Mittwoch, 21. Dezember 2016

O du fröhliche #jetzterstrecht


Die Welt tut nicht allzu weihnachtlich in diesen letzten Tagen der Adventszeit 2016. Aleppo mag man nach ein paar Minuten des Gruselns und einem pflichtschuldig geteilten #prayforaleppo Aleppo sein lassen, die Stadt ist weit genug weg, die Wenigsten sind dermaleinst höchstpersönlich durch die nunmehr zerstörten Straßen spaziert und dadurch wenigstens irgendwie persönlich betroffen. Vom Bürgerkrieg in Somalia, vom Treiben in der Ukraine, vom Drogenkrieg in Mexico und dergleichen gar nicht zu reden. Berlin ist anders. Berlin ist näher. Und Weihnachtsmärkte kennt man aus eigener Anschauung zur Genüge. 


In Pfarrerskreisen, wo im Moment im Akkord Weihnachtspredigten geschrieben werden, öffnet man ächzend die Word-Dokumente, die man für bereits fertig hielt, stellt Geschriebenes in Frage oder ändert wenigstens die Fürbitten und nimmt so das #prayforberlin wörtlich. Pastor_innen und Kirchenmusiker_innen fragen laut, ob man eigentlich in diesem Jahr "O du fröhliche" singen könne. Es ist ehrenwert, wenn man zulässt, dass die Weltlage bei der Predigtvorbereitung stört, es ist theologisch und christologisch wichtig, dass die alte und spätestens seit den 1960er Jahren alljährlich mal wieder gestellte Frage, ob man dem volkskirchlichen Wunsch nach Rührseligkeit und Tradition oder dem eigenen prophetischen Anspruch das letzte Wort lässt, wieder offen ist. 

Trotzdem verstehe ich nicht, warum man nicht "O du fröhliche" singen sollte - und ich ahne zuversichtlich, dass die Frage eher rhetorisch ist und/oder Ausdruck einer, wieder sehr ehrenwerten, momentanen Sprachlosigkeit angesichts des Leides in der Welt. 

Auch auf die Gefahr hin, zynisch zu klingen: In Berlin ist das garstige Leben mitten in unsere weihnachtliche Betulichkeit hineingefahren. Bei aller Tragik ist das nichts Außergewöhnliches - leider. Das erleben landauf, landab alle die Menschen bereits, die in dieser Woche noch an einem offenen Grab stehen. Die das erste Weihnachten "ohne" vor sich haben. Wenn man ihnen zumutet, "O du fröhliche" zu singen - warum nicht allen anderen auch? 

Ein weiteres: Das Lied stammt aus der Feder von Johannes Daniel Falk (1768-1826), es war ursprünglich als Dreifeiertagslied geschrieben, in dem jede Strophe ein großes christliches Fest besang. Falk war einer der Begründer der sog. Rettungshausbewegung, in der vornehmlich christlich-großbürgerliche Persönlichkeiten Einrichtungen für Kinder und Jugendliche in Not gründeten. Der Publizist Falk, selbst vierfach verwaister Vater, dessen Kinder an Typhus verstorben waren, gründete das Rettungshaus in Weimar, das zum Vorbild für das ungleich berühmtere Rauhe Haus in Hamburg wurde. "O du fröhliche" ist also, ob als Weihnachts- oder Dreifeiertagslied, keineswegs ein kitschiges Schreibtischprodukt frühromantischer Frommdichterei, sondern ist entstanden im Kontakt und in tatkräftiger Auseinandersetzung mit tödlicher sozialer Not.
Martin Rößler schreibt dazu:


"Bedenkt man dieses Milieu: keine behütende Gemeinde und keine kirchliche Liturgie, sondern eine zusammengewürfelte Gruppe, die erst durch die Tat der Liebe vereint wurde, und eine seelsorgerliche Gesprächsebene, die den harten Alltag bedrängend und bedrückend empfand - dann ist klar, dass nicht bloß die wohl situierten Kirchenlieder gepflegt werden konnten."
Besser als Andreas Wendt kann man ohnehin nicht ausdrücken, worum es an Weihnachten geht: 


Auch im Lied selbst steckt in verdichteter Kürze das Wissen um das Schlimme an der Welt: "Welt ging verloren / Christ ist geboren!"

