Dienstag, 7. Juli 2020

Die Leitsätze des Z-Teams - Übersetzungsversuch vor einer Diskussion

Nach den jüngsten Austrittszahlen hat das Z-Team, ein Gremium der EKD-Synode, ein Papier veröffentlicht und zur Diskussion freigegeben. Meine erste Reaktion darauf war: "Och nee..." Weil es mir schwergefallen ist, hinter die selbst für EKD-Verhältnisse besonders verquaste Sprache zu steigen und die Anliegen des Papiers freizulegen. Ein Votum von Hanno Terbuyken bei Twitter und einiger anderer hat mich ermutigt, am Ball zu bleiben. Von Birgit Mattausch und Bernd Becker stammt der Impuls, die Leitsätze in Leichte Sprache zu übersetzen. Das habe ich als Annäherung an den Text versucht. Ich bin kein Experte für Leichte Sprache, und manches ist sicherlich stümperhaft bis karikaturesk, manches rundweg falsch. Trotzdem hat es mir geholfen, den Text besser zu verstehen.

Arbeitsübersetzung in Leichte Sprache

Vor-Wort

Die Kirche gehört Gott, auch in Zukunft. Aber sie hat bald weniger Mitglieder, weniger Geld. Es arbeiten auch weniger Menschen dort mit. In Deutschland gibt es mehr alte Menschen als Kinder. Deswegen wird die Kirche kleiner. Das ist aber nur ein Grund. Viele Menschen sagen: Ich kann mit dem Glauben nichts anfangen. Deswegen möchten Eltern nicht mehr, dass ihre Kinder getauft werden. Und deswegen verlassen Menschen die Kirche. Wenn das so ist, dann geht es nicht nur um Geld: Es geht auch um den Glauben. Die Kirche muss nicht nur Geld sparen und besser, schneller und nützlicher arbeiten. Sie muss sich auch verändern, weil die Welt sich verändert. Der Glaube tut das auch: Für Kinder sind andere Dinge am Glauben wichtiger als für Erwachsene oder alte Menschen. Die Kirche möchte von Gott erzählen. Dafür muss sie andere Worte und andere Wege finden.

Das Corona-Virus verändert das Leben von uns allen. Und das wird so bleiben. Auch in der Kirche wird es anders sein als vorher. Wir können nicht einfach zuhause bleiben. Und wir können nicht alles am Computer machen. Aber die Corona-Zeit hat auch gezeigt: Die evangelische Kirche hat tolle Ideen, obwohl sie nicht viel Zeit zum Nachdenken hatte. Sie hat Menschen geholfen. Und sie hat anders von Gott geredet als sonst. Das geht nur, wenn man mutig ist. Und das geht nur, wenn man glaubt: Gott verspricht: Ich helfe euch dabei.

Es ist wichtig, dass wir etwas tun. Es ist wichtig, dass wir Abstand halten. Aber wir dürfen uns nicht zuhause einschließen. Wir möchten anderen Mut machen. Im Jahr 2017 hat die Kirche viel an Martin Luther gedacht. Das war ein Pfarrer. Vor 500 Jahren hat er die Kirche neu gemacht. Aber wir haben nicht nur an Früher gedacht. Wir haben uns auch gefragt: Was können wir von ihm für die Zukunft lernen? – Wir haben uns einen Spruch aus der Bibel ausgesucht: „Hinaus ins Weite“. Das ist ein Satz aus einem Psalm, einem Gebet von König David. Für uns bedeutet das: Wir können uns frei bewegen. Wir können hingehen, wo wir wollen. Das ist ein Geschenk von Gott. Und das ist eine Aufgabe: Wir fragen uns: Wo brauchen die Menschen uns? Das wollen wir herausfinden. Wir finden: Menschen sollen bei uns mitmachen können. Wir wollen zusammen etwas machen. Wir wollen erzählen, was wir mit Gott erleben. Menschen sollen sagen: Ich glaube euch das, was ihr erzählt. Weil ihr euch so verhaltet. Ihr macht mich neugierig auf Gott.

Die Kirche wird kleiner. Aber sie wird weiter laut reden. Das geht nur mit anderen zusammen. Die katholische Kirche ist unsere Schwester, und andere auch. Das hat Jesus Christus, der Sohn von Gott, gesagt. Die Kirche ist auch ein Teil von der Gesellschaft. Gottesdienste und Beten sind uns wichtig. Aber auch, wie Menschen miteinander umgehen. Es gibt viele verschiedene Kirchen und Religionen. Sie sagen: Ich haben recht. Das ist gut. Menschen sind frei. Sie können selber entscheiden: Das glaube ich, und das glaube ich nicht. Das Besondere an der evangelischen Kirche ist: Wir leben mit Gott. Und wir versuchen, das Richtige zu tun. Deswegen lesen wir die Bibel. Da steht viel Gutes drin. Wir müssen die Kirche verändern. Dabei fragen wir: Wie können wir Menschen von Gott erzählen? Das ist wichtig für unsere Entscheidungen.

 

Öffentlichkeit

 1. Die Kirche redet und tut viel. Die Menschen sollen wissen: Warum sagt sie das, warum tut sie das? Früher hat die Kirche viel mehr geredet. Manche sagen: Zu viel. Jetzt möchte sie nicht mehr so viel reden. Nur noch dann, wenn wir sicher sind: Gott möchte, dass wir dazu etwas sagen. Wir sagen etwas anderes als andere Vereine und Menschen. Deswegen tun wir auch andere Dinge.

Jesus Christus hat uns etwas über Gott beigebracht. Das stimmt immer noch. Es ist gut für die Menschen, das zu hören. Jesus braucht keine große und reiche Kirche dafür. Die Kirche macht viele Sachen. Sie sagt: Jesus will das von uns. Das ist das Wichtigste. Jesus fragt jeden Menschen: Was findest du richtig? Gott sagt: Ihr sollt anderen Menschen helfen. Ihr sollt Gutes tun. Das kann sehr verschieden aussehen. Wir finden das gut. Aber manche finden das auch schwierig: Das Leben ist schwer zu verstehen. Wir wollen Menschen zeigen: Hier sind wir. Und wir wollen erklären: Warum sind wir hier?

Wir möchten Menschen helfen, über schwierige Dinge nachzudenken und zu reden. Zum Beispiel: Was passiert, wenn jemand stirbt? Oder: Ich habe etwas Schlimmes gemacht. Wer hilft mir jetzt? Oder: Wie kann ich ein glückliches Leben haben? Oder: Wer hilft mir, das schwierige Leben zu verstehen? Wir brauchen Lern-Orte. Da kann man über den Glauben reden. Das hilft, das Leben besser zu verstehen und Dinge zu verändern. Gott macht Menschen frei. Deswegen können wir anderen Menschen helfen. Es gibt auch Menschen, Politiker, und Religionen, die sagen: Ihr sollt nicht frei sein. Die Menschen sind uns nicht so wichtig. Das finden wir falsch. Das sagen wir ganz laut.

In der evangelischen Kirche gibt es das „Priestertum aller Getauften“. Das heißt: Wer getauft ist, ist so etwas wie ein Pastor. Er kann selbst mit Gott reden, ohne Hilfe. Aber es gibt in der Kirche auch Kommissionen. Das sind Arbeits-Gruppen, in denen schlaue Menschen sich mit schwierigen Fragen beschäftigen. Sie arbeiten zusammen mit anderen, mit Politikern und Künstlern und Wissenschaftlern. Sie suchen Antworten auf schwierige Fragen. Aber solche Arbeits-Gruppen sind teuer. Deswegen werden wir bald weniger davon haben. Und deswegen sagen sie nur noch manchmal etwas. Wenn das ganz wichtig ist. Und wenn wir glauben: Gott will jetzt, dass wir reden. Viele Menschen kennen nicht mehr so viele Geschichten aus der Bibel. Deswegen müssen wir das besser erklären. Wir wollen uns so verhalten, wie Gott das will. Dann glauben uns die Menschen.

