vegane Weihnachtsmärkte,
klimaneutrale Weihnachtsmärkte,
historische Weihnachtsmärkte,
Bauernweihnachtsmärkte,
Hafenweihnachtsmärkte
und schwul-lesbische Weihnachtsmärkte.

Weihnachtsmärkte sind wie die Liebe – für alle!
Bestimmt gibt es demnächst auch Weihnachtsmärkte für besorgte Bürger,
wobei das mit der Dekoration ein bisschen schwierig werden könnte –
bei einer Krippe ohne Flüchtlinge, Araber, Juden und Schwarze
bleiben bekanntlich nur Schafe, Ochsen und Esel übrig.

Vielleicht ist Liebe wie Glühwein  – klebrig-süß, vernebelt den Kopf ein bisschen und schmeckt eigentlich nur, wenn man ihn zusammen trinkt und er richtig heiß ist.
Oder vielleicht ist Liebe wie diese vielzackigen Herrnhuter Sterne – theoretisch eine sehr hübsche Sache, schnell angeschafft, aber das Zusammensetzen ist verdamm schwierig, und mit der Zeit brechen die Spitzen ab.
Oder Liebe ist wie richtig scharfes Gulasch aus der großen Kanone – sie brennt zweimal, einmal am Anfang und einmal am Ende.
Vielleicht ist Liebe aber auch wie Christkind oder Weihnachtsmann – früher hat man mal daran geglaubt, aber das ist lange her.

Unterm Strich weiß ich nicht, ob der Weihnachtsmarkt so hilfreich ist auf der Suche nach der Liebe.
Unterm Strich weiß ich nicht, ob der Weihnachtsmarkt so hilfreich ist auf der Suche nach Weihnachten.
Wahrscheinlich wäre es sachlich gar nicht so ungerechtfertigt, die Weihnachtsmärkte konsequent umzubenennen. In Lichtermarkt, Sternschnuppenmarkt, Wintermarkt, Jahresendmarkt, Dezembermarkt, Wintermärchenmarkt, Konsumistgeilmarkt, Scheißdiewandanbinichwiedervollmarkt… was weiß ich.
Wie viel Weihnachten steckt im Weihnachtsmarkt,
und wie viel Gott steckt in Weihnachten
und wie viel Liebe steckt folglich im Weihnachtsmarkt,
wenn Liebe in Gott und Gott in Weihnachten
und Weihnachten gar nicht im Weihnachtsmarkt steckt?
Wie viel Gott steckt im Weihnachtsmarkt?
Wo ist Gottzwischen Lebkuchenherzen, Punschbuden, Handyschalen, Pudelmützen, Pilzpfannen, Flammlachs, Kotzflecken und Dreckpfützen?

Die Frage ist gestern Abend wieder aufgerissen.
Wie eine alte Wunde, knapp zwei Jahre alt.
Damals, Breitscheidplatz Berlin.
Mittlerweile hat sie nur noch ab und zu gejuckt
und ein bisschen gezogen,
wenn das Wetter anders wurde.
Jetzt ist sie nochmal offen.
Wegen Straßburg.
Und der Frage: Warum? Wie kann sowas passieren?
Für manche ist das eine sicherheitspolitische,
eine ordnungspolizeiliche Frage.
Für mich halt eine Glaubensfrage.
Für Euch vielleicht auch.

Und ich finde auf dem Weihnachtsmarkt keine Antwort darauf.
Und auch nicht in der Schüssel mit Kartoffelsalat und Würstchen
oder in Omas altem Plätzchenrezept mit guter Butter
oder bei Rudolf, dem Rentier mit der roten Nase
oder auf dem Boden eines leergesoffenen Glühweintopfs.

