Sonntag, 29. Mai 2016

Wenn Brüder zu Mördern werden (Kain und Abel: Gen 4,1-16; Predigtreihe Männergeschichten)


Und der Mensch erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Kain, und sie sprach: Ich habe einen [Mann] geboren mit Hilfe des HERRN. Und sie gebar wieder, Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt, und Kain wurde Ackerbauer. Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem HERRN von den Früchten des Ackers ein Opfer dar. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der HERR sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Blick senkte sich. Der HERR aber sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür, und nach dir steht ihre Begierde. Darauf redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders? Er aber sprach: Was hast du getan! Horch, das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. Und nun – verflucht bist du, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Rastlos und Heimatlos sollst du auf Erden sein. Da sprach Kain zum HERRN: Meine Strafe ist zu gross, als dass ich sie tragen könnte. Sieh, du hast mich heute vom Ackerboden vertrieben, und vor dir muss ich mich verbergen. Rastlos und heimatlos muss ich sein auf Erden, und jeder, der mich trifft, kann mich erschlagen. Der HERR aber sprach zu ihm: Fürwahr, wer immer Kain erschlägt, soll siebenfach der Rache verfallen. Und der HERR versah Kain mit einem Zeichen, damit ihn nicht erschlage, wer auf ihn träfe. So ging Kain weg vom HERRN, und er liess sich nieder im Lande Nod, östlich [jenseits] von Eden.  

Die Geschichte endet, wo sie begonnen hat, wo all unsere Geschichten beginnen und enden. Familien- und Lebensgeschichten, Liebes- und Erfolgsgeschichten, Krankheits- und Leidensgeschichten, Heimat- und Horrorgeschichten, Männer- und Märchengeschichten, sie alle spielen Jenseits von Eden. Wo die Äcker steinig, das Gelände uneben und die Wege krumm sind. Unkraut unter Weizen, Sand im Brot und Staub in den Kleidern. Jenseits von Eden bekommt eine Frau zwei Söhne. Und legt ihnen die Ungleichheit mit in die Wiege. Ist die Geburt des Ersten noch von Jubelrufen begleitet, kommt der zweite scheinbar ganz sang- und klanglos auf die Welt. Jenseits von Eden werden nicht alle Kinder gleich behandelt, so sehr wir uns das auch vornehmen. Und [Eva] gebar Kain, und sie sprach: Ich habe einen [Mann] geboren mit Hilfe des HERRN. Und sie gebar wieder, Abel, seinen Bruder. Der Name des Jüngeren ist buchstäblich Schall und Rauch, הבל bedeutet auf Hebräisch „Hauch“ oder „Nichtigkeit“, sein Name verschwindet mit seinem Träger nach dieser Geschichte aus dem Familienstammbaum und weitestgehend auch aus der Bibel. Im Namen des Älteren klingt das metallische Echo von Hammerschlägen nach, er ist zwar kein direkter Schmied, aber noch ein Schmidt oder Schmitz, ein Jedermann, der vielleicht, wie jeder Mann irgendwann im Laufe seines Lebens, zu hören bekommt: Gelobt sei, was hart macht. Wir erfahren nichts über die Kindheit dieser beiden Jenseits von Eden, wir hören direkt, was in dieser Welt auf steinernen Äckern und staubigen Straßen als das Entscheidende gilt: Abel wurde Schafhirt, und Kain wurde Ackerbauer. 

Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem HERRN von den Früchten des Ackers ein Opfer dar. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der HERR sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht.  

Generationen von Auslegern haben versucht, zu erklären, warum das so ist. Warum Abels Mühen von Erfolg gekrönt sind, Kains aber nicht. Niemand hat es bislang geschafft. Es bleibt unerklärlich, das große „Warum“ verhallt ohne Antwort. Jenseits von Eden passiert zum ersten Mal, was auch heute noch so passiert: 

Da opfert sich einer sein Leben lang für den Betrieb auf, schiebt Überstunde um Überstunde, ist geschätzter Kollege, bekommt zum Jubiläum eine goldene Uhr und Lobesreden der alten Geschäftsleitung, die ihn als die Säule des Betriebs adelt. Und dann wechselt die Geschäftsleitung, der Betrieb wird umgebaut, verjüngt, erneuert – und für die Alten ist kein Platz mehr. Auf den Mitarbeiter mit der goldenen Uhr und seine Opfer sehen die Neuen nicht. 