 

Frömmigkeit

2. Es ist wichtig, dass wir über unseren Glauben erzählen. Weil viele Menschen nichts mehr darüber wissen. Aber das bedeutet nicht nur reden: Wir möchten zeigen, wie man den Glauben leben kann. Menschen sollen mehr wissen, damit sie mit-reden können. Es gibt in der Kirche viele alte Glaubens-Formen (Beten, Singen, Still sein und so weiter). Sie helfen uns auch heute. Und manches denken wir uns neu aus.

Wir möchten anderen nicht sagen, was sie glauben sollen. Wir sagen: Wir haben gute Ideen und Gedanken. Und wir erklären, woher wir diese Gedanken haben. So können andere uns besser verstehen. Wir glauben: Menschen soll es in der Welt gut gehen. Manche Leute haben keine Religion, aber wir arbeiten mit ihnen zusammen: Wir wollen, dass demokratische Gesetze eingehalten werden. Menschen sollen offen miteinander reden. Und wir sagen den Politikern, was wir gut oder schlecht finden. Wir finden: Jeder Mensch ist gleich viel wert. Jeder Mensch ist frei. Jeder Mensch soll gerecht behandelt werden. Wir sind gegen Krieg und für Frieden. Wir wollen auf unsere Umwelt aufpassen. Das finden wir, weil Jesus uns das gesagt hat.

Das alles ist wichtig, wenn die Kirche laut etwas sagt, zum Beispiel in der Zeitung oder im Fernsehen. Wir wollen, dass mehr Menschen etwas über unsere Religion wissen. Deswegen sollen Kirchen-Gemeinden und Universitäten zusammenarbeiten. Viele Menschen arbeiten in der Kirche. Sie sollen auch mit-reden können.

Menschen aus der Kirche reden auch mit Wissenschaftlern. Wir wollen mit ihnen nachdenken. Die Kirche wird kleiner. Trotzdem muss sie weiter laut reden. Vor allem sagen wir: Was glauben wir? Und wir reden noch mehr mit den Menschen, die zu uns gehören. Die Kirche bietet viele Kurse an. Da darf jeder hinkommen. Aber wir kümmern uns besonders um unsere Mitglieder und Freunde.   

 

Mission

3. Mission heißt: Wir erzählen Menschen über Gott. Andere Menschen sind genauso wichtig und klug wie wir selbst. Deswegen reden wir miteinander. Früher hat die Kirche oft allein geredet, und alle anderen sollten zuhören. Das wollen wir nicht mehr. Ämter und Behörden bekommen nicht mehr so viel Geld. Menschen und Gruppen, die zusammenarbeiten, bekommen mehr Geld.

Jesus Christus hat uns von Gott erzählt. Das ist uns wichtig. Wir glauben: Gott macht eine neue Welt. Wir zwingen niemandem zum Glauben. Das hat uns Christus beigebracht. Er hat sich um Schwache, Arme und Kranke gekümmert. Wir tun das auch. Wir können uns aber nie um alle kümmern. Wir sind nicht Gott.

Wir beschäftigen uns mit der Politik. Sie soll Gesetze machen, die gut sind. Wir helfen Menschen, denen es schlecht geht. Manche Menschen haben Fragen über ihren Glauben. Auch denen helfen wir. Wir helfen auch Nicht-Migliedern. Wir können aber nicht alles alleine machen. Deswegen arbeiten wir mit anderen Gruppen, Behörden und Menschen zusammen. Und wir wollen zeigen: Manches können wir besser als andere. Aber nicht alles können wir weitermachen. Manche Leute haben nicht viel Geld. Wir wollen, dass sie auch mitmachen können. Manchmal streiten Menschen. Dann wollen wir mit ihnen reden. Sie sollen zusammen eine Lösung finden. Das ist manchmal ganz schön schwer.

Wir arbeiten auch mit anderen Gruppen zusammen. Zusammen können wir tolle Sachen ausprobieren. Dann lernen Menschen auch etwas über den Glauben.

 

Ökumene

4. Es gibt in Deutschland viele verschiedene Kirchen. Sie arbeiten zusammen. Das ist gut. Wir sind verschieden – auch das ist gut. Wir wollen in Zukunft mehr zusammen machen. Aber wir müssen nicht eine einzige Kirche werden.

In Deutschland sind weniger als früher Menschen Kirchen-Mitglieder. Seit 100 Jahren arbeiten die christlichen Kirchen zusammen. Wir haben gelernt: Unterschiede sind gut. Wir wollen nicht unnötig streiten. Sonst haben die Menschen kein Vertrauen in uns und in Gott. Weil wir weniger Geld haben, müssen wir mehr zusammenarbeiten. Irgendwann möchten wir auch zusammen das Abendmahl feiern. Ganz oft arbeiten evangelische und katholische Leute gleichzeitig. Zum Beispiel bei der Polizei, bei der Bundeswehr oder in Krankenhäusern. Das muss nicht sein. Es reicht, wenn einer dort arbeitet. Zum Beispiel in 3 von 10 Krankenhäusern.

Wir können Menschen besser helfen, wenn wir zusammen arbeiten. Vielleicht können evangelische und katholische Menschen sogar eine einzige Gemeinde haben.  

 

Digitalisierung (Internet)

5. Die Kirche macht ganz viel im Internet. Dafür bekommt sie mehr Hilfe. Wir glauben: Das Internet und die Gemeinde zuhause gehören zusammen. Sie können voneinander lernen. Menschen lesen heute viel weniger Zeitung als früher. Deswegen gibt es mehr Geld, wenn die Kirche etwas im Internet oder für Handys macht.

Die Kirche redet von Gott. Dafür braucht sie Medien (Zeitungen, Bücher, Internet und so weiter). Die Kirche schreibt oft ganz lange Texte. Das geht jetzt nicht mehr: Menschen lesen nicht mehr so viel. Deswegen reden wir anders. Und wir müssen viel über Technik lernen. Und in den Gemeinden wird deswegen auch vieles anders. Wir müssen lernen: Wie reden wir so von Gott, dass Menschen uns verstehen? Wie erzählen wir von der Bibel, dass Menschen das gerne lesen?

Das Internet ist nicht nur zum Lesen da: Man kann hier auch Fragen stellen und mitreden. Manche finden Freunde. Man kann mit viel mehr Menschen reden als früher. Deswegen benutzt die Kirche auch das Internet. Aber wir finden es nicht besser oder schlechter als unsere normalen Kirchen-Gemeinden. Wir wünschen uns: Menschen reden miteinander, egal wo. Die Kirchen-Kreise und Landes-Kirchen benutzen neue Computerprogramme. Die machen vieles einfacher. Und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) schreibt gute Texte und macht schöne Bilder und Filme für das Internet. Wir möchten auch Gottesdienst am Computer feiern. Und wir können durch Internet und Telefon ohne Probleme miteinander reden. Das haben wir in der Corona-Zeit gemerkt.

Das Internet hilft uns auch bei der Verwaltung: Vieles wird einfacher und schneller. Aber wir müssen noch viel mehr zusammenarbeiten. Verwaltung ist teuer. Und wir haben weniger Geld.

Es gibt viele schlimme Dinge im Internet: Menschen ärgern andere Menschen, sie sagen schlimme Sachen. Sie tun Gewalt mit Worten an. Es gibt auch falsche Nachrichten. Das finden wir nicht gut. Wir wollen, dass das Internet sicher ist. Niemand soll Angst haben, niemand darf andere belügen. Dafür setzen wir uns ein.

 

Kirchen-Entwicklung

6. Alle Menschen sind verschieden. Deswegen wünschen sie sich unterschiedliche Sachen von ihrer Kirche. Wir sagen nicht: Das eine ist richtig und das andere ist falsch. Wir möchten eine bunte Kirche, in der sich viele verschiedene Leute wohl fühlen. Deswegen gibt es besonders viel Geld für neue Ideen. Wir glauben: Verschiedene Gemeinde-Formen können voneinander lernen. Deswegen ist es wichtig, dass wir zusammen arbeiten. Wer das nicht möchte, bekommt kein Geld mehr.