Ich finde sie im Stall.
Eine Antwort.
Keine, die mir restlos alles erklärt.
Sie ist klein und genauso sehr Frage wie Antwort.
Klein und mit rotem Gesicht,
auf dem noch ein bisschen Käseschmiere klebt.
Sie ballt die kleinen Fäustchen und schreit aus Leibeskräften.
Im Stall finde ich die Liebe. Und Gott.
Und ahne, wie doch beide zusammenkommen
in einem neugeborenen Baby,
das selbst abgebrühte Hirten erweicht
und alle Engel singen lässt.
Und ahne:
Liebe ist, wenn man das Teuerste gibt, das man hat,
und es loslässt in die weite Welt.
Liebe ist, wenn man die Scheiße nicht verschweigt,
aber sich weigert, ihr das letzte Wort zu lassen.
Liebe ist, wenn man dahin geht,
wo keiner sonst freiwillig einen Fuß hinsetzt.
Liebe ist, wenn man selber merkt,
dass das alte Herz noch nicht so ganz aus Stein ist.
Liebe ist wie Gott.
Ein missbrauchtes, misshandeltes, missverstandenes, missverständliches,
instrumentalisiertes und vielleicht viel zu häufig falsch gebrauchtes Wort.
Aber eben auch: Die einzige Kraft, die die Welt in den Fugen hält.
Ein riesengroßes Abenteuer.
Also los.
Amen.

Übrigens: Mehr Predigten gibt es ab jetzt vor allem zu hören auf der schönen neuen Homepage unserer Gemeinde!

Dienstag, 30. Oktober 2018

Ach, lasst mir doch meine Kürbisse...



Ein bisschen leiser scheint es geworden zu sein. Trotzdem kann man den Kalender danach stellen - Ende Oktober ist es wieder soweit: Das Naserümpfen, das Unken und Motzen über Halloween. "Es gibt kein Entkommen", zelotete vor einigen Jahren Margot Käßmann ausgerechnet in der BILD-Zeitung und bediente sich dabei altbekannter Argumente aus der Mottenkiste kulturkritischer Protestanten und anderer sittlichkeitsbewegter und vaterlandsbesorgter Kreise. Argumente, die in den frühen 20er und späten 40er Jahren des letzten Jahrhunderts Hochkonjunktur hatten, als die Kirchen sich noch vehement für ein Verbot des rheinischen Karnevals einsetzten: Es sei reiner Kommerz, man habe diese und jene erschröckende Eskalationsanekdote gehört, außerdem sind die Katholiken auch dagegen. 

Die "heidnischen Wurzeln"

 

Evangelisch.de lässt in diesem Jahr den Vorsitzenden der Evangelischen Allianz, Ekkehard Vetter, zu Wort kommen. Der raunt in der Osnabrücker Zeitung, dass hinter Halloween "ein heidnischer Brauch und die Tradition des Totenkultes steht." Soso. Der geneigte Leser mag sich fragen, welcher Totenkult dahinter stehen mag, aber mit Detailfragen wollen sich Vertreter*innen solcher sogenannter Kontinuitätshypothesen nicht befassen. Diese Hypothesen sind aus zwei Gründen problematisch: 