Vielleicht ist Weihnachten 2016 eine Chance, weil sich die Hoffnung, die uns in die Wiege gelegt ist, zumindest vordergründig anders in vorigen Jahren bewähren muss - und bewähren wird. Wie so oft, so gehen andere unbefangener als wir damit um: Viele Zeitungen druckten gestern und heute ein großes "Fürchtet euch nicht!" auf ihre Titelseite, als Mahnung ("Reißt euch zusammen!") und als wohltuender und nötiger Kontrast zur riesigen, lähmenden "ANGST!!!"-Schlagzeile der BILD-Zeitung. Deutlicher kann der Unterschied zwischen Welt und Himmel, Teufel und Engel, Trug und Hoffnung kaum werden. 

Daher, liebe Kolleg_innen auf den Kanzeln und an den Orgeln, liebe Gottesdienstgemeinden, bitte, bitte: Singt es! Aus voller Kehle, mit allen Registern und Zimbelstern und lauter als alle Pegida-Demonstranten und BILD-Schlagzeilen zusammen!

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/5/50/'The_Angel_Appearing_before_the_Shepherds'_by_Thomas_Buchanan_Read,_Dayton_Art_Institute.JPG/1280px-'The_Angel_Appearing_before_the_Shepherds'_by_Thomas_Buchanan_Read,_Dayton_Art_Institute.JPG

Engel und Hirten - Meditation zu Lk 2



...UND DIE HIRTEN FÜRCHTETEN SICH SEHR...


Hirten haben Angst.
Weniger vor dem, was sie kennen.
Weniger vor Wölfen und Löwen,
vor davonlaufenden Schafen,
vor Schafrotz, Räude und Moderhinke.
Weniger vor den abschätzigen Blicken
der Sesshaften und Bessergestellten.
Aber Angst vor dem, was sie nicht kennen.
Was anders ist.
Was die eigene Welt in neuem Licht erscheinen lässt,
das Versteckte beleuchtet
und Weltbilder verschwimmen lässt.


....UND DER ENGEL SPRACH: FÜRCHTET EUCH NICHT…


Fürchtet euch nicht.
Weil Angst der schlechteste aller Ratgeber ist:
Hirten werden zu Schafen.
Verlieren den Überblick.
Laufen wild durcheinander.
Rennen einander um.
Rotten sich zusammen,
lassen die schwarzen Schafe draußen,
und niemand zieht mehr alleine los
um das eine Verlorene zu suchen.
Fliehn vom Licht ins Dunkel
und fangen an, mit den Wölfen zu heulen,
die unter dem Schafspelz die Zähne fletschen.

FÜRCHTET EUCH NICHT. EUCH IST HEUTE DER HEILAND GEBOREN…

Habt keine Angst vor dem Neuen, dem Anderen.
Ihr braucht Es. Ihn.
Immer schon. Und immer wieder.
Um neu anzufangen.
Den Staub aus den Kleidern zu schütteln.
Zu sehen, dass es anders sein kann
und anders sein muss.
Denn das Alte soll vergehen
und Neues geboren werden
und heranwachsen
und Wasser in Wein verwandeln
und Blinde sehen
und Lahme tanzen lassen
und mit euch leiden
und für euch sterben
und auferstehen
und alle mitreißen.


UND ALS DIE ENGEL VON IHNEN GEN HIMMEL FUHREN, SPRACHEN DIE HIRTEN UNTEREINANDER: LASSET UNS GEHEN GEN BETHLEHEM UND DIE GESCHICHTE SEHEN, DIE DA GESCHEHEN IST


Geht hin. Seht und staunt,
wie Ihr überwältigt werdet vom Wunder des Lebens
und angerührt von dem Anderen.
Er wird einer von euch
und ihr sollt es machen wie Er: Mensch werden.
Nehmt ihn mit
in eure Städte
auf eure Felder
in eure Gespräche.
Und weidet seine Schafe.
Und sagt allen: Fürchtet euch nicht.