Sonntag, 20. März 2016

Was, wenn er käme...? Predigt über Joh 12,1.9-19 (Palmsonntag)

Sechs Tage vor dem Passafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den Jesus auferweckt hatte von den Toten. Da erfuhr eine große Menge der Juden, dass er dort war, und sie kamen nicht allein um Jesu willen, sondern um auch Lazarus zu sehen, den er von den Toten erweckt hatte. Aber die Hohenpriester beschlossen, auch Lazarus zu töten; denn um seinetwillen gingen viele Juden hin und glaubten an Jesus. Als am nächsten Tag die große Menge, die aufs Fest gekommen war, hörte, dass Jesus nach Jerusalem käme,nahmen sie Palmzweige und gingen hinaus ihm entgegen und riefen: Hosianna! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn, der König von Israel! Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf, wie geschrieben steht (Sacharja 9,9): »Fürchte dich nicht, du Tochter Zion! Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Das verstanden seine Jünger zuerst nicht; doch als Jesus verherrlicht war, da dachten sie daran, dass dies von ihm geschrieben stand und man so mit ihm getan hatte. Das Volk aber, das bei ihm war, als er Lazarus aus dem Grabe rief und von den Toten auferweckte, rühmte die Tat. Darum ging ihm auch die Menge entgegen, weil sie hörte, er habe dieses Zeichen getan. Die Pharisäer aber sprachen untereinander: Ihr seht, dass ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach. 

Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie es war in Jerusalem. Eine Menschenmenge hat sich auf den Weg gemacht, um Jesus in der Stadt zu begrüßen. Ein aufgeregtes Summen liegt in der Luft. Da sind einige, die ihm schon begegnet sind. Da werden einige sein, die nur mal gucken wollen. Vielleicht erhoffen sich andere etwas für ihr ganz eigenes Leben, ein Wort, das sich wie Balsam über die Seele legt, vielleicht ein kleines Zauberkunststück oder auch ein größeres. Irgendwo am Rand steht Lazarus, der schon gestorben war. Wer Lazarus vom Tod aufwecken konnte, der schafft das vielleicht auch bei meiner Tochter, meinem Vater, meiner Frau… 

Und Lazarus war nicht der Einzige. Da war noch der Sohn des königlichen Beamten. Da war auch dieses Hochzeitsfest in Kana, gegen Abend am toten Punkt angekommen, der Wein alle, die Stimmung am Boden – und dann kam Wein in die Wasserkrüge und Leben in die Bude. 

Tote werden lebendig, Wasser wird zu Wein – die Dinge sind nicht mehr, wie sie waren. Und überall im Volk wächst die Hoffnung auf bessere Zeiten, wächst aus einem kleinen Senfkorn, durchbricht den Asphalt und die staubigen Straßen, die Wüste blüht, was längst verdorrt und tot schien, erwacht zu neuem Leben. Und alles macht sich auf zum großen Fest der Befreiung. 

Ein aufgeregtes Summen liegt in der Luft, wie vor einem Gewitter, man weiß, dass die Mächtigen der Stadt Pläne schmieden, um diesen Jesus los zu werden – wer die Augen und Ohren offen hat in Jerusalem in diesen Tagen, der weiß: Es läuft auf eine Entscheidung hinaus. Sie oder er. Und die Menge hat die Seite gewählt, hat die Entscheidung schon getroffen: Sie nehmen sich Palmzweige, im antiken Israel fast so etwas wie Nationalfahnen, sie gehen ihm entgegen, wie man einem hohen Würdenträger entgegengeht, und sie rufen „Hosianna“, wie man es einem König entgegen ruft, ihrem König, von dem sie hoffen, dass er sie befreit von römischem Militär und religiösen Eliten, dass er seinen Platz einnimmt in seinem Palast, wie im Himmel, so auf Erden. Ein starker Mann, der mit starker Hand regiert. Und die Menge jubelt und wedelt mit ihren Palmzweigen, und endlich ruft man von ganz vorn: Er kommt! Und die Menschen stellen sich vor, wie er wohl aussehen wird, ob er auf einem Pferd kommt oder sogar in einem großen Streitwagen in strahlender Rüstung. 