Es gibt nicht mehr so viele Gottesdienste wie früher. Aber es gibt viel mehr verschiedene Gottesdienste als früher. Manche mögen den Gottesdienst am Sonntag-Morgen besonders gern. Aber manche mögen andere Gottesdienste lieber. Das ist schön, und das möchten wir unterstützen. Aber das müssen wir auch noch lernen. Viele Menschen leben heute allein. Deswegen ist es wichtig, dass sie in der Kirche mit anderen feiern können. Deswegen brauchen wir viele gute und neue Ideen, wie man Gottesdienst feiern kann.

Viele Menschen wollen heute ganz besondere Sachen erleben. Das ist ganz schön anstrengend. Wir finden wichtig: Junge und alten Menschen erleben zusammen etwas. Und Menschen aus verschiedenen Ländern auch. Es gibt heute viele Gruppen, die auch Gottesdienste feiern. Viele Menschen finden die schöner als unsere Gottesdienste. Deswegen müssen wir etwas verändern. Wenn jemand bei uns heiraten möchte, ist das heute sehr kompliziert. Das muss einfacher werden. Viele Familien reden heute nicht mehr über den Glauben. Deswegen ist es wichtig, dass sie das in der Kirche können. Dafür müssen wir uns unseren Stadt-Teil ganz genau angucken und fragen: Was passt zu den Menschen hier? Manchmal können sie mit den alten Gemeinde-Formen nichts mehr anfangen. Deswegen müssen wir uns neue Gottesdienste und neue Gemeinde-Formen ausdenken. Es kann nicht alles beim Alten bleiben.  Und wir müssen uns überlegen: Wo brauchen die Menschen die Kirche?

 

Zugehörigkeit

7. Manche Menschen finden die Kirche gut, aber sie wollen keine Mitglieder sein. Wir wollen auch mit ihnen zusammenarbeiten. Dafür brauchen wir neue Ideen. Wir fragen uns: Wie kann das gehen? Manche Menschen können auch nicht so viel Kirchen-Steuer bezahlen. Vielleicht möchten sie selbst entscheiden, wie viel Geld sie der Kirche spenden. Wir fragen uns auch: Warum ist es gut, wenn man Kirchen-Mitglied ist?

Wir glauben: In Zukunft sind weniger Menschen Kirchen-Mitglieder. Das heißt: Manche mögen die Kirche nicht. Und manche kennen die Kirche gar nicht. Manche Menschen möchten uns erst kennen lernen, und erst später Voll-Mitglieder werden.

Deswegen müssen wir nachdenken: Wie können Menschen bei uns mitmachen, wenn sie nicht Voll-Mitglieder sein wollen? Dafür müssen wir auch ein paar Gesetze ändern.

Für viele Menschen ist die Taufe wichtig. Manchmal feiern wir Tauf-Erinnerung: Wir erinnern uns zusammen an unsere Taufe. Mit der Taufe wird man Mitglied in der Kirche. Aber immer weniger Menschen werden getauft. Wir sind auch für die Menschen da, die keine Mitglieder von der Kirche sind. Wir überlegen, wie das noch besser geht.

Wenn Menschen Mitglieder von der Kirche werden, dann sagen sie anderen: Ich gehöre dazu, mir ist das wichtig. Ich möchte hier mitarbeiten. Das finden wir sehr gut. Und das möchten wir ihnen auch sagen. Vielleicht können wir deswegen Angebote machen, die nur für Mitglieder da sind.

Viele junge Menschen verdienen nicht so viel Geld. Und Kinder kosten auch Geld. Deswegen sollen sie weniger Kirchen-Steuern bezahlen. Oder selbst entscheiden können: Was in der Kirche bezahle ich mit meinem Geld?

Wir haben viele andere Ideen. Vielleicht gibt es einen Mitglieds-Ausweis. Dann bezahlt man weniger Geld, wenn man in ein Konzert in der Kirche geht. Wenn Menschen aus der Kirche austreten, dann wollen wir sie fragen: Warum tut ihr das?


Mitarbeitende

8. Viele Menschen arbeiten in der Kirche mit. Es ist wichtig, dass sie über ihren Glauben reden können. Manche machen das als Beruf („Hauptamtliche“), andere in ihrer Freizeit („Ehrenamtliche“). Es sollen keine Menschen mehr Arbeit machen, die nicht wichtig ist.

Die Mitarbeiter in der Kirche sind ganz wichtig. Es ist egal, ob sie hauptamtlich oder ehrenamtlich, arbeiten. Sie haben viele Ideen, sie schenken der Kirche ihre Zeit und ihre Kraft. Wir können nicht mehr so viele Mitarbeiter bezahlen. Deswegen werden Ehrenamtliche viel wichtiger. Sie bekommen kein Geld für ihre Arbeit. Wir haben in den letzten Jahren gelernt: Viele Menschen möchten in ihrer Freizeit nicht viele Jahre lang bei der Kirche mitarbeiten. Aber sie haben Lust, bei bestimmten Sachen mitzuhelfen. Es ist wichtig, dass sie Spaß daran haben. Viel Arbeit kann man von außen gar nicht sehen, aber sie ist ganz wichtig. Manche Mitarbeiter können wir nur für eine bestimmte Zeit bezahlen.

Mitarbeiter bei der Kirche und der Diakonie sollen über ihren Glauben reden. Sie können von sich sagen: Ich arbeite bei der Kirche, weil mir mein Glaube viel wert ist. In der Kirche verändert sich viel. Deswegen müssen Mitarbeiter eigen-verantwortlich arbeiten, das heißt: Sie entscheiden selbst, was sie tun und wie sie es tun. Manche haben neue Ideen. Wir möchten, dass sie die umsetzen können. Mitarbeitende müssen sich gegenseitig vertrauen können.

Alle Menschen können manche Dinge besonders gut. Dafür sollen sie Zeit und Geld kriegen. 10% von unserem Geld ist zum Ausprobieren da. Wer eine neue Idee hat, kann sie umsetzen. Wenn manches davon irgendwann wieder endet, ist das nicht schlimm.

Viele Dinge werden in Zukunft wichtiger als früher: Mitarbeiter sind für andere da. Wir loben uns gegenseitig. Menschen tun das, was sie besonders gut können. Bestimmte Dinge müssen alle gut können: Mit anderen zusammenarbeiten, neue Kontakte knüpfen, eigene Entscheidungen treffen. Sie müssen auch mit dem Internet gut umgehen können. Deswegen ist ganz wichtig: Die Kirche muss sehr gute Fortbildungs-Angebote machen.  

 

Leitung

9. Leitung heißt in Zukunft: Wir müssen darauf achten, dass wir mit vielen anderen zusammenarbeiten. Wir müssen erklären, was wir tun. Und warum wir es tun. Wir wollen anderen zeigen: Wir sind evangelisch. Früher haben in der Kirche oft die Vorgesetzten entschieden (z. B. Bischöfe, Pfarrer, Kirchen-Vorstände), was gemacht wird. Das muss anders werden.

Wir wollen Menschen von Jesus Christus erzählen. Er bringt uns zusammen. Wir sind verschieden. Deswegen müssen wir viel miteinander reden, damit wir uns verstehen. Wir müssen darüber reden, warum uns der Glaube wichtig ist. Manchmal müssen wir auch laut sagen: Das geht nicht, weil unser Glaube es uns verbietet. Wir müssen gut zusammenarbeiten.

Wir haben bald weniger Geld. Deswegen müssen wir uns besser abstimmen. Verschiedene Gemeinden, Kirchen-Kreise und Landes-Kirchen müssen besser zusammenarbeiten. Wir brauchen nicht so viele Mitarbeiter in der Verwaltung. Dann können wir uns auch schneller verändern. Früher hatten wir mehr Geld. Da haben wir sehr viel gemacht. Jetzt müssen wir überlegen: Was ist wichtig? Wenn wir nicht gut zusammen arbeiten, dann sind wir keine gute Kirche.

Im Moment denken viele Menschen nur an ihre eigene Gemeinde. Das ist nicht gut, weil wir so viel zu tun haben. Wir müssen auch an andere denken. An manchen Orten können Gemeinden sich zusammenschließen. Damit sparen sie Geld und können besser arbeiten. 

