Samstag, 30. November 2013

Nie ohne Handschuhe Tränen trocknen...


Seht auf und erhebt eure Häupter,
weil sich eure Erlösung naht.
(Lukas 21,28)


Rote Augen starren mir entgegen. Das Gesicht übersäht mit braunen Flecken, der Mund von Herpes zerfressen. Der junge Mann keucht. Zwei Krankenschwestern in voller Schutzmontur drehen ihn mit routinierten Handgriffen auf die Seite und versorgen die klaffenden Wundliegegeschwüre. Mit ihren durchsichtigen Schutzmasken sehen sie aus wie ein Minenräumkommando. Als sie den jungen Mann wieder auf den Rücken drehen, läuft ihm eine Träne aus dem Augenwinkel. Instinktiv streift die jüngere Krankenschwester ihren Handschuh ab und wischt ihm die Träne aus dem Gesicht. Ihre ältere Kollegin schreckt auf. "Hoffentlich desinfizierst du dir die Hand jetzt ordentlich", zischt sie nach dem Passieren der Luftschleuse. "Wenn du unbedingt meinst, Tränen trocknen zu müssen, zieh dir wenigstens Schutzhandschuhe an!" "Ich weiß", entgegnet ihre junge Kollegin, "aber er war doch traurig." Unbeirrt wiederholt die ältere Krankenschwester die geltenden Schutzmaßnahmen.

Unruhig blitzt der Filmtitel auf, Bilder zucken ineinander, Bilder aus dem Stockholm der Achtzigerjahre, unterlegt mit basslastig wabernden Synthesizerklängen. Eine Stimme. "Das, was in dieser Geschicht erzählt wird, ist passiert. Und es ist hier passiert, in dieser Stadt. Es war wie ein Krieg, in Friedenszeiten ausgefochten. In einer Stadt, in der die meisten mit ihrem Leben weitermachten, als ob nichts geschehen wäre, wurden junge Männer plötzlich krank. Magerten ab. Verblassten. Und starben..."

In meinem kleinen roten Häuschen im småländischen Hochland, in der Idylle eines mückenschweren Sommerabends, 300 Kilometer und 30 Jahre entfernt von der Zeit und dem Ort, an dem das böse wahre Märchen spielt, wird es kalt. Ich bin kein besonders engagierter Filmgucker, würde gern die eindrucksvolle Bildersprache filmischer Meisterwerke und die grandiose Kreativität vieler Filmschaffender besser würdigen können. Aber wenn ich abends aufs Sofa plumpse, habe ich meistens keine Geduld mehr für quälend realistisch dargestellte Abgründe menschlichen Lebens, tiefsinnig inszenierte Konflikte und anspruchsvoll verschlungene Handlungswege. Darin ähnele ich meinem Vater, der mit großer Hingabe das Traumschiff, Inga Lindström und Rosamunde Pilcher guckt. Das habe er sich verdient, sagt er, als Kriegskind habe er schließlich genug Elend im wirklichen Leben gesehen. Ausnahmesweise ist es anders. Ich ziehe mir die Bettdecke über die Schultern und rücke näher an mein Notebook. Im Laufwerk surrt die DVD, und ich starre wie verhext auf den Bildschirm.

(c) Sveriges Television

Ein strahlender Frühlingstag. Die Sonne scheint zwischen den Zweigen rosa blühender Kirschbäume hindurch. Unter den Bäumen tänzeln junge Männer, umarmen, küssen sich. Eine Traumsequenz, eine Szene aus der Vergangenheit. Die meisten sind tot. Außer Benjamin. Ihm gehört die Stimme aus dem Off. "Und so lebe ich weiter. Ich habe ein ganz gutes Leben. Ein sehr gutes Leben, aufs Ganze gesehen. Die Risse gibt es, klar. Zwischendurch droht alles zusammenzubrechen. Wenn ich an Rasmus denke und an all die anderen Freunde. Sie, die lebten und verschwanden. Ich bin irgendwie nur halb ohne sie." Für einen Moment blitzt die Silhouette eines menschlichen Körpers auf, eingepackt in einem schwarzen Plastiksack. Darauf: Ein rosafarbener Zettel. Schwarze Druckbuchstaben. Ansteckungsgefahr. Dann wieder: Die rosafarbenen Wipfel von Kirschbäumen, die in voller Blüte stehen. Synthetische Streicherklänge schwellen im Hintergrund. "Und es waren diejenigen, die am meisten liebten. Die von Liebe besessen waren. Sie holte der Frost."

Der Bildschirm ist dunkel. Draußen wird es langsam hell. Morgennebel hängt über der taunassen Wiese vor dem Haus. Die letzten Worte klingen nach. Sie holte der Frost. Vier Stunden habe ich wie gebannt vor dem Bildschirm gehangen, gelacht und geweint. Eine Szene wird mich noch tagelang verfolgen: Die Leiche eines jungen Mannes liegt auf einem Krankenhausbett. Ausgemergelt, bleich, von Krankheit gezeichnet. Routiniert verpacken Krankenhausangestellte den leblosen Körper in einem schwarzen Plastiksack, dichten alles mit einigen Rollen Gaffatape ab und befestigen den Zettel mit der Warnung vor dem Ansteckungsrisiko daran. 

