Montag, 4. September 2017

Zukunftsgraffitti - Predigt über Jes 29,17-24

Nach urlaubs- und vor allem doktorarbeitsbedingter Pause endlich wieder ein bisschen Text. Die Predigt war für die Kanzel etwas gekürzt, hier gibt es die Langversion.

Es geht in die Vergangenheit, ein paar tausend Jahre zurück nach Jerusalem. Auf dem Marktplatz herrscht emsige Betriebsamkeit. Der neue Tempel erstrahlt in nie zuvor gesehenem Glanz, die Stadt ist wieder aufgebaut, unter viel Schweiß und Tränen. Aber die Erinnerung an das Exil wenige Generationen zuvor sitzt tief. Mit den Persern hat man sich irgendwie arrangiert, aber aus der eigenen Geschichte weiß jedes Kind, dass jeder Zeit ein neues Reich aus den Trümmern auferstehen und das kleine Volk Israel mühelos wie die Katze die Maus fangen kann. Noch schreckt man bei jedem lauten Geräusch auf, aber die Arbeit macht sich schließlich nicht von allein. Und so gehen sie ihrer Arbeit nach, die Handwerker bringen ihre Waren zum Markt, ein paar Gelehrte sind in tiefsinnigen Diskussionen versunken und einige Kinder spielen im Sand. Am Rand stehen die Bettler, die Blinden und Lahmen. 



Plötzlich betritt ein Mann die Szene. Ein paar Kinder fangen an zu kichern, ein paar Erwachsene blicken betreten zu Boden, ein paar Jugendliche feixen und sind gespannt, welche Show ihnen der Mann heute bieten wird. Er ist ein Prophet. In der Sprache der meisten Leute ist das ein nur wenig netteres Wort für „Störenfried" oder schlichtweg „Spinner". Den Propheten interessiert das wenig. Er stellt sich in die Mitte des Platzes - und beginnt zu malen. In großen Gesten schwingt er den Pinsel, und bald werden Einzelheiten erkennbar. An einer Stelle entsteht eine Landschaft: Ein zerklüftetes Hochbebirge, von gelbbraunen Steppen gesäumt, zwischen den schneebedeckten Gipfeln hindurch sieht man das Mittelmeer. „Das ist der Libanon", ruft einer aus der Menge, die Umstehenden nicken anerkennend. Das Nachbarland im Norden ist gut erkennbar, gerade zeichnet der Maler mit einem feinen Haarpinsel ein paar Risse in den staubtrockenen Boden. Er tritt einen Schritt zurück, betrachtet sein Werk, nickt, dann taucht er plötzlich den Pinsel in sattes Grün und macht sich noch einmal an der Landschaft zu schaffen. Ein paar schnelle Bewegungen, ein paar Tupfer hier, ein paar Striche da - ein Raunen geht durch die Menge, als der Maler den Blick auf sein Bild wieder freigibt. Der staubige Wüstenboden, die verschneiten Berggipfel - alles ist über und über mit leuchtend grünen Bäumen bedeckt. „Aber im Libanon wachsen doch gar keine Bäume", ruft ein Kind, die Menge raunt zustimmend. Einige schnauben verächtlich, machen eine wegwerfende Handbewegung und gehen wieder an die Arbeit. 

Den Maler interessiert das alles nicht, er schwingt den Pinsel weiter. Immer bunter wird das Bild, immer wilder und detailreicher: Ein dunkelgrüner Wald, dessen Wipfel im Wind zu flüstern scheinen, wo heute noch große graue Steine im brennenden Sonnenlicht schweigen. „Was soll das, das ist doch gar nicht echt", ruft ein Mann. „Wir haben wichtigeres zu tun, als uns irgendwelche Fantasiebilder anzugucken", ruft ein zweiter. „Meine Kinder glauben jetzt, der Libanon wäre ein riesiger Baumgarten, was soll das, denen solche Flausen in den Kopf zu setzen?!" schimpft eine Mutter und zieht ihre quengelnden Kinder mit sich. Immer mehr Leute wenden sich ab, nehmen ihre Werkzeuge wieder in die Hand und machen sich kopfschüttelnd wieder an die Arbeit. Die macht sich schließlich nicht von selbst, und bevor man sich Sorgen um irgendwelche Bepflanzungen im Libanon macht, hat man vor der eigenen Haustür noch genug zu tun. 

