Dienstag, 30. Mai 2017

Berlin - Symphonie einer Großstadt (II): Volksmassen. Nähe.

Zweite Sequenz aus der Performance vom Kirchentag 2017 in der Parochialkirche. Hier gibt es mehr dazu, auch den Link zum Video. Der Text bezieht sich auf den zweiten Akt von Ruttmanns Berlin - Sinfonie der Großstadt.


Im gleichförmigen Strom der Menschenmassen irgendwann zur Rush Hour stelle ich fest: Bei Fischen erhöhen sich im Schwarm Schnelligkeit und Reaktionsvermögen. Bei Menschen nicht unbedingt. Der Fluss aus Mensch stockt wie das WLAN bei mir im Hotel stolpert nimmt Umwege, teilt sich rund um einen jungen Mann, der schlecht rasiert, mit Schweißflecken unter den Armen und überaus missmutigem Gesichtsausdruck im Weg steht und ein Schild hochhält wie eine Drohung: „Free Hugs!“ Und jeder stolpert, springt, zuckt zur Seite, und der Strom von Körpern aus 50% Wasser und ein bisschen Mikroplastik spuckt mich vor einer Kirche aus. 

Ich gehe hinein und finde mich in einer Umarmung aus sakraler Kühle und stillem Ernst. Die Umarmung bleibt reserviert, es ist eine evangelische Kirche, und evangelische Kirchen haben eine bestimmte Art, einen zu umarmen. Ganz anders als so eine alte polnisch-katholische Kapelle, die mich ohne Rücksicht auf irgendwas in einen weichbusig kohlduftigen Arm zieht, in die Wange kneift und fragt, wo ich so lang gewesen bin. Ganz anders als so ein freikirchliches Gemeindezentrum, das mich in den Arm nimmt und abknutscht und festhält mit Haut und Haaren, dass ich schon sagen möchte: Das ist mir zu nah, aber dann habe ich auch schon einen Schrubber oder einen Kollektenbeutel oder einen Aktenordner in der Hand und irgendeinen Dienst übernommen. 
Eine evangelische Kirche tut so, als ob sie mich in den Arm nimmt, aber sie tut es doch nicht, sie fasst mich mit den Händen bei den Oberarmen und hält mich dabei auf gehörigem Abstand und lächelt mich an und wünscht mir eine „gute Zeit“, drückt nochmal was fester fürs Herz, weil sie mich nicht überwältigen, mir nicht die Luft abschnüren, mir Raum lassen will und das ist ja auch ganz okay so, aber ich spüre weder ihren Herzschlag, noch höre ich ihren Atem. 

Nach den Menschenmassen draußen ist mir das ganz recht und ich setze mich in die sachlich-kühle Heiligkeit, die bald jäh unterbrochen wird von der Stimme eines moppeligen Jungen irgendwo aus Süddeutschland, offensichtlich katholisch sozialisiert, der mit schnodderigem Zeigefinger nach vorne-oben zeigt und quakt: „ Mama, ‘s Greuz is leer, deä Jesus is wech!“ Und seine an interkonfessionell-religiöser Bildung momentan oder grundsätzlich weniger interessierte Mutter sagt etwas theologisch ganz Wertvolles, sie antwortet: „Na, er wird wohl nach drause gegange sein.“ Und ich gehe hin und tue desgleichen und stürze mich in die Menschenmassen vor der Tür und will ihn suchen und finden, damit wir auf einer Parkbank sitzen und philosophieren oder in einem dieser Berliner Hipster-Cafés eine Guave-Liebstöckl-Bionade trinken und dabei die Welt retten können. 

Aber ich habe das Gefühl, ich ertrinke beim Bad in der Menge, dass der Strom mich mitreißt, wohin auch immer. Und ich wäre gern Mose, der das Meer teilt – vielleicht sollte ich mir so ein Free-Hugs-Schild anschaffen – oder Jesus, der übers Wasser läuft, über den Dingen schwebt, aber ich bin eher der sinkende Petrus und gehe unter und werde mitgerissen an Parkbänken vorbei und an Hipster-Cafés und der Menschenfluss zieht mich immer weiter Richtung Stadtmitte und Kirchentag, und der Fluss wird orange und vor mir sehe ich, wie er sich teilt, weil da vorne, 100 Meter vor mir, dieser Typ mit dem Schild „Free Hugs“ steht, immer noch unrasiert, immer noch in demselben T-Shirt wie schon vorgestern, und ich versuche, nach rechts zu schwimmen, nach links, während wir unaufhörlich die Straße hinunterstürzen, und es sind keine 20 Meter mehr, und ich treibe geradewegs auf ihn zu, noch zehn Meter, noch fünf...

Und plötzlich scheint alles still zu stehen und einzufrieren und sich in Zeitlupe zu bewegen, und der Lärm der Stadt wird tiefer und leiser und die Polizeisirenen klingen wie Walgesänge, und ein Lichtstrahl fällt vom wolkenverhangenen Himmel genau auf den Typen mit dem Free-Hugs-Schild und eine überirdische Stimme perlt durch die Luft: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, und für eine Sekunde bleibt alles stehen und die Welt wird hell und klar.

Und dann stürzt der Lärm der Stadt wieder auf mich ein, und ich werde nach vorn getrieben und will gar nicht mehr ausweichen, sondern kenne meinen Weg und reiße die Arme auseinander und rufe dem Typ mit dem Schild zu: „Hier bin ich!“, denn ich habe ihn erkannt, und falle ihm um den Hals und spüre, wie sein Herz stockt und rieche seinen Atem und weiß, dass er vorhin Döner gegessen hat, und die Duftruinen seines Deos, das schon lange versagt hat und spüre seine Bartstoppeln am Hals und das schweißnasse Hemd unter meinen Händen und dann reißt er sich los und glotzt mich an und bellt: „Soch mal, host du’n Knoll?!“ Aber mir ist das egal.

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