Die penetrante Rückführung von Volksfesten auf vermeintlich antik-pagane Vorläufer war ein liebes Hobby der romantischen Volkskundler. Im Bestreben, den bürgerlichen (und unterbürgerlichen) Festkalender zu adeln (und zum Teil mit dezidiert kirchen- oder christentumsfeindlicher Spitze), konstruierte man riesige Spannungsbögen über Zeiten und Räume hinweg. Historisch ist das kaum haltbar, aber die Volkskundler der ersten Stunde arbeiteten eher assoziativ als quellenkritisch. Da findet man in irgendeinem Werk über die Sitten und Gebräuche der Etrusker einen Bericht über Geschenkbräuche im Winter, und schon hat man die Wurzeln der Weihnacht im vorchristlichen Dunkel ausgegraben. Und wo keine Quellen zur Hand waren, scheute man sich nicht, die Belege einfach zu erfinden. Was so gut ins eigene Weltbild passt, das muss es schließlich gegeben haben. Das Anliegen der romantischen Volkskundler war es, den Festen den Anschein des "Ursprünglichen", "Reinen", "Echten" zu geben. Im Laufe der Zeit wurde daraus auch das "echt Germanische" - kein Wunder, dass die Nazis diese Kontinuitätshypothesen gern aufnahmen und mit ihrer Hilfe versuchten, die christlichen Wurzeln der Fest- und Feiertage zu leugnen, um diese im Dienste nationalsozialistischer Propaganda zu instrumentalisieren. 
Der erste, der die heidnische Herkunft von Halloween behauptete, war der schottische Ethnologe James Frazer. Der bezog sich methodisch auf Wilhelm Mannhardt, war ganz einer religionskritischen Grundansicht verhaftet, die Menschheit entwickle sich mental von der Magie über die Religion zur Wissenschaft, und also fast ein Musterbeispiel für den westeuropäischen Kontinuitätenbastler. In Deutschland verbreitete das zwischen 1927 und 1942 (...) erschienene Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens ähnliche Thesen. 

Haltbar sind solche Kontinuitätshypothesen nach heutigem historischen Wissensstand und methodischen Standard nicht. Allzu frei und mitunter gewaltsam werden hier disparate Befunde unter eine Überschrift gestellt, allzu unkritisch werden hier mitunter hochgradig zweifelhafte Quellen zitiert. 

Selbst, wenn es solche heidnischen Wurzeln gäbe - die Dinge ändern ihren Charakter, wenn sie in einen neuen Kontext gestellt werden. Zum Beispiel die Kartoffel: Bei den indigenen Völkern Süd- und Mittelamerikas spielte sie eine wichtige Rolle im kultischen Leben, der ganze Festkalender richtete sich nach dem Saat- und Ernterhythmus. Als sie in die Alte Welt importiert wurde, verlor sie diesen Zusammenhang und wurde zum gänzlich entmythologisierten Nahrungsmittel. Oder die Olympischen Spiele - in der Antike frömmer und religiöser und kultischer als heute der Kirchentag. Käme jemand auf die Idee, Leichtathletik zu verbieten, weil in der Antike (und zwar nachweislich) körperliche Ertüchtigung mit religiösem Überbau betrieben werden konnte? Ich hoffe nicht. 

"Wir sind evangelisch und feiern Reformationstag"


In sozialen Medien machen dieser Tage wieder Memes mit einer sehr eigenen Ästhetik die Runde: "Wir sind evangelisch, wir feiern kein Halloween." Oder: "Wir sind evangelisch, wir feiern Reformationstag." 

Im ersten Fall wird ein Kausalzusammenhang behauptet, der alles andere als selbstverständlich ist. Ich habe nachgegeguckt: In keiner reformatorischen oder modernen Bekenntnisschrift ist von Halloween die Rede. "Ich bin evangelisch. Ich feiere kein Halloween" bewegt sich auf einer Linie mit Sätzen wie: "Ich habe keine Mikrowelle. Ich bin 1,75 m groß" oder "Ich lese keine Liebesromane. Ich wohne im dritten Stock." Beide Sätze können jeweils für sich genommen durchaus wahr sein - aber das eine muss mit dem anderen nicht zwingend etwas zu tun haben.

Im zweiten Fall wird schlimmstenfalls schlichtweg gelogen. Der Statistik nach feiern nämlich nur sehr wenige Menschen in Deutschland den Reformationstag in der einzigen Form, die sich bislang durchgesetzt hat: Indem sie einen Gottesdienst besuchen. Und damit hängt zusammen, dass Halloween überhaupt keine Konkurrenz dazu sein kann: Es ist bislang, von den Zentenarien abgesehen, nicht gelungen (und vielleicht hat es auch niemand versucht), dem Reformationstag einen Volksfestcharakter zu geben. Wir hätten als Kinder nicht quengelnd vor dem Fernseher gesessen und nach geschnitzten Kürbissen verlangt, wenn es kindgerechte und spaßige Formen gegeben hätte, den Reformationstag zu begehen. Wenn zum Beispiel Martin Luther in die Häuser gekommen wäre und den Kindern, die brav das Vaterunser aufsagen konnten, Geschenke gegeben oder in die bereitgestellten Stiefel gelegt hätte. Oder wenn wir im Garten Thesen gesucht hätten. Oder so, you know what I mean. 