In der Kirche gibt es Gruppen, die entscheiden: Was machen wir? Was lassen wir sein? Was ist uns besonders wichtig? Sie müssen klar sagen, warum sie eine Sache entscheiden. Es ist falsch, wenn sie nur sagen: Das war schon immer so. Manche Sachen müssen auch anders gemacht werden als früher.  

 

Strukturen

10. Heute sitzen in der Kirche viele Menschen bei Treffen zusammen und reden viel. Das kostet Zeit und Geld. Es gibt viele Regeln. Die kennen nicht alle, deswegen arbeiten viele Menschen in der Verwaltung. Sie achten darauf, dass alle Regeln eingehalten werden. Auch das kostet viel Zeit und Geld. Wir möchten 15% einsparen. Mit dem eingesparten Geld können wir neue Ideen umsetzen.

Die Kirche ist eine „Institution“. Das heißt: Sie ist so etwas wie eine Behörde oder ein Amt. Das ist wichtig, weil Behörden viele Regeln haben. Man kann sich auf sie verlassen. Kirche ist auch eine Firma. Sie macht Werbung und bietet etwas an. Sie ist auch eine „Bewegung“, das heißt: Viele Menschen arbeiten in kleinen Gruppen mit. Dort tun sie das, was vor Ort nötig ist. Alle drei Sachen (Behörde, Firma, Bewegung) sind wichtig. 

Die Kirche wird weniger wie eine Behörde sein. Dann kann sie schneller entscheiden. Das ist wichtig, obwohl sie manchmal nicht weiß: Ist das jetzt richtig? Manche in der Kirche wollen das nicht. Sie dürfen nicht mehr so viel bestimmen. Auch die Kirchen-Gemeinden werden anders. Sie sehen nicht mehr alle gleich aus.

Die Kirche in West-Deutschland ist viel reicher als in Ost-Deutschland. Aber das wird sich bald ändern. Auch die Kirche in West-Deutschland wird ärmer. Wir können von den Kirchen in Ost-Deutschland lernen: Dort sind die Gemeinden kleiner. Aber sie sind genauso wertvoll. Und es ist leichter, Neues auszuprobieren. Manchmal macht die Kirche Sachen, die niemand braucht. Das soll aufhören. Und manchmal macht die Kirche Sachen, da sagen Leute: Das tut mir gut. Hier lerne ich etwas über Gott. Davon wollen wir mehr machen.

Das ist nicht einfach. Wir müssen schneller entscheiden. Deswegen müssen wir uns auch besser absprechen. Es muss klar sein: Wer entscheidet was? Aber es darf auch nicht alles nur schnell gehen. Manche Sachen brauchen Zeit. Das wissen viele Leute heute nicht mehr.

 

EKD/Landes-Kirchen

11. Wenn eine Landes-Kirche etwas machen will, dann bekommt sie dafür Geld von der EKD. Aber es sollen nicht alle dasselbe machen. Die Arbeit soll besser verteilt werden, und das Geld auch. 

Die Kirche hat zwei wichtige Aufgaben in der Zukunft: Wir müssen beweglich sein. Und wir müssen klar zeigen: Wir sind evangelisch. Die beiden Aufgaben müssen gut aufeinander abgestimmt werden. Wenn eine Landes-Kirche etwas gut kann, dann unterstützt die EKD das. Wenn eine Landes-Kirche etwas für andere macht, dann bekommt sie Geld dafür. Die EKD macht nur noch bestimmte Sachen, zum Bespiel: a. Wenn eine Sache für alle gleich wichtig ist. B. Wenn Menschen dadurch Mitglieder werden wollen. C. Wenn die Kirche allen Menschen in Deutschland etwas sagen will. Dafür muss die EKD gut auf die Landes-Kirchen hören.

Die Landes-Kirchen müssen sich gut absprechen. Nur dann weiß man: Wer kann etwas besonders gut? Die EKD veranstaltet Treffen dafür. Das Kirchen-Amt hilft ihnen dabei. 

2017 haben wir uns an Martin Luther erinnert. Er hat die Kirche neu gemacht. Damals gab es große Veranstaltungen für ganz Deutschland. Und kleinere für einzelne Städte. Das war eine gute Zusammenarbeit.

 

Nach-Wort

Die Kirche muss sich verändert, weil die Welt sich verändert. Wir müssen mutig sein. Aber wir müssen auch Ruhe bewahren. Wir dürfen uns keinen Stress machen.

 Drei Dinge sind uns besonders wichtig:

 In der Bibel steht: Wir sind „der Körper von Jesus Christus“. Wir gehören alle zusammen, und jeder hat eine besondere Aufgabe. Wir müssen uns deswegen gut absprechen.

 In der Bibel steht auch: Wir sind das „Volk Gottes“. Das heißt: Wir gehören zusammen. Manche Menschen sind keine Mitglieder. Auch sie dürfen dabeisein.

 In der Bibel steht auch: Wir sind „Salz und Licht“. Das heißt: Wir reden öffentlich. Wir möchten, dass Menschen uns zuhören. Deswegen dürfen wir nicht nur über uns selber reden.

 Durch den Corona-Virus haben wir weniger Geld. Deswegen müssen wir jetzt etwas tun. Wir fragen uns: Was brauchen wir? Was brauchen wir nicht mehr? Wir haben noch Geld gespart. Damit unterstützen wir Mitarbeiter und Gemeinden.

 Wenn wir Geld für alte Sachen haben wollen, müssen wir uns fragen: Wer braucht die? Manche alten Sachen können wir nicht behalten. Denn dann haben wir weniger Geld für neue Sachen.

 



Mittwoch, 1. Juli 2020

Hanna-Gemeinde Altstadt-West. Eine Utopie.

Aus: Wollbrückener General-Anzeiger, 25.10.2028

Obwohl das Wahrzeichen der westlichen Wollbrücker Altstadt, die neobarocke St.-Martin-Kirche, schon recht alt ist, riecht es irgendwie neu. "Das sind die Stühle, die sind letzte Woche endlich gekommen", lacht Kantorin Susanne Meyer-Schliepenrath. Die Stühle, das war eines der bautechnischen und finanziellen Großprojekte des letzten Jahres. Die altehrwürdigen Holzbänke wurden aus der Kirche entfernt und an Interessierte verkauft - der finanzielle Grundstock für die neue Bestuhlung. "Flexible Sitzanordnungen passen einfach besser für uns", erklärt Meyer-Schliepenrath.

Wenn man die Kirche zu irgendeiner Tageszeit betritt, dann ist die Chance groß, dass man hier Musik hört. "Am Dienstagmorgen trifft sich der Seniorensingkreis. Danach ist die Kirche zum Üben reserviert für Studierende der Musikhochschule oder Orgelschülerinnen aus den Nachbargemeinden. Um zwölf Uhr mittags findet unter der Woche geistliche Musik statt, entweder ein kurzes Orgelkonzert oder eine Darbietung des Kammerchors in kleiner Besetzung", zählt Meyer-Schliepenrath auf. "Um 14 Uhr bieten wir zusammen mit dem Trägerverein des Offenen Ganztags musikalische Früherziehung für Grundschulkinder an. Manche von denen bleiben dann direkt zur 'Spatzenkantorei', einem unserer Kinderchöre. Um 19 Uhr probt die Hanna-Kantorei, unser großer klassischer Kirchenchor - im Moment  'Die letzten Dinge' von Louis Spohr, für unser Konzert am Ewigkeitssonntag." Und das ist nur der Dienstag. An anderen Tagen treffen sich Streichorchester, Gospelchor, eine Tanz-Meditations-Gruppe, an manchen Wochenenden ist die Kirche von Jugendlichen belagert, die ein Musical proben. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche eher projektmäßig eingebunden werden können", erklärt die Kantorin.