Jesus aber fand einen jungen Esel und ritt darauf. 



Möglich, dass hier schon die ersten ihre Palmenzweige sinken lassen, betroffen zu Boden gucken, verstört und peinlich berührt von dem seltsamen Anblick, von diesem seltsamen Menschen, der unerträglich langsam und so bestürzend unauffällig angeritten kommt. Möglich auch, dass hier die Stimmung schon zu kippen beginnt. Keine Woche später wird sich in Jerusalem wieder eine Menge zusammenrotten, wird gröhlen und schreien: Kreuzige ihn, und die Palmzweige werden zu Ruten und Peitschen. 

Es ist ja nicht das erste Mal, dass er Erwartungen an ihn enttäuscht. Da ist diese Geschichte mit der Frau, die wegen Ehebruchs verurteilt wird und gesteinigt werden soll. Und sie bringen diese Frau zu Jesus, die Pharisäer und Schriftgelehrten, und erwarten eine gelehrte rechtswissenschaftliche oder theologische Debatte. Die Schriftgelehrten hoffen, dass er sie verliert, die Jünger hoffen, dass er sie gewinnt. Und drumherum stehen die Leute, ein Teil hofft vielleicht, dass er die Frau mit großer Geste befreit, ein anderer Teil hofft vielleicht, dass endlich die Steinigung anfängt. Auf jeden Fall: Die Stimmung ist angeheizt, die Spannung fast unerträglich. 

Jesus aber bückte sich und malte mit dem Finger in den Sand. 

Nicht erst seit Palmsonntag haben aufgebrachte Volksmassen etwas Bedrohliches. Vor ein paar Wochen standen wir bei strahlendem Sonnenschein und klirrender Kälte auf dem Rathausplatz in Barmen. Auf der einen Seite stehen wir. Menschen aus Wuppertal, Jung und Alt, ein paar Pfarrerinnen und Pfarrer, Politiker, mit Fahnen und Spruchbändern, die für Demokratie und Toleranz werben. Wir haben Trillerpfeifen. Auf der anderen Seite stehen die anderen und gröhlen. ProDeutschland nennen sie sich, und stehen doch gegen alles, was Deutschland zur Heimat macht: Ein paar Lokalpolitiker, eine alte Frau im Pelzmantel, drumherum Nazis, wie man sie von früher kennt: Kahle Köpfe, Runentätowierungen auf den Fingerknöcheln, Springerstiefel, Bierdosen in der Hand. Sie schwenken Fahnen, schwarz, rot, gold. 



Mittendrin ein grobschlächtiger Glatzkopf in orangefarbenen Kapuzenpulli. Er hebt den rechten Arm zum deutschen Gruß, hält ihn oben, seine Kumpels feixen, die Polizisten stehen teilnahmslos herum. Jemand muss doch kommen und was tun! 

Und ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn er käme. In diesem Moment, auf den Rathausplatz in Barmen. Er würde sich nicht zu der gröhlenden Meute mit den Deutschlandfahnen gesellen, da bin ich mir mehr als sicher, und wenn man ihn fragte, würde er vielleicht erklären, dass er mit dem so genannten christlichen Abendland nicht das Geringste zu tun hat, und dass man sich bitte einen anderen Namen für dieses biologisch reine Alptraumland ausdenken soll. Aber wenn ich die Geschichte vom Einzug nach Jerusalem noch einmal lese, werde ich immer unsicherer, ob er sich einfach so zu uns stellen würde. Ich bin mir immer noch sehr sicher, dass wir, die Presbyterinnen und Presbyter, Pfarrerinnen und Pfarrer dieser Gemeinde, auf der richtigen Seite standen, vor einigen Wochen in Barmen, auf der einzig möglichen Seite stehen, wenn wir unsere Stimmen gegen Nationalflaggen und Hitlergrüße und fremdenfeindliche Parolen erheben. 

