Zwischen
digitaler Revolution
und
administrativer Wende
Der
Protestantismus der Jahre 2017 bis 2045
[…]
Stefan Große-Gschaftlhubers
Stegreifrede und die administrative Wende
Ein Meilenstein
in der weiteren Entwicklung des landeskirchlich verfassten Protestantismus war
die Einrichtung des Evangelischen Zentralinstituts für theologische
Verwaltungsfragen, mit dessen Leitung Oberkirchenrat Stefan Große-Gschaftlhuber
betraut wurde. Große-Gschaftlhuber selbst hatte die Gründung angeregt: In
seiner Stegreifrede auf dem Stuttgarter Kirchentag, deren Eingangsfeststellung
„Wir können als Menschen Verwaltung nicht verstehen, wir dürfen als Theologen
mit Verwaltung leben“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist, erläuterte Große-Gschaftlhuber
anhand u. a. der Tora-Übergabegeschichten des Alten Testaments und des Augustinischen
Volkszensus im Prolog der Weihnachtsgeschichte Lk 2, in welchem Maße die
Heilsgeschichte seit jeher von höchstinstanzlichen Verwaltungsentscheidungen
abhängig gewesen sei. Zahlreiche neutestamentliche Figuren, wie der Apostel
Paulus, die sprichwörtlichen Zöllner oder der äthiopische Hofbeamte galten Große-Gschaftlhuber
als exemplarische Vertreter des antiken Beamtentums, die selbstverständliche
Gesprächs- und Kooperationspartner, ja bedeutende Trägerkreise des
Urchristentums darstellten. In den Verwaltungsentscheidungen und –strukturen
der Kirche sah Große-Gschaftlhuber demnach nicht nur die Verwirklichung der
neutestamentlichen Forderung nach „guter
Haushalterschaft“, sondern auch, unter Rekurs auf den priesterschriftlichen
Schöpfungsbericht und 1Kor 14,33 („Gott ist kein Gott der Unordnung“), das auch
in der Confessio Augustana aufgenommen wird, eine imitatio des ordnenden
Schöpfungshandelns Gottes, mithin ein Instrument der creatio continua. Die Aussage, dass den Texten und
Strukturen kirchlicher Verwaltung damit neben der Bibel Offenbarungscharakter
zukäme, findet sich expressis verbis in Große-Gschaftlhubers Stegreifrede noch
nicht, wird jedoch, u. a. in seiner Forderung nach einer „kultürlichen“,
„bürokratischen“ oder „administrativen Theologie“, hier schon vorweggenommen
und in der EKD-Denkschrift „Die gute Haushalterschaft – Das Verhältnis von
Theologie und Verwaltung“ von 2019 entfaltet.
Der
evangelisch-theologische Fakultätentag machte sich die Denk- und
Programmschrift im Folgejahr zu eigen und leitete damit die sog. administrative
Wende im engeren Sinne ein, einen erstaunlich kurzfristigen Prozess der
Umgestaltung akademischer Theologie durch eine Neuausrichtung universitärer
Lehre und Forschung auf die wesentlichen Kerngedanken der bürokratischen
Theologie, deren Eckpunkte hier nur kurz umrissen seien: An den verbliebenen
drei evangelisch-theologischen Fakultäten in Berlin, Marburg und München wurden
die Lehrstühle Altes und Neues Testament zu einem biblisch-exegetischen
Lehrstuhl zusammengefasst. Diesem wurde der Fachbereich Kirchenrecht und
theologische Verwaltungswissenschaft als weiterer exegetischer Lehrstuhl
zur Seite gestellt, der sich mit der Erforschung und Auslegung kirchlicher
Rechts- und Verwaltungsordnungen beschäftigte. Auch die anderen Lehrstühle
erfuhren eine inhaltliche Neuausrichtung: In der Kirchengeschichte äußerte sich
dies in einer Abkehr von sozial- und mentalitätsgeschichtlichen
Forschungsansätzen zugunsten einer stärker organisationsgeschichtlich
orientierten Perspektive. Die Systematische Theologie wurde der Praktischen
Theologie untergeordnet. Diese wandte sich sich, unter Rekurs auf das
Schleiermachersche Diktum, Praktische Theologie sei die Theorie der
Kirchenleitung, in den Folgejahren zunehmend von Homiletik und Poimenik ab und
dem Bereich Kybernetik/ Oikodomenik/Kirchenleitung zu. Seitens der
Kirche wurde gerade letztgenannte Entwicklung ausdrücklich als
berufsvorbereitende Maßnahme begrüßt, nicht zuletzt, da mehrere Befragungen von
Pfarrerinnen und Pfarrern auf landeskirchlicher und EKD-weiter Ebene ergaben,
dass ein Großteil pfarramtlicher Tätigkeit auf Verwaltungsaufgaben entfiel.