Die Übriggebliebenen rücken etwas näher, langsam werden Details sichtbar. Eine Szene am rechten Bildrand: Da sitzen Menschen im Tempel um einen Mann herum, der aus einer Buchrolle vorliest. Wenn man ganz nah herangeht, kann man sogar die Schrift auf der Buchrolle entziffern: Ich bin der Herr, Dein Gott, der Dich aus der Knechtschaft in Ägyptenland befreit hat... Der Anfang der Geschichte ihres Volkes. Ein paar aus der Menge seufzen, als sie leise die alten Worte vor sich hin sprechen. Eine schöne, eine aufregende, eine feierliche Geschichte. Auf dem Bild scheinen die Figuren an den Lippen des Vorlesers zu hängen. Mit großen Augen und gespitzten Ohren sitzen sie nach vorn gebeugt... Plötzlich geht ein empörter Aufschrei durch die Menge der Bildbetrachter. Eine junge Frau zeigt aufgeregt auf das Bild. „Den kenne ich", ruft sie. „Es ist der alte Jizchak, der Blinde, der immer am Stadtrand sitzt!" Diejenigen, die nahe genug dran sind, kneifen die Augen zusammen - und in der Tat, Einer der Menschen auf dem Bild trägt unverkennbar die Gesichtszüge des stadtbekannten Blinden - nur seine Augen sind offen und klar. „Hier sind noch mehr", ruft die Frau anklagend, und tatsächlich, in der Gruppe der Lesenden und Hörenden erkennen sie noch andere Blinde und Taube aus ihrer Stadt. Immer wieder werden Namen gerufen, doch diese gehen im wütenden Gemurmel der Volksmenge unter. „Was für ein Unsinn", ereifert sich ein reicher Handwerker. „Da lesen und hören Leute, die blind und taub sind. Das können die gar nicht, und in unserer Stadt geht es ihnen doch gut damit!“ „Und überhaupt - anstandslos ist das", schimpft eine ältere Schneiderin, „diese armen Leute mit ihrem Leiden in die Öffentlichkeit zu stellen!" Die Umstehenden nicken. Einer der Gelehrten der Stadt, ein Schreiber, schüttelt sorgenvoll den Kopf. „Das stimmt auch sachlich nicht", bemerkt er, „Taube und Blinde und Lahme dürfen nach dem Gesetz gar nicht in den Tempel." Plötzlich fasst ihn einer am Arm. „Hey, guck mal, Du sitzt auch mit den Tauben und Blinden da im Kreis!" Ungläubig geht der Gelehrte näher an das Bild- und tatsächlich, er erkennt seine eigenen Gesichtszüge auf dem Bild. „Frechheit", faucht er, steckt die Hände in die Taschen und eilt davon. 

„Liebe Leute", sagt ein anderer Gelehrter versöhnlich, „lasst den armen Maler doch in Ruhe. Es ist doch ein schönes Bild, und gerade die kleinen Leute, unsere armen und kranken Brüder und Schwestern, brauchen solche Bilder vom Himmel, in denen es ihnen besser geht." Er zeigt auf eine Stelle des Bildes, auf der die Armen der Stadt jubeln und ihre Hände zum Himmel erheben. Die Menge nickt zustimmend. Ein junger Mann legt die Stirn in Falten, schließlich fragt er: „Aber wenn das der Himmel sein soll - warum sind denn da keine Wolken auf dem Bild? Und keine Engel? Das sieht doch alles nach der Erde aus. Nur halt - anders als es jetzt ist." „Revolution", krächzt ein alter Bettler und schwingt seinen Stock. „Da haben wir's", ruft ein Großgrundbesitzer, „das bringt die Leute nur auf dumme Ideen. Wir haben gerade alles hier wieder aufgebaut, wir haben endlich wieder so etwas wie einen Alltag. Wir wollen Ruhe und Frieden!" Einige Leute klatschen. „Ich habe Besseres zu tun als mir solche Fantasien anzugucken", erklärt er und verlässt den Platz. Viele folgen ihm. „Hey, Du bist auch drauf", ruft ihm ein kleiner Junge hinterher. Die Wenigen, die noch übrig geblieben sind, gucken neugierig auf die neue Szene, die der Prophet in der Zwischenzeit gemalt hat. Tatsächlich zeigt eine Figur den reichen Großgrundbesitzer, doch er sieht ganz anders aus als der selbstbewusste Patriarch, den sie gerade haben weggehen sehen. Auf dem Bild steht er abseits, neben dem Stadttor, dem Ort der Gerichtsbarkeit. Beschämt senkt er den Blick. Im Stadttor, man erkennt ihn klar und deutlich, und einige der Beistehenden ziehen laut hörbar die Luft ein, im Stadttor steht jubelnd Binjamin, ein armer Kleinbauer, dem der reiche Großbauer erst vor einigen Wochen mit Hilfe einer juristischen Grauzone die Hälfte seines Landes abgeluchst hat. Der echte Binjamin, der in der hintersten Reihe steht, macht eine Faust in der Tasche und denkt: „Wenigstens einer hat‘s begriffen!" 

Ein phönizischer Händler hat das Ganze interessiert betrachtet. Religiöser Kitsch verkauft sich gut, aber das, was er da sieht, dürfte den Geschmack seiner Kunden kaum treffen. Und der Maler sieht nicht so aus, als könnte man ihn überreden, diese unschönen Szenen, vor allem diese Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, wegzulassen. Nein, erkennt er, hier gibt es nichts zu holen, was man den Leuten verkaufen könnte, und eilt zurück zum Hafen. Auch die übrig gebliebene Zuschauermenge zerstreut sich schnell. 