Natürlich ist Halloween auch ein Triumph des Kommerzes und ein Beispiel für die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Aber man kann ihm nun wirklich nicht anlasten, dass die evangelischen Kirchen es nie richtig hinbekommen haben, Reformationsparty zu feiern.

Lasst mir meine Kürbisse.


Natürlich bin ich befangen. Als Kölner stürze ich mich selbstverständlich auf jede Gelegenheit, mich schon vor dem 11.11. zu verkleiden. Vielleicht dieses Jahr als Johann Tetzel. Und Nachbarskinder, die mir "Süßes oder Saures" entgegenblaffen, werde ich freundlich ermahnen, ein bisschen höflicher zu sein, dann gibt's auch was, um sich die Zähne zu ruinieren. Und bestimmt werde ich vorher pflichtschuldig in irgendeine Veranstaltung zum Reformationstag gehen. Wahrscheinlich wird mir ein Kollege oder eine Kollegin erzählen, wie wichtig die Reformation ist, "gerade in der heutigen Zeit". Wahrscheinlich wird man sentimental daran erinnern, wie voll die Reformationstagsfeiern letztes Jahr gewesen sind. Wahrscheinlich werde ich "Ein feste Burg" singen und mir wünschen, es klänge ein bisschen mehr nach Fangesang aus der Südkurve. Wahrscheinlich werde ich das dumpfe Gefühl haben, dass es irgendwie "richtig" ist, wenig Spaß bei so einer Veranstaltung zu haben, weil "kein Spaß" eben so gut evangelisch und die angemessene Haltung gegenüber so bedeutenden Phänomenen wie der Reformation ist.

Freitag, 12. Oktober 2018

Wunderbar gemacht. | Ansprache zur Vernissage


Ansprache anlässlich der Eröffnung unserer Ausstellung Wunderbar gemacht im Gemeindezentrum Uellendahl.


Kehren wir zurück an den Anfang. Also ganz zurück.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und ganz viel dazwischen. Und bevor Gott noch den Sabbat schuf und ein wohlverdientes Nickerchen machte, lehnte er sich zurück und nickte zufrieden. Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe: Es war sehr gut.

Alles.
Sehr gut.
Alles.

(Mücken und Wespen und Lakritz kann es damals noch nicht gegeben haben, aber lassen wir das.)

Und Adam und Eva lustwandelten durch den Garten Eden, und sie waren beide nackt und schämten sich nicht, denn sie hatten es noch im Ohr: Und Gott sah alles an, was er geschaffen hatte, und siehe: Es war sehr gut.

„Gott, ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke…“

Und es hätte so wunderbar weitergehen können.
Wenn nicht die Schlange eines Tages leise den ersten Zweifel in die Welt gezischt hätte:
„Sollte Gott wirklich gesagt haben…?“

Und schon im Garten Eden fing damit die Diskussion an, was man denn nun essen darf und was nicht, und Adam und Eva beginnen eine Apfel-Diät oder Steinzeitkost oder was weiß ich, und sie erkennen, dass sie nackt sind. Und das Wissen, dass sie wunderbar gemacht sind, wird leise, aber unaufhaltsam übertönt von dem leisen Zischen: „Sollte Gott wirklich gesagt haben…?“

Und Adam und Eva fingen an, sich feige zu beblättern und ihre Körper zu verstecken.