In der Sakristei ist eine ganze Wand den Pfarrern der Gemeinde gewidmet. Bis 1875, dem Einweihungsjahr, lässt sich die Reihe zurückverfolgen. Aus schwarzen Bilderrahmen blicken vorwiegend ältere Männer im Talar streng in den kleinen Raum. Das erste Farbfoto zeigt den letzten Pfarrer von St. Martin, der bis 2023 hier Dienst getan hat - und nicht ganz so streng guckt. Das jüngste Foto in der Reihe zeigt die Kantorin. An der pastoralen Ahnengalerie wird deutlich, was die Hanna-Gemeinde in der Altstadt von allen anderen evangelischen Kirchengemeinden in Deutschland unterscheidet.

"Die Gemeinde wird nicht von einem Pfarrer geleitet, sondern von der Kantorin", erklärt Dr. Bertha Recht, Dekanin des Kirchenkreises Wollbrück und Region. "Das ist so in der Form einmalig - zumindest für die evangelische Kirche, in jüdischen Gemeinden etwa spielt der Kantor eine weitaus wichtigere Rolle als der Rabbiner." Die Idee zu dieser besonderen Form von Gemeinde reicht bis ins Jahr 2020 zurück. "Mitten in der Coronakrise ist deutlich geworden, in welchem bisher nicht gekannten Ausmaß wir es mit Mitgliederschwund und zurückgehenden Kirchensteuereinnahmen zu tun haben würden." Die Kirchenmusik an St. Martin, eins der kulturellen Aushängeschilder der Stadt, war akut bedroht - ebenso wie viele andere Gemeinden in der Region. "Es war klar: So kann es nicht weitergehen. Und wir haben gedacht: Verlieren können wir ohnehin nichts, also versuchen wir einmal, ganz neu zu denken." Weil gut gemachte Kirchenmusik immer noch Menschen begeistern kann, entschied sich der Kirchenkreis, eine Profilgemeinde der ganz neuen Art zu gründen. Leicht war das nicht, wie sich Recht erinnert. "Natürlich gab es da eine ganze Menge theologischer und rechtlicher Fragen zu klären - nach unserem Kirchenrecht muss eine Gemeinde einen Pfarrer oder eine Pfarrerin haben." Bis in die höchsten juristischen Gremien der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, wurde das Projekt interessiert, bisweilen auch kontrovers diskutiert. Nach zähen Verhandlungen gaben die Kirchenoberen schließlich im Jahr 2023 grünes Licht. "Wahrscheinlich auch mit einigem Muffensausen", schmunzelt Recht. Und mit strengen Auflagen. Eine davon war, das Projekt zunächst für eine Probezeit von drei Jahren anlaufen zu lassen - unter fachkundiger Leitung eines Kuratoriums.


"Die Erfahrung ist, dass Chöre und Musikgruppen in Gemeinden oft etwas darstellen, was der Kirchenreformer Philipp Jakob Spener als 'ecclesiola in ecclesia' bezeichnet hat, als 'kleine Kirche in der Kirche', also ein Treffpunkt der besonders Engagierten", weiß Dr. Jacqueline Krusowsky. Diesen ungeheuren Schatz an Engagement zu heben, war für die Professorin für Praktische Theologie an der Universität Göttingen Motivation genug, den Vorsitz im Kuratorium zu übernehmen. Auch, wenn sie mit Herzblut dabei war und ist ("Mittlerweile singe ich sogar im Sopran mit..."), hat sie gerade in den Anfangsjahren gegen viel Gegenwind ankämpfen müssen. "Das war nicht nur schön", gesteht sie. Gemeinden liefen Sturm gegen die Idee, so gut wie alle Kirchenmusik an einen Ort zu konzentrieren. Der Pfarrverein der Landeskirche reichte Klage beim Kirchengericht der EKD ein, an Krusowskys eigener Fakultät gab es eine Unterschriftensammlung, deren Urheber ein "schleichendes Aushöhlen der pastoralen Profession" befürchteten. Wieder andere hielten es für unevangelisch, eine Gemeinde zu gründen, die nur für musikalisch Interessierte interessant ist. "Die Vorstellung von einer 'Kirche für alle' hält sich hartnäckig", sagt Krusowsky, "dabei bietet auch jede andere Kirchengemeinde streng genommen nur ein Programm für ein-zwei Milieus, also für einen Bruchteil ihrer Mitglieder."

Auch intern wurde kontrovers gestritten - kein Wunder bei einem deutschland-, vielleicht sogar europaweit einmaligen Projekt. "Da war zum Beispiel die Frage, ob die Gemeinde Sonntagsgottesdienste haben muss oder nicht. Und ob es nicht doch jemand Ordiniertes braucht, um in der Gemeinde Abendmahl feiern zu können", berichtet Bertha Recht. "So ein Unsinn", empört sich Thomas Rawinger, Tenor in der Kantorei und Kirchenvorstandsmitglied der ersten Stunde, noch heute. "Wenn ich eine Bachkantate singe, dann ist das für mich geistlich genausoviel wert wie eine Predigt. Und wenn dann auf dem Chorwochenende der Wunsch entsteht, gemeinsam Abendmahl zu feiern - warum soll dann extra ein Männlein im Talar eingeflogen werden, der über dem Esspapier ein paar Worte spricht?" Wer ihm zuhört, bekommt einen kleinen Eindruck von dem gewichtigen Fragen, um die hier gestritten wurde.

Auch organisatorisch musste vieles neu gedacht werden. "Es gab ja anfangs keine Mitglieder, die Kirchensteuer zahlen", erinnert sich Krusowsky. Und das Kirchenamt hatte deutlich gemacht: Außer einer Anschubfinanzierung aus einem Innovationsfond gibt es keine Dauerunterstützung. Gelöst wurde das Problem durch ein ausgeklügeltes System: Wer in den Chören fest mitsingen möchte, muss Mitglied der Gemeinde werden und zahlt einen monatlichen Beitrag, dessen Höhe sich nach dem Einkommen richtet. "Auch Eltern, die ihre Kinder hier zur Früherziehung schicken, legen wir eine Mitgliedschaft nahe", sagt Kantorin Meyer-Schliepenrath. Gerade das sorgte in den Gemeinden für Unmut, deren Mitglieder nach St. Martin wechselten. "Da geht es um Existenzängste, um Revierverteidigung, ach, da spielt so vieles eine Rolle", seufzt Professorin Krusowsky. "Und so lange andere Gemeinden das als 'Verlust' sehen, können Sie diskutieren, so viel sie wollen. Dabei spielen wir ja sozusagen alle im selben Verein." Und einer der Gründe, warum das Kirchenamt das Projekt erlaubte, war das Anliegen, alternative Kirchenfinanzierungen auszuprobieren. Um den umliegenden Gemeinden entgegenzukommen, wurde eine pragmatische Lösung gefunden: "Statt selbst Gottesdienste am Sonntagmorgen zu feiern, gastieren Chöre und Ensembles unserer Gemeinde an zwei Sonntagen im Monat in anderen Kirchen. So bekommen auch Gemeinden, die sich keine eigenes Kantorat leisten können, eine Chance, die sie sonst gar nicht hätten."

Rund 500 Mitglieder zählt die Gemeinde heute. Deutlich weniger als die umliegenden Gemeinden. Dafür sind rund 85% der Mitglieder hier regelmäßg aktiv. Weil jedoch auch die Mitgliedsbeiträge und Einnahmen aus Konzerten nicht reichen, gibt es heute insgesamt fünf verschiedene Förder- und Unterstützerkreise. Ein kleiner Geniestreich war es, die im Unterhalt kostenintensive Kirche an einen Denkmalverein zu veräußern. Dieser überlässt der Gemeinde die Kirche für symbolische Monatsmiete von einem Euro - "aber schon die Heizkosten sind nicht zu verachten", stöhnt Dekanin Recht. Auch für andere Musikgruppen ist die Gemeinde offen. "Es muss aber klar sein: Wir vermieten nicht einfach Probenräume. Wer hier mitmachen will, verpflichtet sich auch, punktuell mit uns zusammen zu arbeiten." In der Vergangenheit sind dabei so spannende Projekte wie eine Konzertreihe mit Orgel und Percussion entstanden, und wenn Kantorin Meyer-Schliepenrath für ein Jugendmusical eine Band braucht, dann hat sie gleich drei, die sie fragen kann.