(c) Sveriges Television

Theoretisch wusste ich schon vorher, dass es so war, im Schweden der Achtziger. Dass man AIDS-Tote nicht verbrannte, aus Angst, sie würden die Luft verpesten. Dass sie stattdessen im schwarzen Müllsack und in verlöteten Särgen vergraben wurden, weil man fürchtete, sie könnten das Grundwasser kontaminieren. Heute blickt man etwas verschämt auf dieses Kapitel der jüngsten Geschichte zurück. Es passt nicht zum gegenwärtig gepflegten, liberal-aufgeklärten Image des Landes, dass noch vor dreißig Jahren schwedische Politiker und Ärztinnen in Parlamentsdebatten und Zeitungsartikeln vorschlagen, flächendeckende HIV-Tests einzuführen und Infizierte wahlweise in der Achselhöhle zu tätowieren oder in ausbruchssicheren Sammelkolonien, vorzugsweise auf einer küstenfernen Insel, zu isolieren. Letzterer Vorschlag wird auch im bayerischen Kabinett unter Peter Gauweiler dankbar angenommen, ähnliche Diskussionen werden auch in Deutschland geführt, allerdings nicht in dem Maße wie in Schweden, einem ungleich kleineren Land mit einer mitunter ans Manische grenzenden Sorge um die Volksgesundheit. 

Die Kirche hat sich, wie so oft, wenn es hart auf hart kommt, nicht mit Ruhm bekleckert: Als Sighsten Herrgård, Modedesigner und der erste Prominente in Schweden, der sich öffentlich zu seiner AIDS-Erkrankung bekennt, verstärktes Engagement der Kirche fordert, erwidert Dag Sandahl, (ehemaliges) stellvertretendes Mitglied der schwedischen Kirchenleitung und selbstgefälliges Sprachrohr der lutherischen Rechten in Schweden, lakonisch, die Kirche könne ja nicht auf jeden Zug aufspringen. Überall im Land tragen Pfarrerinnen und Pfarrer ihren Teil zur Hysterie bei, sei es, indem sie laut herausposaunen, AIDS sei eine Strafe Gottes, sei es, indem sie den pseudoapokalyptischen Lügenpropheten nicht widersprechen. Oder indem sie in ihren Trauerpredigten fiktive Freundinnen erfinden und zur Spende an die Krebsstiftung aufrufen. Der Jesus der Evangelien, der Aussätzige durch handgreifliche,
Quelle: dioezese-linz.at
körperliche Zuwendung aus ihrer Isolation herausholt (Mk 1,40-45 u.ö.) taugte und taugt offensichtlich nur so lange als Vorbild, wie man die Geschichten über ihn metaphorisch verwässern und damit das Evangelium sterilisieren kann. Auch in Deutschland waren es eher Pioniergeister wie Dorothea Strauß, Gründerin von "Kirche posithiv", die den diakonischen Auftrag und die theologische Relevanz erkannten - der Leib Christi ist nie nur partiell von HIV und AIDS betroffen. Und bis heute wird die Todesursache eines bedeutenden Praktischen Theologen meist nur hinter vorgehaltener Hand beim Namen genannt und im akademischen Gedenken beschämt verschwiegen.

Vor vier Jahren kam in der ARD eine halbstündige Dokumentation mit dem reißerischen Titel Aidskrieg - dankenswerter Weise ist er in der Mediathek immer noch abrufbar. Auch da werden Eindrücke von der Zeit damals vermittelt (großartig: Rita Süssmuth!), die Reportage kommt aber nicht an die Wucht der dramatisierten und personalisierten Darstellung in dem Fernsehfilm heran, der mich im Sommer auf heilsame Weise um den Schlaf gebracht hat.

Torka aldrig tårar utan handskar. Trockne nie Tränen ohne Handschuhe. So heißt der Fernsehfilm von Simon Kaiser, der in Schweden auf DVD erhältlich ist - leider bislang ohne englische oder deutsche Untertitel. Er ist eine Adaption der gleichnamigen Bücher von D. Jonas Gardell (Eingeweihte erkennen die theologische Ehrendoktorwürde, verliehen von der Universität Lund), in denen den Autor viele eigene Lebensthemen bewegen, unter anderem das Problem der Vereinbarkeit von offen gelebter Homosexualität und einer freikirchlichen Sozialisation - in einer der bewegendsten Szenen liest Benjamin seinem sterbenden Partner Rasmus aus Offenbarung 21 vor, ein Text, der immer wieder auftaucht. Vor allem aber sind die Bücher ein Denkmal, eine Rehabilitation und ein später Ehrensalut für all die jungen Männer, die der Frost holte und die man Sondermüll verscharrte. Und eine Möglichkeit für die Angehörigen, aus dem Schatten von Scham und Trauer herauszutreten.

Die letzte, lange Woche des Kirchenjahres geht zu Ende. Hier an der schwedischen Westküste ist es dunkel, in den Fenstern gehen die Lichter an. Es wird der erste Dezember. Welt-AIDS-Tag. Und erster Advent. Seht auf und erhebt eure Häupter.



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2 Kommentare:

  1. Danke! Ich bin zutiefst bewegt!
    Kann mich jetzt gut an meine schwere Traueransprache machen. Zwar nicht AIDS sondern Krebs, aber auch viel zu jung und viel zu früh.
    Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.

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  2. BBC 4 hat die Serie letztes Jahr zum Welt-Aidstag ausgestrahlt, Titel "Don't Ever Wipe Tears Without Gloves".
    Und es gibt auch wohl eine englisch untertitelte DVD (zumindest bei A.mazon.co.uk)
    Ich lese gerade das schwedische Originalausgabe und hoffe, dass mein Schwedisch auch für die TV-Serie reicht.

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