Ich mag Abendgottesdienste. Vor allem, weil ich, glaube ich, eher Nachteule als Morgenmensch bin. Aber auch das ganze andere. Das Licht, das anders ist, die Kerzen, die umso heller leuchten. Das gute Gefühl, wirklich Feierabend zu haben, wenn ich die Kirche verlasse. Mit einem Segen in die Nacht zu gehen. Die selten gesungenen Abendlieder, die so viel lebensweiser und so viel poetischer als das (für mich immer halb gelogene) "All Morgen ist ganz frisch und neu" über das Leben mit einem mutmaßlich bewohnten Himmel überm Kopf singen.
In der evangelischen Landeskirche sind Abendgottesdienste selten. Unter der Woche findet abends trotzdem ein Großteil des kirchlichen Lebens statt: Gruppen und Kreise, aber vor allem auch Gremienarbeit. Was nicht weiter verwundert, da in den Sitzungen überwiegend ehrenamtlich Engagierte sitzen, die hier ihren Feierabend verbringen.
Letztens bin ich auf die Forschungen der US-amerikanischen Anthropologin Polly W. Wiessner gestoßen. Die hat längere Zeit bei den Ju|'hoansi gelebt, einem indigenen Volk in der Kalahari-Wüste. Sie hat dort die Kommunikationsgewohnheiten untersucht und in einem sehr aufschlussreichen Aufsatz folgendes Ergebnis über den Unterschied der Gespräche am Tag und bei Nacht am Lagerfeuer festgehalten (wer nicht so viel Zeit hat, kann sich auch einen kürzeren Artikel zu Gemüte führen, aus dem das folgende Zitat stammt):
Tagsüber drehen sich die Gespräche vor allem um ökonomische Aktivitäten - Arbeit, Essensbeschaffung, Austausch über Ressourcen. [...] Es hat viel mit sozialen Themen und mit Kontrolle zu tun: Kritik, Beschwerden und Nörgelei. Abends und nachts lassen die Menschen los, werden lockerer und suchen Unterhaltung. Wenn es tagsüber Konflikte gegeben hat, lassen sie diese hinter sich und kommen wieder zusammen. Abendliche Gespräche haben mehr mit Geschichten zu tun, mit der Unterhaltung über die Charaktereigenschaften Dritter, die aber zum weiteren Netzwerk gehören, und mit dem Nachdenken über die Welt der Geister und wie diese die Menschenwelt beeinflussen. Es gibt auch Singen und Tanzen, was innerhalb einer Gruppe verbindet.
Wiessner bestätigt damit die umfangreiche Forschung vor ihr, die die Bedeutung der Kontrolle über das Feuer für die menschliche Entwicklung insbesondere im Blick auf sozial wirksame Narrative herausgestellt hat. Es scheint kein weiter Weg, von dort aus auf die Traditionsprozesse der biblischen Bücher zu schließen, deren Sitz im Leben ja zumal in früher Zeit das nomadische Lagerfeuer war. Wiessners Untersuchung macht deutlich, dass es hierbei nicht nur um bloße Unterhaltung und Wissensweitergabe, sondern auch um die Konstruktion sozialer und spiritueller Identitäten geht. Die Theologie weiß das schon länger, bei der Kirche bin ich mir nicht so sicher.