Einzig ein Töpfer, der sich selbst für ein wenig kunstverständiger als der Rest hält, bleibt noch zurück. Er tippt dem Propheten auf die Schulter, der gerade sein Werk betrachtet. „Was hat denn dein Bild jetzt für einen Titel?" fragt er. „Das Himmelreich?" Der Prophet lässt den Pinsel sinken und denkt eine Weile angestrengt nach. Dann lächelt er und schreibt in die Mitte des Bildes: „Nur noch eine kleine Weile..." Der Töpfer schüttelt den Kopf und geht zurück in seine Werkstatt. 

Machen wir einen Zeitsprung. Deutschland, 3. September 2017. Das Bild gibt es noch. Heute wird es landauf, landab in den Kirchen aus dem Keller geholt. Zum ersten Mal seit einigen Jahren. Es hat Staub angesetzt, Spinnenweben verdecken fast die Hälfte des Rahmens. Es gehört nicht zu den Bildern, die oft hervorgeholt werden, die man in den Kirchen gerne zeigt, auf Postkarten druckt oder bei Facebook und Twitter teilt. Gerade weil es so wenig greifbar ist, so unrealistisch, so unverkäuflich. Die Überschrift „Nur noch eine kleine Weile..." macht das Ganze etwas lächerlich, nach ein paar Tausend Jahren, deswegen hängt man das Bild mancherorts so auf, dass man den Titel gar nicht mehr sieht. Ein paar kunsthistorisch informierte Kommentare werden abgegeben, Mutmaßungen über den Maler und die von ihm benutzte Technik. Mit seinen groben Pinselstrichen und seiner simplen Farbgebung wirkt es fast wie primitive Höhlenmalerei oder wie eine naive Kinderzeichnung, vor allem neben den anderen Bildern, die daneben aufgehängt sind: Hochaufgelöste Digitalfotos von zerstörten Städten und Leichenbergen, bewegte Bilder von LKWs, die in Menschenmengen fahren - Bilder, die auf erschreckende Art daran erinnern, dass die Hölle auf Erden ausbricht, wenn Menschen im religiösen Wahn egal welcher Couleur versuchen, den, ihren Himmel selbst herbei zu holen. Nach einiger Zeit wird das Bild wieder abgehängt. 

Irgendwo in Deutschland steigt eine Küsterin auf die Leiter. Es ist schon Sonntagabend, sie ist nicht vorher dazu gekommen. Als sie das Bild von seiner Halterung lösen will, fällt ihr etwas ins Auge, es sieht aus wie ein Fleck. Irritiert kneift sie die Augen zusammen - und fällt vor Schreck fast von der Leiter! Irgendjemand hat auf dem Bild herumgeschmiert! Sie fasst sich an den Kopf, hätte sie das Bild doch vorher schon wieder sicher in den Keller gebracht. Sie geht noch ein bisschen näher ran. Unter der Titelzeile „nur noch eine kleine Weile" steht mit Filzstift geschrieben: „Bitte jetzt!!!", mit drei Ausrufezeichen. „Ja, das wär was", seufzt sie. Neugierig sucht sie das Bild nach anderen Kommentaren ab. Und tatsächlich. Über den begrünten Karmel hat jemand geschrieben: „Israel + Palästina = endlich Frieden." „Amen", denkt die Küsterin. Neben den jubelnden Armen steht: „Familie X. und alle Trauernden." In einer anderen Schrift, mit einem anderen Stift steht direkt daneben: „Danke!" Und ihr schießt ein Satz aus einem Bibeltext durch den Kopf: „Und die Fesseln seiner Zunge lösten sich... Die Sprachlosen macht er redend." Einen Moment lang überlegt sie, dann lächelt sie, halb verschwörerisch, halb verlegen, holt ihren Kugelschreiber hervor und setzt ihren Namen unter einen der Tauben, die Gottes Wort hören. Sie klettert von der Leiter herunter. Und das Bild kann ruhig noch eine Weile hängen bleiben. 

Was sehen wir, wenn wir uns das Bild anschauen? Nicht wahr? 

Nicht wahr, nur noch eine kleine Weile, dann verwandelt sich der Libanon in einen Baumgarten, und der Karmel wird dem Wald gleich geachtet. Und die taub sind, werden an jenem Tag die Worte des Buchs hören, und befreit von Dunkel und Finsternis werden die Augen der Blinden sehen. Und die Armen werden sich wieder freuen über den HERRN, und die Ärmsten der Menschen werden jubeln über den Heiligen Israels. Denn es ist aus mit dem Tyrannen,und der Schwätzer ist am Ende, und ausgerottet werden alle, die auf Unheil aus sind, die in einer Rechtssache Menschen zur Sünde verleiten und dem, der sie im Tor zurechtweist, eine Falle stellen und den Gerechten mit Nichtigem verdrängen. Darum, so spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Haus Jakob: Nun wird Jakob nicht mehr zuschanden werden, und sein Angesicht wird nun nicht mehr erbleichen. Denn wenn er seine Kinder, das Werk meiner Hände, in seiner Mitte sieht, wird man meinen Namen heilig halten,und man wird den Heiligen Jakobs heilig halten, und vor dem Gott Israels wird man sich fürchten. Und die irren Geistes sind, werden erkennen, was Erkenntnis ist, und die Nörgler werden lernen, was Einsicht ist.

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