Ein weiteres Problem war die Frage nach der Besetzung der Leitungsstelle. "Uns war klar, dass wir nicht nur jemanden brauchten, der hochkarätige Kirchenmusik kann, sondern auch ausgeprägte Leitungsfähigkeiten besitzt", erklärt Kirchenvorstand Rawinger. "Und bei Frau Meyer-Schliepenrath kam beides auf eine außergewöhnliche Art und Weise zusammen." Die Kantorin winkt ab. "Wissen Sie, wenn Sie einen Chor leiten, dann lernen Sie ganz automatisch ganz viel, darüber, wie man mit Menschen arbeitet." Trotzdem ist sie froh darüber, dass der Kirchenkreis ihr zu Beginn ihres Dienstes eine Fortbildung in systemischer Organisationsberatung ermöglichte. "Da habe ich viel gelernt, von dem ich heute noch profitiere", resümiert sie. Dass sie insgesamt weniger Musik macht als auf einer normalen Kantorenstelle, ist für sie kein Nachteil. "Das ist ja in jedem Beruf so. Und außerdem verstehe ich meine Arbeit durchaus als Dienst an der Kirchenmusik - nur eben an teilweise anderer Stelle." Durch die solide Finanzierung kann die Gemeinde außerdem andere Musiker*innen beschäftigen, die Chöre leiten und Unterricht geben. Die Experimentierfreudigkeit der Gemeinde hört hier allerdings noch lange nicht auf.

"Das machen wir nochmal bitte", ruft Stephan Apogeseks und schaut mit gespielter Strenge über den Rand seiner Hornbrille. Das kleine Orchester, das vor ihm sitzt, sieht anders aus, als man das von Orchestern in der Regel gewohnt ist. Viele tragen zerschlissene Kleidung, neben einem Blockflötisten steht ein Einkaufswagen voller Pfandflaschen. "Ich arbeite hier mit Straßenmusikern im wahrsten Sinne des Wortes", eklärt der 32-jährige. Apogeseks ist Musikdiakon, das heißt, er hat nach seinem Studium der Kirchenmusik auch eine Ausbildung zum Diakon absolviert und arbeitet mit Bedürftigen. Wobei er selbst dieses Wort ablehnt: "Ich frage danach, was die Leute zu geben haben. Und was sie verwirklichen wollen." Für das Obdachlosenorchester, dessen Mitgliedern ein Musikgeschäft gebrauchte Leihinstrumente zur Verfügung stellt, hat der Musikdiakon Werbung bei der Tafel gemacht. Manche von ihnen können keine Noten lesen, andere können besser mit ihrem Instrument umgehen als Apogeseks selbst. Petrej Iwanowitsch zum Beispiel war in seiner Heimat Konzertgeiger. In Deutschland hat er meist in der Fußgängerzone gespielt, nun unterstützt er Apogeseks im Orchester. Für ihn ist die ehrenamtliche Arbeit eine willkommene Angelegenheit, die Musik nicht völlig aus dem Blick zu verlieren und zugleich seine Liebe zur Kunst weiterzugeben. "Menschen brauchen nicht nur Geld und Brot, um zu leben", sagt er nachdenklich. "Was sind wir ohne Kultur? Wir ermöglichen hier ein Stück geistliches Überleben." In der Adventszeit besuchen Apogeseks und Iwanowitsch mit ihrem Orchester und einem kleinen Projektchor die Seniorenheime der Umgebung. "Kulturelle Diakonie", so nennt Professorin Krusowsky das. "Wir haben nach ein paar Jahren eingesehen: Wir sind hier mitten in der Innenstadt. Die Not liegt quasi vor der Tür. Da haben wir uns gefragt: Was können wir mit dem, was wir haben und was wir sind, unserem diakonischen Auftrag gerecht werden?"

Eine ältere Dame betritt die neobarocke Kirche, in der es gerade ausnahmsweise ruhig ist. Sie verzieht das Gesicht, als sie die frisch lackierten Stühle riecht und sieht. "Das soll eine Kirche sein?", grummelt sie vor sich hin. Dasselbe, das bis heute Leute fragen, wenn sie hören, dass die Hanna-Gemeinde keinen Pfarrer hat. "Das ist für die Leute auch nach Jahren noch ein Thema", lacht Kantorin Meyer-Schliepenrath, die vor Diskussionen nicht zurückschreckt. "Manchmal, wenn Menschen sich wirklich auf ein Gespräch einlassen, entstehen dabei interessante Unterhaltungen darüber, was Kirche eigentlich ist. Und über das Priestertum aller Gläubigen." Dann verabschiedet sich Meyer-Schliepenrath. Sie muss ein Gespräch mit dem Kirchenvorstand führen und einen Streit zwischen Gemeindegruppen schlichten: Die Leiterin des Seniorenchors hat sich beschwert, dass die Jugendband ihre Instrumente nicht richtig wegräume und beim letzten gemeinsamen Konzert außerdem viel zu laut gespielt habe. In mancher Hinsicht ist die Hanna-Gemeinde in St. Martin dann doch auch eine sehr normale Gemeinde.

Samstag, 27. Juni 2020

Austherapiert. Plädoyer für eine palliative Ekklesiologie


Aus Anlass der letzten Kirchenaustrittsstatistik


Disclaimer: Ich schreibe das hier nicht so gern. Vielleicht ist es deswegen auch so lang geworden. Ich bin Pfarrer der evangelischen Landeskirche, und ich bin das gern. Ich finde meine Kirche gut, auch, wenn mir das, was sie glaubt, meistens besser gefällt als das, was sie so macht. Die Meldungen zur Kirchenaustrittsstatistik wecken in mir Existenzängste, und dabei weiß ich, dass mich das alles nicht auch nur ansatzweise so schwer treffen würde wie abertausend andere. Aber ich bin eben auch überzeugt davon, dass Glauben heißt, realistisch zu leben. Dass meine Religion, mein Glaube, meine Theologie Antworten auf meine Fragen und Ängste haben. Und mein Blick auf das Leben ist maßgeblich von palliativer Arbeit geprägt worden, als Seelsorger und als Angehöriger. Daher der folgende Text. 

Photo by Karim MANJRA on Unsplash

„Austherapiert“. Der Arzt schließt Herr Müllers Krankenakte. Frau Müller tastet nach der Hand ihres Mannes. Der murmelt das komische Wort vor sich hin. „Austherapiert.“ „Ja, was heißt das denn?“ fragt Frau Müller hilflos. Der Arzt putzt seine Brille etwas umständlich am Zipfel seines weißen Kittels ab. „Das heißt, dass unsere medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Wir können nichts tun, um Ihre Krankheit zu heilen oder auch nur ernsthaft zu verlangsamen.“ Dann sucht er Herr Müllers Blick. „Das heißt, dass Sie sterben werden.“ Frau Müller zuckt zusammen. Herr Müller nickt kaum merklich. „Wie lange habe ich noch?“ bringt er leise hervor. Der Arzt zuckt mit den Schultern, schüttelt den Kopf. Blättert noch einmal in der Krankenakte. „Nicht mehr lange“, sagt er.