Da studiert einer mit Lust und Fleiß, opfert seine Freizeit, um noch ein paar Stunden in der Bibliothek zu verbringen, arbeitet nach Feierabend, um sich das Studium zu finanzieren – und dann fehlt in der Abschlussprüfung dieser eine Punkt, und alles war umsonst. Auf die Opfer der letzten Jahre sieht die Prüfungsordnung nicht. 

Da beginnen zwei ein Praktikum, unbezahlt natürlich, bringen sich ein, kochen Kaffee, bauen Möbel auf, arbeiten bis tief in die Nach an eigenen Projekten, und der eine wird übernommen, der andere nicht. Die Opfer des einen werden gesehen, die des anderen nicht, aus Gründen, die die da oben für sich behalten. 



Und Kain reagiert, verständlicher Weise, mit Wut. Ärgert sich, aber nicht über den, der sein Opfer nicht ansieht, sondern über den, der es geschafft hat, über den, der in der Nähe steht und jünger, kleiner, angreifbarer erscheint. Auch das passiert heute noch. Da wirft jemand in der Nacht zum 29. Januar in Villingen-Schwellingen eine scharfe Handgranate in eine Erstaufnahmestelle mit 170 Menschen. Da schießt jemand in Bocholt am 7. Februar aus einem fahrenden Auto auf Flüchtlinge. Da legt jemand am 6. April in Neutraubling in der Flüchtlingsunterkunft Feuer. In all diesen Fällen, bislang jedenfalls: Kein Täter. Oder auch: Täter: Kain. Ein junger Mann, der in seinem Frust über echte oder gefühlte Ungerechtigkeit Gefahr läuft, zum Brudermörder zu werden. 

Es hätte einen Ausweg gegeben. Es gibt immer einen Ausweg. Es gab ein Gesprächsangebot von ganz oben. Von dem, der ja eigentlich Schuld ist an dem, was da seinen Lauf nimmt. Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Langsam, vorsichtig, will er Kains Gesicht vom Boden heben, seinen Blick, der sich so bedrohlich verengt hat, wieder weiten. Aber Kain ist offensichtlich keiner, der so einfach über Gefühle redet, und damit dann doch wieder Jedermann – wenn man den Beziehungsratgebern und manchen Erfahrungen Glauben schenkt, sollen Männer ihre Gefühle ja eher in Taten umsetzen anstatt sie in Worte zu fassen. Für Abel endet das tödlich. Immerhin: Am Anfang reden sie ja noch, die beiden Brüder auf dem Acker, der keine gute Frucht gebracht hat. Wir wissen nicht worüber. Wir wissen nicht, ob ein Wort das andere gab und irgendwann die Worte ausgingen und die Fäuste weitermachten, oder ob Kain von Anfang an den Vorsatz hatte, seinen Bruder umzubringen. Wir kennen nur die Eskalation: Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders? 

Ich weiß nicht, wo meine alte Nachbarin aus dem dritten Stock ist, die ich seit mehreren Tagen nicht gesehen habe. Bin ich denn ihr Sohn oder Enkel, dass ich mich um sie kümmern muss? 

Ich weiß nicht, wie es weitergeht mit der Jugendlichen, die im Bus von ihren Schulkameraden runtergemacht wird. Bin ich denn Lehrer oder Sozialpädagoge, dass ausgerechnet ich da eingreifen soll, wo doch alle anderen auch nur stumm dasitzen und betreten den Blick senken? 

Ja. Ja, und abermals ja, verdammt. Du bist der Hüter deines Bruders. Ich bin der Enkel der alten Frau, wenn sie sonst keinen hat. Wir sind erziehungsberechtigt und aufsichtsverpflichtet, wenn vor unseren Augen das Böse Überhand nimmt. 

