Dienstag, 30. Mai 2017

Symphonie der Großstadt (IV): Tempo

Zweite Sequenz aus der Performance vom Kirchentag 2017 in der Parochialkirche. Hier gibt es mehr dazu, auch den Link zum Video. Der Text bezieht sich auf den vierten Akt von Ruttmanns Berlin - Sinfonie der Großstadt.

 

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde
und als aus Abend und Morgen der erste Tag wurde,
schuf er, quasi im Vorbeigehen,
ohne hinzusehen,
auch gleich die Zeit

- und er schuf leider viel zu wenig davon.
Und die Terminkalender wurden wüst und voll.
"Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes",
aber zum Glück weiß niemand,
wer die wohin gelegt hat. 
Wann sollten wir das denn noch schaffen?! 

PC ausmachen 
Schreibtisch abschließen 
Jacke im Gehen anziehen 
Feierabend!
Schnell jetzt…  nochmal zurück, 
die Autoschlüssel liegen noch in der Schublade 
PULS!
Wer rastet, der rostet 
sowieso 
aber jetzt musst du dich beeilen 
Du hast noch einen Termin 
Die Treppe runter 
in die Tiefgarage 
rein ins Auto, 
Schlüssel rein 
der Sicherheitsgurt 
kann bis zur nächsten roten Ampel warten 
Ab zur Schranke 
fummelst nach der Karte 
die Schranke hebt sich quälend langsam 
Du lässt den Motor aufheulen 
schießt die Rampe hoch 
auf der Straße eine Lawine aus Blech 
PULS!
Du trommelst auf dem Lenkrad herum 
dein Puls spielt Housemusik 
140 Beats per Minute 
Irgendwann im Mittelalter
waren es mal 70

aber 140 ist immerhin
nur ein Drittel von dem,
was das Herz einer Spitzmaus als Spitzenleistung leistet 
und man sagt doch immer, 
dass beim Atomkrieg das Kleinzeug überlebt 
- da geht noch was! 

Schickst per Telefon den Sohn zum ALDI 
wo die Kassiererin 930 Produkte pro Schicht über den Scanner zieht 
rufst kurz bei Vatter im Heim
schaffst es heute leider wieder nicht
Er ist schon bettfertig gemacht
viereinhalb Minuten dauerte das heute wegen Krankenstand 
Ein Krankenwagen blockiert die rechte Spur.
Du ziehst rüber,
preschst bei Kirschgelb über die Kreuzung 
vor dir schon wieder rote Bremslichter 
PULS! 
du trommelst auf dem Lenkrad 
PULS! 
die Uhr rast 
Du stehst schon wieder 
PULS! 
biegst endlich in die Straße ein 
fährst um den Block erst ein-, dann zweimal 
alles voll 
PULS! 
Das Auto piept 
Sicherheitsgurt braucht man jetzt auch nicht mehr 
stellst dich mit quietschenden Reifen in die zweite Reihe 
das Ordnungsamt wird doch schon Feierabend haben 
Du hast noch einen Termin 
raus aus dem Auto um die Ecke 
durch die schwere gläserne Eingangstür 
suchst auf der Hinweistafel nach dem richtigen Raum 
findest ihn nicht 
PULS! 
findest ihn doch, 
da… ganz oben… 
tausende von Treppen 
PULS! 
mit klopfendem Herzen bleibst du vor der Türe stehen 
fährst dir durch die Haare 
hoffst, dass dein Kopf nicht so rot ist, wie er sich anfühlt 
PULS! 
Öffnest die Tür 
alle Blicke auf dich
deine Stimme hoch und atemlos...

„Entschuldigung...
Ist das hier der Kurs Entschleunigung im Alltag?“
„Ja“, sagt die Kursleiterin in wallenden Kleidern
und nickt auf einen leeren Stuhl.

„Jetzt aber schnell“, scherzt sie. 
Vereinzelte Lacher. 
Hahaha.
PULS! 
Und dir fällt jetzt erst auf,
dass Entschleunigung

fast so klingt wie Entschuldigung
Und Oma hat immer gesagt:
Man kann sich selbst nicht entschuldigen,
nur um Entschuldigung bitten.


Vielleicht ist das mit Entschleunigung genauso.

Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volk Gottes.

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