Die Kirche[1] ist austherapiert. Sie wird sterben. Und nicht irgendwann in unbestimmter Zukunft, so wie alles irgendwann an ein Ende kommt, sondern in absehbarer Zeit. An was genau sie sterben wird, weiß man gar nicht so richtig. Sie ist schon länger krank, hat alle möglichen Wehwehchen und auch ernsthaftere Leiden und die eine oder andere Verletzung angesammelt, manche davon für sich genommen schon potenziell lebensbedrohlich. Viele hinzugerufene Expert*innen (in Deutschland ist die Kirche noch Privatpatientin) haben seit Jahrzehnten ihre jeweiligen Fachgebiete für entscheidend gehalten und entsprechende Therapien verordnet: Konservative („Die Kirche muss frömmer werden!“), invasive („Aus unternehmensberaterischer Sicht empfehlen wir…“) und alternative Methoden („Die Kirche muss bunter werden“). Fastenkuren („Die Kirche sollte weniger…“), Reproduktionsmedizin („Wir müssen die Familien stärken und mehr für die Taufe werben“), Aufstellungstherapie („Die Kirche müsste mehr in die politische Mitte!“), Logopädie („Wir müssen die Predigt verbessern“) und Krankengymnastik („Die Kirche muss beweglicher werden“). Frischluftkuren („Die Kirche muss raus zu den Menschen“) und alles Mögliche andere. Jetzt kommt auch noch Corona, das bekanntlich für Patient*innen mit Vorerkrankungen besonders gefährlich ist.[2]

Am Bett, das sich immer stärker als Sterbe-, denn als Krankenbett erweist, sitzen Angehörige und trauern auf die je eigene Art und Weise, wie Angehörige und Betroffene das eben tun. Manche wollen es immer noch nicht wahrhaben und googeln frenetisch nach noch einem Experten, nach noch einer Therapie, nach noch einer All-In-Lösung, die alles irgendwie wegzaubert. Andere sind schnell in die Wutphase gekommen und suchen vor allem „den“ Schuldigen. Kommen diese Menschen aus der Gemeinde, sind es „die da oben“ schuld, also Kirchenkreise, Landeskirchen oder EKD, die alles kaputt sparen. Kommen sie aus nicht-gemeindlichen Kontexten, sind es die Gemeinden Schuld, die viel zu stark auf sich selbst bezogen sind und die klugen Konzepte nicht umsetzen, die man ihnen vorlegt. Sind die Wütenden jünger, liegt es aus ihrer Sicht an den Alten, die den Karren in den Dreck gefahren haben. Und so weiter. Die Suche nach Schuldigen ist ein emotionaler Reflex, den man kaum vermeiden kann, weil wir Menschen nun einmal so ticken. Sie ist eher Ausdruck von nachvollziehbaren Gefühlen, keine ernsthafte Ursachenforschung. Eine solche bringt ohnehin wenig, denn es ändert ja nicht viel daran, dass man mit der gegenwärtigen Situation umgehen muss.[3]

„Aber Herr Doktor“, sagt Frau Müller mit tränenerstickter Stimme, „können Sie denn gar nichts mehr für meinen Mann tun?“ Der Arzt putzt sich noch einmal die Brille. Dann sagt er: „Unsere medizinische Kenntnis reicht nach heutigem Stand nicht aus, um die Krankheit Ihres Mannes zu heilen oder nennenswert zu verlangsamen.“ „Ich will auch nicht ewig am Tropf hängen“, wendet Herr Müller ein und erinnert an seine Patientenverfügung, die seiner Frau gerade herzlich egal ist. Der Arzt nickt. „Aber wir können all unser Wissen dafür einsetzen, dass die letzte Zeit so schmerzfrei, unkompliziert und würdevoll wie möglich gestaltet werden kann. Ich würde daher gern schnellstmöglich einen Termin mit unserem Palliativ-Team vereinbaren.“ Er reicht Herrn Müller eine Broschüre. Auf der zweiten Seite steht erklärend: „Die Palliativmedizin widmet sich der Behandlung und Begleitung von Patienten mit einer nicht heilbaren, progredienten und weit fortgeschrittenen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung sowie der Begleitung ihrer Angehörigen. Die Palliativmedizin bejaht das Leben und sieht das Sterben als einen natürlichen Prozess. Sie lehnt aktive Sterbehilfe ab.“[4]

Die Hinwendung zur Palliativmedizin markierte einen starken Richtungsumschwung in der Schulmedizin, die, etwas hemdsärmelig gesagt, vor allem auf Lebensverlängerung ausgerichtet war. Die früh Engagierten dieser Bewegung erkannten das Befreiende im Akzeptieren des Unvermeidlichen – was ihnen von Kolleg*innen nicht selten den Vorwurf einbrachte, sie würden ihren hippokratischen Eid verraten, obwohl klar war, dass es nicht um Sterbehilfe, sondern um Sterbebegleitung ging. Palliative Care bedeutet einen Abschied von menschlichen und medizinischen Allmachtsfantasien, sie rechnet mit dem Tod als unvermeidliche Konsequenz des Lebens und sieht die Aufgabe der Begleitung darin, nicht dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben. Deswegen arbeitet Palliative Care multiprofessionell: Die Ärztinnen bringen ihre Expertise dadurch ein, dass sie wirksame Schmerztherapien entwickeln, Pflegekräfte unterstützen durch eine Versorgung, die einen so angenehmen Aufenthalt wie möglich in der letzten Lebensphase gewährleistet, und Seelsorgende helfen Sterbenden dabei, loszulassen, ihre Dinge zu ordnen und in Frieden und Würde Abschied zu nehmen.

Die nächsten Wochen vergehen schnell. Herr Müller ist in einem hellen, freundlichen Einzelzimmer untergebracht. Überhaupt hätten sie sich die ganze Station, auf der er liegt, ganz anders vorgestellt. „Ich dachte immer, auf so einer Sterbestation muss es ganz traurig zugehen“, sagt Frau Müller beim Kaffeeholen zu einer der Schwestern. Die lacht. Und auch Herr und Frau Müller lachen zwischendurch. Und führen Gespräche, die anders sind als früher. „Ich bin so stolz auf dich, wie du das hier alles erträgst“, sagt sie eines Tages zu ihm. Er sieht sie lange an, mit blanken Augen. „Du hast mir noch nie gesagt, dass du stolz auf mich bist“, sagt er, und eine Träne kullert ihm über die Wange. Zusammen geweint, das haben sie noch nie gemacht. Das ist neu. Und es tut gut. Der Zustand von Herrn Müller verschlechtert sich rapide. Irgendwann kann er nicht mehr aufstehen, das Reden, das Wachbleiben, Dinge in der Hand zu halten, all das fällt zunehmend schwerer. Frau Müller bekommt von einer Schwester gezeigt, wie sie ihm den Mund mit nassen Wattestäbchen auswischen kann. So kommt er sogar noch an ein Bierchen. Er lächelt sie an, und es kostet ihn unendlich viel Kraft. – Der Tag, an dem Herr Müller stirbt, ist ein sonniger. Lange bleibt sie an seinem Sterbebett sitzen, denkt an Schönes und Schroffes zurück. Am Abend sagt sie ihrer Schwägerin am Telefon: „Ich weiß gar nicht, was ich machen soll…“ Sie sucht nach Worten. „Wie soll das Leben ohne meinen Harry gehen? Aber… diese letzte Zeit, die war…“ sie senkt die Stimme und flüstert: „Irgendwie auch schön. Die hat uns nochmal näher zusammengebracht.“ Beide weinen ein bisschen am Telefon, dann ruft Frau Müller den Bestatter an.

Unsortiertere Gedanken zu einer palliativen Ekklesiologie


-        Palliative Ekklesiologie meint eine Lehre von der Kirche, die nicht nur mit dem Abbau einzelner Gemeinden, sondern auch mit dem Ende der Kirche in der uns bekannten Form rechnet. Es gibt ohnehin keine biblisch fundierte Lehre von einer ewigen Kirche[5], geschweige denn in einer bestimmten Organisationsform. Wie die frühen Palliativpioniere werden auch ihre Vertreter*innen sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass sie ihren Auftrag verraten. Das ist durchzustehen, denn auch hier sind unvermeidliche und notwendige Emotionen am Werk, und auch hier geht es darum, Allmachtsfantasien[6] aufzugeben.

-        Palliative Ekklesiologie entlastet dadurch von der unweigerlich zum Verzweifeln führenden Suche nach dem Heiligen Gral in Form eines einzelnen Rezepts, durch das alles wieder gut wird. Sie gesteht sich die Unumkehrbarkeit der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein und befreit so zu einem Blick auf ein neues Ziel: Das Ende würdevoll zu gestalten. 

-        Palliative Ekklesiologie stellt die unbedingte Würde des Sterbenden in den Mittelpunkt. Die Suche nach der individuellen Schuld des Sterbenden an seinem Schicksal hat in diesem Bestreben keinen Platz, weil sie entwürdigend und irreführend ist: Das Sterben ist die unvermeidliche Konsequenz des Lebens. Palliative Ekklesiologie ist daher realistischer und vor allem gnädiger als alle kybernetischen Modelle, die einseitig auf Wachstum, Innovation oder zumindest Besitzstandswahrung abzielen.