Wir kennen die Stimme der Schlange.
Sie zischelt und schlängelt sich durch die Jahrhunderte, jetzt vielleicht lauter als je zuvor.
Eine amerikanische Kollegin (Nadia Bolz-Weber, ich weiß nur nicht mehr, wo) hat einmal gesagt: „Zeig mir irgendein Körperteil. Und ich zeige Dir eine Branche, die ihr Geld damit verdient, Menschen zu überreden, dass genau dieser Körperteil an ihnen falsch ist und korrigiert werden muss.“

Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe: Es war sehr gut.
Und wir stehen vor dem Spiegel und beäugen uns kritisch und sagen: Naja.
Es wächst sich halt raus…

Wir haben auf unser Projekt überwiegend und überschwänglich viele positive Rückmeldungen bekommen. Aber manchmal auch die Frage: Warum macht ihr das als Kirche?

Und die Antwort ist eigentlich sehr einfach: Weil es halt das ist, was wir als Kirche so machen.

Wir suchen und finden Schönheit dort, wo niemand sie vermutet.

Wir sehen im Tod des Einen die Grundlage neuen Lebens für alle. So wie wir auf Gräbern inmitten von Trauer und Tod von Auferstehung und Leben sprechen.

Wir suchen Gottes Spuren in der Welt und finden sie in den Gesichtern und Geschichten der Menschen. Wir blicken in ein von Sorgenfalten durchfurchtes Gesicht und sagen leise: Danke, Gott, dass Du diesen Menschen bis hierher getragen hast.

Wir sagen Menschen, die unter ihrer Schuld zu zerbrechen drohen: Dein Sünden sind dir vergeben – geh‘ hin im Frieden des Herrn.

Wir erheben unsere Stimme, um der Schlange zu widersprechen, wenn sie redegewandt und eindringlich und unheimlich überzeugend sagt: Du bist nicht wunderbar. Du bist zu alt, zu dick, zu dünn, zu dunkel, zu langsam, zu gezeichnet vom Leben, zu klein, zu groß, zu anders, zu männlich, zu weiblich oder zu wenig von beidem…

Nein! Und weil Bilder manchmal so viel lauter sprechen als Worte, tun wir es eben auch mit Fotos.

Warum wir das als Kirche machen?

Gucken Sie sich die Bilder an. Dann wissen sie’s.

Sonntag, 2. September 2018

Gefährlicher Glaube | Predigt über Apg 9 und Mendelssohns "Paulus"

Gottesdienst unter Mitwirkung der Kantorei Dreiklang e. V., die Chorstücke und Choräle aus Mendelssohns Paulus sang. Das ganze Oratorium gibt es am 16. September zu hören! Außerdem wurde im Gottesdienst der Sohn zweier junger Leute aus Iran getauft, die wegen ihres Glaubens flüchten mussten und in unserer Gemeinde eine Heimat gefunden haben. Die Predigt wich in manchen Punkten vom Manuskript ab - es gilt halt das gesprochene Wort...

Drei Geschichten verschränken sich heute in diesem Gottesdienst. Drei Geschichten von Menschen, die Christinnen und Christen werden, die es nicht quasi von Geburt an sind, die nicht mehr oder weniger hineingeboren werden in eine Gemeinde, sondern für die sich irgendwann im Laufe ihres Lebens etwas verändert. Drei Geschichten – und eigentlich sind es noch mehr. 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/86/Niccol%C3%B2_dell%27_Abbate_002.jpg
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Da ist Saulus, der sprichwörtlich zum Paulus wird. Der seine Karriere beginnt als gnadenloser Verfolger der noch jungen christlichen Gemeinde und dann nach einem umwerfenden Erlebnis auf der Straße nach Damaskus zum Apostel wird, den seine Reisen bis an die Enden der damals bekannten Welt und darüber hinaus führen. 

