Zweite Sequenz aus der Performance vom Kirchentag 2017 in der Parochialkirche. Hier gibt es mehr dazu, auch den Link zum Video. Der Text bezieht sich auf den vierten Akt von Ruttmanns Berlin - Sinfonie der Großstadt.
Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde
und als aus Abend und Morgen der erste Tag wurde,
schuf er, quasi im Vorbeigehen,
ohne hinzusehen,
auch gleich die Zeit
- und er schuf leider viel zu wenig davon.
Und die Terminkalender wurden wüst und voll.
"Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes",
aber zum Glück weiß niemand,
wer die wohin gelegt hat.
Wann sollten wir das denn noch schaffen?!
PC ausmachen
Schreibtisch abschließen
Jacke im Gehen anziehen
Feierabend!
Schnell jetzt… nochmal zurück,
die Autoschlüssel
liegen noch in der Schublade
PULS!
Wer rastet, der rostet
sowieso
aber jetzt
musst du dich beeilen
Du hast noch einen Termin
Die Treppe runter
in die Tiefgarage
rein ins Auto,
Schlüssel rein
der Sicherheitsgurt
kann bis zur nächsten
roten Ampel warten
Ab zur Schranke
fummelst nach der Karte
die Schranke hebt sich
quälend langsam
Du lässt den Motor aufheulen
schießt die Rampe hoch
auf der Straße eine Lawine aus Blech
PULS!
Du trommelst auf dem Lenkrad herum
dein Puls spielt Housemusik
140 Beats per Minute
Irgendwann im Mittelalter
waren es mal 70
aber 140 ist immerhin
nur ein Drittel von dem,
was das Herz einer Spitzmaus als Spitzenleistung
leistet
und man sagt doch immer,
dass beim Atomkrieg das Kleinzeug überlebt
- da geht noch was!
Schickst per Telefon den Sohn zum ALDI
wo die Kassiererin 930 Produkte pro Schicht
über den Scanner zieht
rufst kurz bei Vatter im Heim
schaffst es heute leider wieder nicht
Er ist schon bettfertig gemacht
viereinhalb Minuten dauerte das heute
wegen Krankenstand
Ein Krankenwagen blockiert die rechte Spur.
Du ziehst rüber,
preschst bei Kirschgelb über die Kreuzung
vor dir schon wieder rote Bremslichter
PULS!
du trommelst auf dem Lenkrad
PULS!
die Uhr rast
Du stehst schon wieder
PULS!
biegst endlich in die Straße ein
fährst um den Block
erst ein-, dann zweimal
alles voll
PULS!
Das Auto piept
Sicherheitsgurt
braucht man jetzt auch nicht mehr
stellst dich mit quietschenden Reifen
in die zweite Reihe
das Ordnungsamt wird doch schon Feierabend haben
Du hast noch einen Termin
raus aus dem Auto
um die Ecke
durch die schwere gläserne Eingangstür
suchst auf der Hinweistafel
nach dem richtigen Raum
findest ihn nicht
PULS!
findest ihn doch,
da…
ganz oben…
tausende von Treppen
PULS!
mit klopfendem Herzen bleibst du
vor der Türe stehen
fährst dir durch die Haare
hoffst, dass dein Kopf nicht so rot ist,
wie er sich anfühlt
PULS!
Öffnest die Tür
alle Blicke auf dich
deine Stimme hoch und atemlos...
„Entschuldigung...
Ist das hier der Kurs Entschleunigung im Alltag?“
„Ja“, sagt die Kursleiterin in wallenden Kleidern
und nickt auf einen leeren Stuhl.
„Jetzt aber schnell“, scherzt sie.
Vereinzelte Lacher.
Hahaha.
PULS!
Und dir fällt jetzt erst auf,
dass Entschleunigung
fast so klingt wie Entschuldigung.
Und Oma hat immer gesagt:
Man kann sich selbst nicht entschuldigen,
nur um Entschuldigung bitten.
Vielleicht ist das mit Entschleunigung genauso.
Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volk Gottes.
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