So klar und einfach es ist, als Zuschauer die richtige Antwort zu formulieren, so rätselhaft und ungreifbar bleibt Gott in dieser Geschichte. Wenn er doch schon vorher da ist, und wenn er direkt hinterher zeigt, dass er das gesehen hat, was kein anderer sehen sollte – wo war er dann dazwischen, als es passiert ist? Warum ist Gott Kain nicht in den Arm gefallen, warum fällt Gott keinem in den Arm, der heute noch Brüder und Schwestern ermordet und die Erde vergiftet? 

Vielleicht stirbt auf dem einsamen Acker Jenseits von Eden nicht nur Abel. Sondern auch das Bild von Gott als einem, der da eingreift, wo wir das für nötig halten. Gott lässt sich nicht von uns zum Weltpolizisten machen, auch dort nicht, wo die Täterschaft geklärt ist. 

Verflucht bist du, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Rastlos und Heimatlos sollst du auf Erden sein. 

Gott sagt nicht: „Ich verfluche dich“, auch wenn wieder Generationen von Auslegern das so gelesen haben, auch, wenn es doch nahe liegt, das so zu lesen. Aber das ist Kains Blick auf die Geschichte, er spricht erst von einer Strafe. Wer vom Zuschauerrang aus hier eine Strafe Gottes erkennt oder lautstark einfordert, zeigt doch nur, wie viel Kain in ihm steckt, wie schnell auch wir die Hand oder das Wort zum Brudermord erheben. Bin ich denn meines Bruders Kains Hüter? 

Was Gott beschreibt, ist die Fluch der bösen Tat. Der Ackerboden, dessen Nähe Kain nicht mehr ertragen kann, der ständige Blick nach hinten über die Schulter, ob die Schuld ihn nicht doch einholt. Aber Gott schützt den Täter. Nicht vor den Folgen seines Tuns. Aber er schützt ihn davor, Freiwild für alle zu sein, die meinen, das Recht in die eigenen Hände nehmen zu können. Und so schützt er andere davor, ihrerseits zum Brüdermörder zu werden und den Teufelskreis der Gewalt immer weiter zu ziehen. Aug um Auge, Zahn um Zahn – und nicht mehr. Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dem halte auch die Rechte hin. 

So ging Kain weg vom HERRN, und er liess sich nieder im Lande Nod, östlich [jenseits] von Eden. 

Die Geschichte endet vermeintlich dort, wo sie angefangen hat: Jenseits von Eden. Aber für Kain ist es ein Neuanfang, diese Möglichkeit bekommt er. Sich noch einmal neu zu erfinden, jemand anderes zu sein. Die Geschichte geht weiter: Und Kain erkannte seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Henoch. Er wird einen Sohn bekommen, und eine Stadt bauen. Und dort nehmen weitere Konfliktgeschichten zwischen Brüdern ihren Lauf: Abraham und Lot, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder. Geschichten, die meist nur deshalb nicht bis ins Letzte eskalieren, weil die Brüder sich trennen und in räumlicher Entfernung voneinander wieder lernen, den Blick zu heben und einander neu ins Gesicht zu sehen. Auch das geht Jenseits von Eden. Wo Männer, und nicht nur sie, Gefahr laufen, sich zu sehr über ihren Beruf zu identifizieren, ihren Frust am Falschen auszulassen, zum Opfer ihrer Gefühle zu werden, ihre Verantwortung nicht zu sehen und auf die eine oder andere Art zum Brudermörder zu werden. Jenseits von Eden ist ein gefährlicher Ort. Aber auch hier gibt es geschenkte Neuanfänge, auch hier gibt es Notausstiege, gibt es die Stimme, die mich fragt: Warum bist du zornig? Warum senkst du deinen Blick? Wo ist dein Bruder?

3 Kommentare:

  1. Sehr gute Predigt, spricht mich an, trifft den Punkt.

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    1. Danke :-)
      Ich frage mich gerade, ob Du als Mann bei "Männerpredigten" eigentlich bevorzugte Zielgruppe oder eher potenzielles Predigtbeispiel bist?

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    2. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Frage verstanden habe.

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