Auch im interdisziplinären Wissenschaftsdialog schlug sich diese Änderung
nieder: Waren bislang, je nach fachlicher Ausrichtung, nach der empirischen und
der ästhetischen Wende vor allem Human- und Kulturwissenschaften bevorzugte
Gesprächspartner der akademischen Theologie, wandte man sich nun verstärkt und
mit einiger Leidenschaft den Verwaltungswissenschaften zu. Institutionalisiert
wurde dieser Austausch im Verein für die Theologie der Verwaltung, der am
Reformationstag 2023 mit einem Festakt im Berliner Dom im Beisein von
Bundeskanzler Bernd Lucke und Bundespräsidentin Katarina Oertel von der
Regierungspartei AfDeGiDa sowie des EKD-Ehrenratsvorsitzenden Rupert Murdoch gegründet wurde. Ab 2025 wurde die Mitgliedschaft in besagtem Verein die
Voraussetzung für Erhalt und Beibehalt der Ordinationsrechte, sodass ab
spätestens 2026 alle ca. 300 Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland sowie die
überaus zahlreicheren ehrenamtlichen Predigerinnen und Prediger entscheidend
von den theologischen Schwerpunktsetzungen geprägt wurden.
Auch die
kirchliche Praxis erfuhr eine entscheidende Umgestaltung: In der ab 2030
EKD-weit gültigen Agende Neues Evangelisches Gottesdienstbuch wurde das
System der gottesdienstlichen Lesungen nachdrücklich verändert: Die biblischen
Lesungen wurden von bislang zwei, mancherorts drei auf eine reduziert, die
neugestaltete Perikopenordnung legte einen deutlichen Schwerpunkt auf die
biblischen Kernstellen administrativer Theologie, dazu gehörten vor allem die
Gesetzestexte und Listen des Pentateuch sowie die Pastoralbriefe. An die Stelle
des bis dato üblichen apostolischen Glaubensbekenntnisses trat die Lesung aus
kirchen- und verwaltungsrechtlichen Kerntexten, vorzugsweise der Kirchenordnung
und des Lebensordnungsgesetzes, zu deren Auswendiglernen im
Konfirmandenunterricht nachdrücklich ermutigt wurde und die auch Eingang in den
Bekenntnis- und Gebetsteil des zeitgleich mit der Agende eingeführten Neuen
Gesangbuchs fanden.
Die wenigen
verbliebenen evangelischen Akademien wurden zu administrativen Lernzentren, in
denen die ganzheitliche Beschäftigung mit dem Kirchenrecht im Vordergrund
stand; als Beispiel sei hier nur die
Bürokratodrama-Bewegung genannt, deren Anliegen und Geschichte andernorts
ausführlich beschrieben worden sind.
Auch der
interkonfessionelle und interreligiöse Dialog erfuhr in den 2020er- und
-30erjahren einen Aufschwung, da man sich nun, vom historischen Ballast schwer
vermittelbarer theologischer Glasperlenspiele befreit, v. a. um organisatorische
Fragen kümmern konnte; der ÖRK (ursprünglich Ökumenischer Rat der Kirchen,
ab 2021 Ökonomischer Rat der Kirchen) sprach auf seiner Vollversammlung
in Rheda-Wiedenbrück 2028 in Anlehnung an die safe-space-Forschung von
„theologiebefreiten Zonen“, die EKD nannte sich, in bewusstem semantischen
Rekurs auf ein eigentlich obsolet gewordenes Konzept aus dem Jahr 2006 „Kirche
der Freiheit von Theologie“.