Wir würden ihn freundlich begrüßen, bejubeln, unsere Gewerkschafts- und Regenbogenfahnen schwenken, würden vielleicht sagen: Endlich! Aber wer weiß, ob er sich einfach so zu uns stellen würde. 

Vielleicht setzt er sich mitten auf den Platz, mitten in die Knautschzone zwischen Polizisten und Absperrgittern, holt eine Packung Kreide aus seinem Gewand und fängt an zu malen. 

Vielleicht hält er ein kleines Mädchen aus Syrien an der Hand und sagt, in keine bestimmte Richtung, aber so, dass es jeder auf dem Platz hören kann: Wer so ein Kind aufnimmt, der nimmt mich auf. 

Vielleicht dreht er sich zu uns und sagt: Steckt Eure Trillerpfeifen in die Tasche. Denn wer die Trillerpfeife zieht, der wird durch die Trillerpfeife taub werden. 

Vielleicht geht er zu dem grobschlächtigen Mann im orangefarbenen Kapuzenpulli, der immer noch die Hand zum deutschen Gruß erhoben hat, drückt seinen Arm sanft hinunter und sagt: Heute will ich in deinem Haus zu Gast sein. 

Vielleicht reitet er auf einem Eselchen oder fährt auf einem stinkig knötternden Motorroller unerträglich langsam, und wir würden unsere Fahnen und Trillerpfeifen enttäuscht sinken lassen. 

Jesus fand einen jungen Esel und ritt darauf. 

Mit keiner Silbe widerspricht er dem jubelnden Volk, das tut er nie, wenn sie von ihm als König reden. Aber er macht gleichzeitig klar: Ich bin ein anderer König als den, der Ihr Euch vorstellt. Ich lasse mich nicht einfach so von Euch auf eine Seite ziehen. Und selbst seine Jünger haben Schwierigkeiten, das zu verstehen, erst im Nachhinein, nach Ostern, lassen sie das Geschehene, und auch den Einzug nach Jerusalem, Revue passieren und verstehen. 



Liebe Gemeinde, ab heute geht es in die Karwoche, die „stille“ Woche, sagt man auf Schwedisch. Und vielleicht ist das dran: Die Palmwedel sinken lassen, und unsere Erwartungen an Jesus, an Gott, sinken lassen, nicht runterschrauben, sondern ganz bewusst beiseitelegen und sehen, was passiert. Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren. Jesus kommt, das ist so ziemlich das Einzige in dieser Predigt, dessen ich mir wirklich sicher bin. Er kommt am Ende aller Tage, um das Verlorene heimzuholen. Aber er kommt auch jetzt schon dorthin, wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind. Er kommt anders, als man denkt. Anders, als ich es mir wünsche, er tut Dinge, die wir uns nicht hätten vorstellen können. Gott sei Dank. 
Vielleicht ist das dran in dieser Karwoche. Den Palmwedel niederlegen und mit leeren Händen still werden und gucken, was kommt. Irgendwo steht Lazarus. Irgendwo auf dem Boden Spuren und Schriftzeichen im Sand. Irgendwo alte Wasserkrüge, die plötzlich voller Wein sind. 

Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sagt Jesus. Gott sei Dank.

2 Kommentare:

  1. Eine Predigt soll das Wort der Bibel auslegen und nicht Neues dazulegen. Trotzdem gefällt mir, dass Jesus in der Phantasie des Predigers den jungen Mann mit dem orangenen Kapuzenpulli nicht mit erhobenem Zeigefinger abkanzelt.

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  2. Die Predigt gefällt mir: Geschichte und Gegenwart wird miteinander verknüpft. Sie regt zum Nachdenken an. Ob sich heute die menschen von jesus noch genauso berühren ließen? Jesus war bei dem Zöllner Matthäus tatsächlich Gast. Ob der Mann im orangefarbenen Pulli wirklich Jesus mit nach Hause nähme? Ja, die grölende Menge ohne Mitgefühl und ohne Hirn haben wir in diesen Tagen oft genug erleben müssen.

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