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/38/Felix_Mendelssohn_Bartholdy.jpg
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Da ist Felix, Sohn der bedeutenden und wohlhabenden jüdischen Familie Mendelssohn, Enkel des bedeutenden jüdischen Aufklärers Moses Mendelssohn. „Ein Judensohn, aber kein Jude“, so soll Goethe über ihn gesagt haben. Felix wird nicht jüdisch erzogen, sondern 1816, im Alter von sieben Jahren, getauft. Ab diesem Zeitpunkt nutzt die Familie den „christlichen“ zweiten Nachnamen Bartholdy. Mit Mitte Zwanzig beginnt Felix mit den Arbeiten am „Paulus“, einem großen Oratorium, das seinen Ruf als Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik festigt. 

Da sind F. und N. Die, als Muslime aufgewachsen, auf verschiedenen Wegen schon in ihrer Heimat im Iran von Jesus Christus hören. Im Iran, wo das Christentum eigentlich eine längere Geschichte als der Islam hat, aber nur unter einem Prozent der Bevölkerung Christinnen und Christen sind, ist das keine ungefährliche Angelegenheit: Zwar werden ihnen einige Rechte zugesprochen, der Übertritt zum Christentum ist aber nur erlaubt, wenn die Eltern auch Christen sind. „In vielen Kirchen sind sonntags Polizisten in Zivil unterwegs, die sehr genau gucken, wer da alles den Gottesdienst besucht und getauft wird. Besteht ein Verdacht auf Mission, ist der Pastor sehr schnell im Gefängnis und die Kirche geschlossen“, das hast du, N., einmal für den Gemeindebrief erzählt. Auf verschlungenen Wegen lernen sie sich in Deutschland kennen und lieben, landen in Wuppertal und, darüber freuen wir uns sehr, in unserer Gemeinde. Und bekommen den kleinen P., der heute getauft wird. 

Drei Geschichten, die in diesem Gottesdienst ineinander fließen. Und viele mehr kommen dazu – wir alle haben unsere eigene Geschichte mit Gott, die wenigsten wahrscheinlich bruchlos und gerade. Vielleicht können die wenigsten von uns so einen klaren Punkt benennen, an dem man sagen könnte: Dann und dann war es soweit. Ich kann das nicht. Ich kann nicht diesen einen Punkt festmachen und sagen: Hier hat mein Glaube angefangen. Ich kann mich aber an Zeiten erinnern, in denen ich dachte: Das ist alles nichts. In denen ich das Gefühl hatte, allein zu sein unter einem weiten Himmel, der kein Geheimnis birgt hinter Sonne, Mond und Sternen außer der kalten Unendlichkeit des Alls oder in denen ich dachte: Wenn es Gott gibt, dann weiß ich gerade nicht, ob ich ihn mag. Oder brauche. Oder will. Und ich kann Punkte benennen, an denen wir uns wiedergefunden haben. Man wird nicht fertig mit dem Glauben. 

Felix Mendelssohn Bartholdy wird auch kaum fertig mit seinem Paulus. Er feilt über Jahre daran. Verändert die Struktur, verwirft bereits geschriebene Musikstücke, komponiert Neues, setzt die Teile anders zusammen. Streitet sich mit Zeitgenossen, die sagen: Über Paulus kann man kein Oratorium schreiben – wie soll die Musik, die so unwiderstehlich das Gefühl anspricht, diesen verkopften Denker beschreiben können? Sein Vater Abraham begleitet die Arbeit an der Partitur eng bis zu seinem Tod. In Briefen ermutigt er Felix zur Aufnahme traditioneller Elemente evangelischer Kirchenmusik, um seine protestantische Identität zu beweisen. Die Arbeit am Paulus wird so zur Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Wann immer Felix ein Musikstück nur mit seinem jüdischen Nachnamen Mendelssohn unterschreibt, ermahnt ihn sein Vater, doch lieber den christlichen Nachnamen Bartholdy zu benutzen, denn, so schreibt er mehrfach: „Es wird ebensowenig jemals einen christlichen Mendelssohn geben wie einen jüdischen Konfuzius.“ Wahrscheinlich treibt Abraham Mendelssohn Bartholdy die Ahnung oder die Erfahrung, dass seine Familie immer unter Verdacht stehen wird, immer beweisen muss, dass sie die besseren Christen sind. Dass sie es ernst meinen. So, wie viele Menschen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind, immer wieder beweisen müssen, dass sie die besseren Deutschen sind. Gerade in der Entstehungszeit des Paulus ist die Familie Mendelssohn Bartholdy antisemitischen Vorurteilen und Kampagnen ausgesetzt, einen Höhepunkt erreicht das mit der Schmähschrift Richard Wagners, Das Judenthum in der Musik, mit dem er Mendelssohns Ansehen nachhaltig beschädigt.  Felix wird das zum Glück nicht mehr selbst erleben. 