-        Palliative Ekklesiologie bejaht das Leben, das heißt: Sie leistet keine Sterbehilfe. Sie ermöglicht es, funktionierende Teilsysteme zu erhalten und zu fördern – einzelne Gemeinden, einzelner Regionen können aufgrund ihrer Nachhaltigkeit auch den volkskirchlichen Systemkollaps überleben und in anderer juristischer Form weiterbestehen. Es gibt keinen Grund und keine ethische Grundlage dafür, in solchen Fällen alle Stecker zu ziehen und die Geräte abzuschalten. Zugleich schärft sie den Blick dafür, dass Maßnahmen, die auf eine rein quantitative Lebensverlängerung abzielen, nicht die einzige und vor allem nicht die wünschenswerteste Lösung darstellen.

-        Palliative Ekklesiologie weiß um die ungeheure emotionale Intensität, die eine bewusst gestaltete letzte Lebensphase haben kann. In der bullshitfreien Zone rund um das nicht mehr länger verleugnete Lebensende wird Raum frei für Aufarbeitung, für das Benennen persönlicher Schuld und für Vergebung, für das Ordnen der Dinge, für manchmal völlig neue Formen der Nähe. Es klingt paradox, aber: Die letzte Zeit ist von Trauer und Abschied durchfurcht, aber sie kann auch wunderschöne und intensive Momente bereithalten, die die Sicht der Überlebenden auf das Leben für immer verändern.

-        Palliative Ekklesiologie braucht wie Palliative Care multiprofessionelle Perspektiven. Sie kann Erkenntnisse und Kompetenzen aus der freien Wirtschaft aufnehmen (Exnovation, Change Management), Ansätze und Methoden aus Therapie und Beratung (Trauerbegleitung, Ritualforschung) integrieren und braucht einen verlässlichen ethischen Kompass, um an der äußersten Grenze verantwortungsvoll navigieren zu können. 

-        Palliative Ekklesiologie kann die öffentliche Relevanz von Theologie, Spiritualität und christlichem Glauben deutlich machen, indem sie Vorbild ist für den würdevollen Abbau anderer verdienter und traditionsreicher Institutionen, die ihr Lebensende erreicht haben. Dieses Potenzial hat allerdings deutliche Grenzen, denn:

-        Palliative Ekklesiologie zieht ihre Motivation und ihre Begründung ultimativ aus dem Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Christus ist gestern und heute und auch in Ewigkeit derselbe. Dadurch verliert der Wandel der kirchlichen Organisationsformen trotz aller Trauer seinen Schrecken. Schuldlosigkeit ist nicht durch ein sündenfreies Leben, sondern nur durch Gottes Versöhnungsangebot zu haben. Daher braucht es keine Illusion, irgendeine Organisationsform der Kirche könnte oder müsste jemals perfekt sein. Das öffnet sogar gedankliche Räume, die zum „fröhlichen Sündigen“ (M. Luther), zumindest zum wilden Experimentieren einladen. Christus ist nach seinem Tod auferstanden, und er zieht alle mit sich. Palliative Ekklesiologie kann damit rechnen, dass Gott nach Abschied, Sterben und Tod Neues schafft. Und dass das Zweite erst nach dem Ersten kommen kann. Ohne freien Fall keine Erfahrung: Ich bin getragen. Ohne Umkehr keine neuen Perspektiven. Ohne Sterben keine Auferstehung.


[1] Gemeint ist hier wie im Übrigen nicht die Kirche als theologische und damit zumindest in Teilen theoretische Größe, sondern der in Deutschland volkskirchlich verfasste Mainstream-Protestantismus.
[2] Aber schon vorher dürfte klar geworden sein: Keine dieser Therapievorschläge wird die Volkskirche in entscheidender Breite retten. Einzelne Gemeinden werden sicherlich von temporären Aufbrüchen profitieren können, aber aufs Ganze gesehen sind das Erfolge bei der Symptombehandlung.[2] Es ist rein rechnerisch nicht möglich. In Formulierungen ausgedrückt, die derzeit in aller Munde ist: Um eine Volkskirche bundesdeutscher Dimension mitgliedermäßig bloß stabil zu halten, müssen a) die Geburten die Todesfälle ausgleichen (was sie nicht tun). Und selbst, wenn das der Fall wäre, müsste b) der Reproduktionsfaktor bei 1.0 liegen. Das hieße zum Beispiel, wenn man keine Nicht-Mitglieder von außen anwirbt (was die Kirche nicht tut), dass ein evangelisches Elternpaar ihre Kirchenbindung an zwei Kinder weitergeben muss, und zwar dauerhaft. Da schon die erste Bedingung nicht zutrifft, ändert die zweite, so sie denn gegeben wäre, auch nichts am Abwärtstrend, und der ist so gewaltig, dass keine Erweckungsbewegung in einer historisch bekannten Größe das ausgleichen könnte.
[3] Ein kleiner Exkurs: Oft fordern Gemeinden (und hier oft Pfarrer*innen) mehr Personal, vor allem mehr Pfarrer*innen. Viele fürchten sich vor der Unüberschaubarkeit von Gemeindegrößen, die mit einer Pfarrstelle pro dreitausend (oder, auf den Inseln der Seligen, zweitausend) Mitgliedern rechnen. Hintergrund ist die Annahme, dass mehr Pfarrer*innen mehr Kontaktfläche zur Kirche bieten und sich dadurch die Kirchenbindung verbessert. Es gibt aber gute Gründe dafür, dass die Annahme falsch ist. Erstens ist die Arbeit dadurch nicht zwingend gemeindeorientierter (wer mit einem Orgel-Agende-alte Leute-Sonntagsmorgengottesdienst nichts anfangen kann, dem ist es egal, ob er sich „seine“ Pfarrperson mit 1000, 2000 oder 3000 anderen teilt. Zweitens sind Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge nicht ganz so einfach. Wer sich entscheidet, sein Kind nicht taufen zu lassen, tut das ja nicht, weil er oder sie keinen Termin mit der Pfarrperson bekommt (zumindest die allermeisten nicht), sondern weil sich nicht erschließt, wozu das gut sein sollte. Drittens zeigt die Historie, dass die Entwicklung der Pfarstellensituation alles andere als singulär ist: In Preußen waren um die vorletzte Jahrhundertwende Pfarrer durchschnittlich für rund 2.500 Gemeindeglieder zuständig. Das sind absolute Durchschnittswerte mit deutlichen Ausreißern nach oben und unten, beschreiben aber trotzdem eine Situation, die unserer nicht unähnlich ist. Und: Dort, wo Pfarrer nur für rund 700 Menschen zuständig waren, haben sie pro Jahr proportional genauso viele Konfirmationen wie ihre Kollegen mit dreitausend oder mehr Gemeindegliedern. Und das sind ziemlich wenige, wenn man bedenkt, dass die Taufquote durchgehend bei 93–99% liegt. – Das sind jetzt etwas aus der Hüfte geschossene Schlussfolgerungen, aber die Zahlen sind verlässlich und nachzulesen bei Oliver Janz, Bürger besonderer Art. Evangelische Pfarrer in Preußen 1850–1914 (VhHKB 87), Berlin u. a. 1994, 509ff.
[4] https://www.dgpalliativmedizin.de/allgemein/ueber-uns.html. Es gibt andere und umfassendere Definitionen, aber für diesen Kontext reicht sie aus.
[5] Diesen Irrtum lutherischer, katholischer und orthodoxer Ekklesiologie hat Karl Barth korrigiert, vgl. Christengemeinde und Bürgergemeinde, in: Ders., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, Zürich ²1979 (Theologische Studien 104), 53.
[6] Selbst bei Gemeindegrößen von 500 Mitgliedern pro Pfarrperson ist es eine Illusion, diese könnte mit allen Mitgliedern persönlichen Kontakt pflegen, geschweige denn einen emotional und theologisch-geistlich gehaltvollen.