Blütezeit
des Protestantismus 2020-240
Insgesamt kann
die Zeit zwischen 2020 und 2040 als ausgesprochene Blütezeit des
landeskirchlichen Protestantismus bezeichnet werden, die durch einen
sprunghaften Anstieg kirchlicher Finanzmittel und eine Trendwende im seit dem
19. Jahrhundert zu beobachtenden Mitgliederschwund geprägt war. Über die
Ursachen dieser Entwicklung ist viel spekuliert worden, im Folgenden seien nur
diejenigen Erklärungsansätze skizziert, die als allgemein konsensfähig gelten
können:
Die
Konsolidierung und Maximierung kirchlicher Finanzen seit 2020 ist nicht
unabhängig von volkswirtschaftlichen Faktoren zu betrachten, sie steht im
Kontext eines beispiellosen Aufschwungs der Bundesrepublik, der vor allem mit
der Bewältigung der sog. Eurokrise zu tun hat, in deren Folge noch unter
Reichskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsidentin Helene Fischer nach
Staatsbankrott und Versteigerung die ökonomisch instabilen Euroländer Spanien,
Italien, Frankreich und Griechenland de facto zu deutschen Vasallenstaaten
wurden und der Bundesrepublik Einnahmen aus den bislang eher wenig bedeutsamen
Wirtschaftszweigen des Tourismus und der Olivenölindustrie ermöglichten.
Speziell für
die kirchlichen Finanzen waren zwei innerkirchliche Vorgänge entscheidend,
deren Anfänge auf das Reformationsjubiläumsjahr 2017 zu datieren sind: Als
Schlussakkord des sog. Haushaltskonsolidierungsprozesses entschied die
rheinische Landessynode im Januar, sämtliche Kirchensteuermittel auf die
landeskirchliche Ebene zu übertragen und damit, so der Wortlaut der in Folge
nur noch als Rheinischer Synodalbeschluss bezeichneten Erklärung,
„die
finanziellen Mittel in die Hände derer zu geben, die über den Kirchturm hinaus
blicken und es in guter Haushalterschaft [sic!] zum Segen der Menschen und zur
Optimierung kirchlicher Arbeitsfelder einzubringen und zu mehren vermögen.“
Die
Beschlussvorlage der rheinischen Kirchenleitung, die sich in Folge des
Synodalbeschlusses dafür selbst mit dem Peter-Beier-Preis, der
Karl-Barth-Medaille und dem Dorothee-Sölle-Pokal für theologische Innovation
auszeichnete, wurde 2020 von der EKD übernommen und das gesamtdeutsche Kirchensteuereinkommen
dem Hannoverschen Kirchenamt unterstellt. Die kirchenrechtliche Voraussetzung
dafür war bereits 2014 mit der Entscheidung der EKD-Synode erfolgt, die EKD sei
als Gemeinschaft von Gliedkirchen selbst Kirche.
Ein zweiter
Faktor für die Maximierung der kirchlichen Finanzmittel war die
Wiedereinführung des Ablasswesens. In ihrem Hauptvortrag auf den Wittenberger
Lutherfestspielen 2017 erklärte der Münchner Kirchengeschichtler Günther Lauch,
Luthers Kritik am Ablasshandel müsse als zeitgebundene Aussage verstanden
werden und dürfe, ähnlich wie die späten Judenschriften des Reformators, weder
als Zentrum seiner Theologie gelten, noch dürfe sie als für die Kirche der
Gegenwart in irgendeiner Weise bindend verstanden werden. Ein daraufhin vom
Kirchenamt der EKD in Auftrag gegebenes theologisches Gutachten schloss sich
dieser Sichtweise weitestgehend an und betonte die seelsorgliche Komponente
einer Heils- und Segensgewissheit:
„Die Gnade
Gottes bleibt frei und souverän – und damit auch im Kern unverkäuflich. Dies
ist im Blick zu behalten und in Verkündigung und Seelsorge zu betonen. Eine
fakultative Verknüpfung des segnenden oder lösenden Zuspruchs mit einer
einmaligen Geldspende steht dem nicht zwangsläufig entgegen; […] vielmehr ist
davon auszugehen, dass in einer Zeit der Ökonomisierung alle Lebensbereiche
einerseits und des Verlustes religiöser Sprachfähigkeit andererseits das
Überreichen von Geld für den oder die Zahlende eine wichtige Rolle bei der symbolischen
Aneignung des zugesprochenen Gutes spielt.“
Die durch
eine aufwändige, multimediale Kampagne unter dem Motto „…wissen, was man
hat!“ begleitete Wiedereinführung des Ablasshandels am 31. Oktober 2018, die von
kirchlicher und weltlicher Öffentlichkeit allgemein als „Ereignis von
historischer Tragweite“ bezeichnet wurde, erwies sich als unerwartet reich
sprudelnde Einnahmequelle; im Jahr nach ihrer Einführung entsprach der Erlös
aus dem Ablassverkauf 52% des Kirchensteueraufkommens, nach fünf Jahren 93%.