Wie es ist, wenn Leute sagen: „Du bist doch gar kein Christ“, das hast du auch erlebt, N. Wir haben beide mit deiner Anwältin und einem Gott sei Dank kompetenten Übersetzer im Anhörungszimmer gesessen und immer fassungsloser den immer abstruseren Fragen der Sachbearbeiterin zugehört, mit der sie prüfen wollte, ob Du denn wirklich Christ bist. Ich möchte sie hier nicht wiederholen, aber ich zitiere ein paar Fragen und Aussagen von Mitarbeitenden des Bundesamtes für Migration, die in einigen Zeitungen veröffentlicht worden sind – Sie können ja überlegen, ob Ihnen eine Antwort eingefallen wäre: 

„Was ist die weltliche Hauptstadt des christlichen Glaubens?" 
„Sie kennen doch bestimmt das Gleichnis vom verlorenen Sohn – wie hießen die beiden Söhne?“ 
„Warum haben Sie die Bibel nicht vollständig gelesen?“ 
„Warum tragen Sie kein Kreuz?“ Oder, als Variante: „Warum tragen Sie ein Kreuz, wenn Sie evangelisch sind?“ 
„Martin Luther ist eine wichtige Person im Evangelium. Wie ist er gestorben?“ 

Immer wieder werden Anträge abgelehnt mit der Begründung: Es zwingt Sie doch niemand, Ihren Glauben öffentlich zu bekennen, Sie sind ja selber schuld! N., du hast selbst einmal gesagt: „Ich hatte ein gutes Leben im Iran. Mehrere Leute haben mir geraten, nach außen als Moslem zu leben und mein Christentum für mich zu behalten, aber das wäre nicht gegangen. Ich kann doch nicht über das schweigen, was mich so fasziniert und bewegt – Jesus hat auch gesagt, dass wir unser Licht nicht irgendwo verstecken sollen.“ 

Auch Paulus sieht sich in seiner Karriere als Apostel immer wieder Anfeindungen ausgesetzt – man wirft ihm seine Vergangenheit als Christenverfolger vor, man spricht ihm die Befähigung ab, über den Glauben zu sprechen, weil er Jesus nicht zu Lebzeiten gekannt hat. Paulus antwortet auf solche Anfeindungen, in dem er von seinem eigenen Leben erzählt, wie er selbst Gott am eigenen Leib erfahren hat, auch von seinen eigenen Zweifeln und Abgründen. Und vielleicht ist das auch bei uns so. Wir können und dürfen vielleicht sowieso nur von Gott reden, wenn wir zugleich bereit sind, auch von uns selbst zu reden, von unserem Leben, unserer Geschichte. 

Das ist nicht einfach, das wissen wir alle selbst. 