Immerhin, eins haben wir behalten: Kerzen. Wiessner misst dem Feuer in der Nacht nicht nur als Schauplatz sozialer Interaktion, sondern auch als Medium große Bedeutung bei:
Ausreichend heller Feuerschein unterdrückt die Melatoninproduktion und sorgt für Energie zu einer Tageszeit, zu der wenig wirtschaftlich produktive Arbeit geleistet werden kann, dabei gibt es genug Zeit. In der heißen Jahreszeit hilft die Kühle des Abends, aufgestaute Energie zu entladen, in der kalten Jahreszeit rücken die Leute zusammen. Die Gemeinschaft am Feuer setzt sich oft, wenn auch nicht immer, aus Menschen verschiedener Altersstufen und Geschlechter zusammen. Mond und Sterne wecken Imaginationen des Übernatürlichen ebenso wie ein Gefühl der Verwundbarkeit gegenüber bösen Geistern, Raubtieren und Feinden, denen man die Gemeinschaft entgegenhält. Körpersprache wird im Feuerschein weniger deutlich, das Bewusstsein für sich selbst und andere ist geringer. [...] Die Themen des Tages werden fallen gelassen, während kleine Kinder im Schoß von Verwandten einschlafen. [...] Die Sehnsucht nach dem Feuer als Schauplatz sozialer Vertrautheit und Offenheit im Gespräch bleibt in hohem Maße ein Bestandteil modernen Lebens und ein potenzielles Forschungsfeld. Obwohl Gespräche am Lagerfeuer in unserem täglichen Leben selten sind, bleiben sie ein geschätzter Bestandteil von Pfadfinderausflügen, Picknicks, Outdoor-Trips und ökotouristischen Unternehmungen, die auf soziale Intimität und das Teilen von Wissen zielen. Die Macht der Flamme wird in unseren Häusern durch Kamine und Kerzen reproduziert. Der dänische Geist des "hygge" (Gemütlichkeit in Gemeinschaft) ist vom planvollen Platzieren von Kerzen, "lebenden Lichtern" gekennzeichnet, um vertrauliche Gespräche zu ermöglichen.
Schon hier könnte man pausieren und darüber nachdenken, wo solche Erfahrungen im kirchlichen Leben jenseits von Konfifreizeiten ihren Sitz im Leben haben könnten. Wiessner geht aber noch einen Schritt weiter und wirft Fragen auf, die sich an der Möglichkeit der Tagesverlängerung durch elektrisches Licht entzünden - damit ist sie keineswegs allein, zahlreiche Vertreter religiöser und säkularer Spiritualitätsansätze thematisieren das in schöner Regelmäßigkeit:
Wie Jäger und Sammler wächst unsere Vorstellungskraft, gewinnen neue Perspektiven und erweitert sich unsere Horizont anhand von Geschichten. Nichtsdestotrotz dringen künstliches Licht und digitale Kommunikation weltweit in die Nacht ein, verwandeln Stunden der Dunkelheit in ökonomisch produktive Zeit und überlagern so die Zeit für Geselligkeit und Geschichten. Der Tag endet auf Knopfdruck, ohne dass man sich die Zeit nimmt, Beziehungen zu pflegen, zu entdecken, zu reflektieren oder zu heilen, oder die Themen des Tages mit der Kohle verglühen zu lassen.
Wiessners Gedanken beschäftigen mich schon eine ganze Weile, weil in der von ihr untersuchten Gemeinschaft am Lagerfeuer Dinge aufscheinen, die mir (und, wenn ich meinen Gemeindegliedern glauben kann, anderen auch) im kirchlichen Alltag fehlen: Das scheinbar ziel- und zwecklose Beisammensitzen, das Teilen von Geschichten und Erfahrungen, das gemeinsame Erleben des Ausgesetztseins und gleichzeitigen Gehaltenseins unter freiem Himmel. Mit Abendgottesdiensten allein ist das sicherlich nicht zu ersetzen, und natürlich lassen sich nicht alle Sitzungen am Abend einfach so abschaffen. Immerhin: In unserem Presbyterium (und in anderen auch) gibt es den klugen Grundsatz, dass nach 22 Uhr keine Beschlüsse mehr gefasst werden. Vielleicht lassen sich durch kleine Akzentverschiebungen bereits Dinge wiedergewinnen, die im Alltag leicht verloren gehen. Zum Beispiel dadurch, dass die unvermeidliche Andacht nicht zu Beginn, sondern am Ende einer Sitzung gehalten wird. Die wird nicht mehr nach dem Muster einer Mini-Predigt zur Tageslosung oder zu einem bestimmten Thema funktionieren, sondern wahrscheinlich zur Entwicklung oder Wiederentdeckung eigener Formen führen, die stärker auf Gemeinschaft, stärker auf Spüren, Erleben und Teilen abzielen.
Bewahre uns, o Herr, wenn wir wachen,
behüte uns, wenn wir schlafen,
auf dass wir wachen mit Christus
und ruhen in Dir.
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