Zehn Jahre nach Wiedereinführung überstieg der Erlös aus dem Ablasshandel das
reale Kirchensteueraufkommen um 15% und machte die Kirche weitgehend unabhängig
von der Kirchensteuer, deren Berechtigung seit der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts immer wieder in Frage gestellt worden war, jedoch erst endgültig
im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Neuordnung Deutschlands und Europas nach
dem Ende des Dritten Weltkriegs 2068 abgeschafft wurde.
Die
Umkehr des seit Ende des 19. Jahrhunderts stetig sich verstärkenden
Mitgliederschwundes der Großkirchen wird u. a. an einer mentalen Disposition v.
a. der Mittelschicht im Westeuropa festgemacht: Ermüdet von Traditionserosion
und ständigem Metadiskurs in der ausklingenden Postmodernen, nahmen viele
Menschen die administrative Wende in Kirche und Theologie und das damit
verbundene Bekenntnis zu Planbarkeit und Kontinuität zum Anlass, sich der
Kirche erneut und/oder intensiviert zuzuwenden.
Als
ein weiterer Grund wird gelegentlich die digitale Revolution angeführt,
d. h. das Eindringen moderner Telekommunikations- und Informationstechnologie
in alle Lebensbereiche, die einen Höhepunkt bei den Europawahlen 2020
erreichte, als Facebook mit absoluter Mehrheit als stärkste Partei ins
Europaparlament einzog und in den Folgejahren die Tilgung sämtlicher
Integritätsbestimmungen und Datenschutzrichtlinien aus dem Verfassungen der
EU-Mitgliedsstaaten durchsetzte. Auf Basis zeitgenössischer Quellen sowie
Ergebnissen der Computerarchäologie ist herausgearbeitet worden, dass im frühen
21. Jahrhundert Kirchen und Gemeindehäuser neben U-Bahn-Schächten die einzigen
Orte Mitteleuropas ohne zuverlässige Internetverbindung und/oder
WLAN-Netzabdeckung waren und Bürgerinnen und Bürgern damit rein physische
Freistätten in einer ansonsten zunehmend virtualisierten Welt boten. Die Rede
vom „digitalen Kirchenasyl“ ist indes erst in der kirchengeschichtlichen
Erforschung besagter Epoche, nicht jedoch in zeitgenössischen Quellen belegt.
Ein grundlegender Dissens bestimmt die kirchengeschichtliche Erforschung der genannten Epoche vor allem im Blick auf die Frage nach der Legitimation ökonomischer Konsolidierung auf Kosten der theologischen Inhalte. Stand die Kirchengeschichtsforschung lange Zeit unter dem Eindruck der Zeugnisse, die aus den Reihen der Gegner der oben skizzierten Reformen überliefert sind, hat die neuere Forschung herausgearbeitet, wie sehr diese Quellen eher eine stereotype Verfallsmetaphorik abbilden, anstatt eine fachlich fundierte Situationsanalyse zu liefern. Unbeantwortet bleibt jedoch bis heute die rhetorische Frage in der Autobiografie eines rheinischen Pfarrers:
"Wir fragen uns bis heute, ob und wie wir diese Entwicklung hätten stoppen müssen, sollen oder können."
"Wir fragen uns bis heute, ob und wie wir diese Entwicklung hätten stoppen müssen, sollen oder können."
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