Die Geschichten, die hier heute zusammenfließen, erinnern uns daran, dass das auch gefährlich sein kann. Die Christenverfolgung der Antike, die Paulus wahrscheinlich in Rom das Leben gekostet hat, ist nicht ohne Parallelen in der Gegenwart. Fragen Sie unseren Pastor Favor Bancin, unter welchen Gefahren Christinnen und Christen mittlerweile in Teilen Indonesiens leben. Informieren Sie sich in den Nachrichten, wie christliche Gemeinden in der Türkei leben oder in China. Wie es in der DDR war. Oder fragen Sie Pfarrerinnen und Pfarrer in Ostdeutschland, die gegen die braune Hetze der AfD, Pegida, der Pro-Bewegung und anderer Nazis den Glauben an den dreieinen Gott bekennen, der der Schöpfer und Erhalter ALLER Menschen ist, egal welcher Herkunft, Hautfarbe oder Religion. 

Und wenn wir aus den Ereignissen in Chemnitz in diesen Tagen eins mitnehmen, dann doch das: Der Anfangschoral von Mendelssohn, den wir gerade gehört haben, gilt uns, hier, heute, jetzt, uns im Einzelnen, uns in Deutschland, in Europa, in der Welt: Wachet auf, ruft uns die Stimme! 

Als einige von unseren Chorsängerinnen und Chorsängern dankenswerter Weise hier vorbei gekommen sind, um den Gottesdienst mit vorzubereiten, da waren wir, als wir im Gespräch an diesem Punkt angelangt waren, für den Moment sprachlos, so irgendwie. Warum muss das sein? Warum muss das für Menschen gefährlich sein, wenn sie ihren Glauben bekennen? Wir haben geahnt, dass man die Schuld dafür nicht allein Gott in die Schuhe schieben kann – denn es sind immer Menschen, die andere Menschen quälen, foltern, mobben, töten. Aber warum muss das sein? Und wir haben das starke Gefühl gehabt, dass es dafür keine allgemeingültige Antwort geben kann. Nur den Protest. Und die Hoffnung, dass allerletzten Endes die Verfolger nicht das letzte Wort haben werden. Dass Gott mit den Rattenfängern und Volksverhetzern unserer Tage noch etwas anfangen kann, dass er mit ihnen das tun kann, was er mit Paulus getan hat: Dass er sie umwirft und auf den richtigen Weg bringt und dass sie mit seiner Hilfe sogar noch oder wieder Gutes tun können, wenn sie ihre bösen Wege verlassen. So wie Gott auch mit uns und unseren verdrehten, schrägen und manchmal schlimmen Lebensgeschichten etwas anfangen kann. 

In der Josefsgeschichte sagt Josef ja zu seinen Brüdern den wichtigen Satz: „Ihr hattet Böses im Sinn, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Und das erleben wir heute. Lieber N., liebe F., es ist schlimm, dass Ihr Eure Heimat verlassen musstet. Und gleichzeitig sind wir als Gemeinde unendlich dankbar, dass Ihr hier seid und dass Ihr ein Segen seid mitten unter uns! 

Und wir sind in der Vorbereitung gedanklich noch einen Schritt weitergegangen. Und haben geahnt, dass es noch eine Hoffnung gibt, einen Trost, wenn den Bösen nicht Einhalt geboten wird. Einen Trost, der nicht einfach so auf ein Kalenderblatt gedruckt oder in einem griffigen Satz zusammengefasst werden kann. Einen Trost, der die Grenzen unseres Denkens und unseres Lebens sprengt. Einen Trost, den nicht wir denen, die um ihres Glaubens Willen verfolgt werden, zusprechen, sondern sie uns. Einen Trost, den die Kantorei uns jetzt zusingt.


Siehe Wir preisen selig, die erduldet haben. Denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben. 

Christus spricht: Ich bin bei euch, alle Tage, bis an der Welt Ende.

Wir stehen zu unserem Glauben. Wir sprechen gemeinsam das Bekenntnis, dass gefährlich sein kann. Und wir bekennen stellvertretend für die Menschen, die das nicht können:

Ich glaube an Gott, den Vater, ...
Amen.